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9.

Zu Mittag aßen Christian und Farr in einem kleinen, abgelegenen Gasthof, weit oben an der Stadtmauer; es war sehr heiß in dem Lokal, aber aus begreiflichen Gründen wollte der junge Mann Nyström nicht in die Quere kommen. Zu solchen Versuchen war die Stadt denn doch zu klein.

»Wenn er uns jetzt erkennt«, sagte er, »können wir nicht einmal flüchten. Abgesehen davon, daß wir unseren Koffer zurücklassen müssen, und hier bekommt man nicht einmal Puder. Ohne Schminken und Perücken kann uns jeder Hirtenjunge erkennen.«

»Das wäre sehr unangenehm«, sagte Farr nachdenklich. »Was haben Sie am Nachmittag vor?«

»Ich will auf die Burg hinaufgehen.« In der Nähe von Zengg stand auf einem Hügel eine alte Burg, die seinerzeit gegen die Türken erbaut wurde und den trutzigen Namen »Fürcht-dich-nicht« führte. »Bei der Temperatur kommt kein Mensch da hinauf, und die Fernsicht ist sehr schön.«

»Ich wußte nicht, daß Sie für schöne Aussichten schwärmen«, meinte Farr boshaft.

»Du weißt vieles nicht«, gab Christian bedeutungsvoll zurück. »Was wirst du tun?«

»Schlafen«, sagte Farr und streckte sich wohlig.

Die Gegend war einsam genug, als Christian gegen fünf Uhr den Hügel erkletterte; er begegnete nur zwei harmlosen Ziegen, die ihn nicht beachteten und ihrer Beschäftigung, den Boden von den letzten trockenen Gräsern zu befreien, emsig nachgingen.

Unvermittelt stieg das graue Gemäuer vor ihm auf; hart und starr ragte es in den blauen Himmel wie ein Warnungszeichen. Ringsum blaute das Meer … schläfrig und verlassen, wie ein Spiegel in einem Gespensterschloß.

Im Inneren war es wohlig kühl. Durch die dicken Mauern drang die Hitze nicht; und ein leiser Luftzug strich durch die riesige Halle. Christian lehnte sich gegen eine Mauer, schloß die Augen und träumte. Viele Bilder zogen an seinen Augen vorbei, aber sie waren so flüchtig, daß er sie nicht fassen konnte. Sie verschwammen im Nebel und hinterließen wehe, unangenehme Gefühle.

Einmal sang ein Vogel ein eigenartig klagendes Lied; dann begann irgendwo eine Tür zu klappern, und der Wind sang leise.

*

Unterdessen war Mabel nicht müßig gewesen; über Weisung Vollmers, der unentwegt seine Meeresbilder zeichnete, kam sie, als es dunkel war, leise zu Farrs Wohnung. Eine Weile blieb sie neben der Staffelei stehen und betrachtete das seltsame Gemälde. Daß es jetzt stockfinster war, störte Vollmer nicht weiter.

»Noch einen Strich«, sagte er und führte mit einem großen Pinsel einen Hieb gegen einen dunklen Himmel; »er ist oben, aber nicht in Frauenkleidern. Er trägt jetzt einen schwarzen Sakko und eine dunkle Krawatte.«

»Ist er allein?«

»Ich glaube.« Vollmer war durch einige schaulustige Menschen etwas abgelenkt worden und hatte die Personen, die sich ins Haus schlichen, nicht genau sortieren können. »Der Himmel hier gefällt mir nicht. Wenn Sie hinaufgehen, die dritte Tür links.«

»Well«, sagte Mabel resolut und ging weiter.

Die Treppe war dunkel, aber sie fand auch so ihren Weg; sie tastete sich den Gang entlang und zählte die Türen. Endlich erreichte sie die dritte. Sie gab dem leichten Druck ihrer Hand nach.

»Ja«, sagte Christian, der mitten im Zimmer stand. Er hatte sich gerade für das Abendessen umgezogen, aber die Perücke und den Bart noch nicht angelegt.

»John«, sagte eine weiche Stimme, »John, ich frage jetzt zum letztenmal. Willst du mit mir kommen?«

Christian, der, noch etwas verwirrt von der nachmittägigen Begegnung, die Szene nicht gleich begriff, seufzte und murmelte irgendeine Bemerkung; mit Rücksicht auf sein Äußeres wollte er kein Licht machen. Aber Mabel faßte alles als Ausfluß einer schrecklichen Schüchternheit auf. Vieles konnte sie nicht begreifen. Aus Kolorado wußte sie, daß alle Menschen in der Nacht größer aussahen, als sie wirklich waren. Dabei dachte sie an Johns weiche schmiegsame Lippen, und die Sehnsucht riß sie fort. Mit einem Seufzer fiel sie Christian um den Hals und suchte seinen Mund … und sie fand ihn mit untrüglicher Sicherheit.

Leise ging die Tür auf, und Farr kam ins Zimmer. Einen Augenblick blieb er stehen und horchte auf die seltsamen Geräusche; dann, in der Angst, seinem Herrn sei etwas zugestoßen, knipste er das Licht an und erstarrte …

Mabel gab Christian gerade einen wilden Kuß.

Das Weitere wartete Farr nicht ab. Er verlöschte mit einer müden Bewegung das Licht und schlich leise aus dem Zimmer. Aber der kurze Augenblick hatte für Mabel genügt, um ihren Irrtum zu erkennen. Sie nahm sich nicht Zeit, Erklärungen abzugeben. Sie wollte auch keine Erklärungen hören. Sie wandte sich um und lief aus dem Zimmer …

Nur als sie an Vollmer vorbeikam und ihn noch immer vor seiner Staffelei fand, sagte sie kurz und deutlich: »Idiot.«

*

Christian Mortensen war einen Augenblick wütend gewesen; dann nahm er die Sache von der leichten Seite. Er war selbst glücklich und zufrieden und in einer Stimmung, allen Menschen alles zu verzeihen.

Ein verrücktes Frauenzimmer, dachte er und befestigte umständlich seinen Bart und seine Perücke; aber es muß wohl auch solche Mädchen geben …

Er holte Farr, der verdrossen vor sich hinstarrte, und ging mit ihm die winkeligen Gassen hinauf; als sie ins Restaurant traten, bemerkte Christian erst, daß sein Diener bleich und verweint aussah. Aber er war nicht in der Laune, sich die Fröhlichkeit verekeln zu lassen.

»Erstens«, sagte er blinzelnd, »hast du nicht ins Zimmer zu kommen, wenn ich mit jungen hübschen Damen Stelldicheins habe. Und dann ist es ein Abenteuer wie jedes andere.«

»Sie sind recht frivol«, sagte Farr tadelnd.

»Was du nicht sagst! Farr, Mensch, jetzt wundere ich mich nicht, daß dich die Amerikanerin hat abfallen lassen.«

»Und – Ulla?« sagte der andere unsicher.

»Ulla ist so weit wie der Himmel«, lachte Christian ausgelassen. »Das hat doch mit Ulla nichts zu tun.«

»Doch – sehr viel …«

»Das verstehe ich nicht.«

»Weil Sie ein Wüstling sind«, sagte Farr wütend und stand auf. Er ging allein nach Hause und Christian sah ihn erst am nächsten Morgen wieder.

Als er die gewohnten Morgenblätter las, wurde sein Gesicht aber plötzlich ernst. Zwei Notizen fesselten seine Aufmerksamkeit.

Die eine war aus Berlin.

»Wie die Telegraphenagentur meldet, ist die Regierung einer weitverzweigten Bande auf der Spur, deren Haupttätigkeit darin zu bestehen scheint, militärische und politische Geheimakte zu entwenden und sie an andere, daran interessierte Staaten zu verkaufen. Bisher konnte der Diebstahl von vier hochwichtigen Dokumenten nachgewiesen werden.

Dem raschen Zugreifen der Kriminalpolizei ist es gelungen, einige Helfer der Bande dingfest zu machen; die Führer des Unternehmens sind aber spurlos verschwunden. Ein Appell an andere, nicht befreundete Staaten, bleibt in einem solchen Falle natürlich wirkungslos.

Nachträglich erfahren wir, daß ein Major Hoffmann, ehemals Leiter einer Abteilung im großen Generalstab, in die Affäre verwickelt sein soll. Der Aufenthaltsort Hoffmanns ist unbekannt.«

Die zweite Notiz war eine ziemlich herausgehobene Annonce.

»Ch. M.! Wenn Sie mit uns arbeiten wollen, bieten wir Ihnen völlige Sicherheit und Hälfte des Gewinnes. Schreiben Sie an J. S.«

»Wundervoll«, sagte Christian und faltete das Blatt zusammen.

Er schrieb einige Briefe, die er sorgsam versiegelte und persönlich der Post übergab; nach einigem Zögern gab er auch ein Telegramm auf.

Als er die lange Straße vom Postamt zurückging, bemerkte er Jeff Strucks, der sich angelegentlich mit einem schlimm aussehenden Menschen unterhielt. Die Unterhaltung schien sich um einige Landeserzeugnisse zu drehen, denn Strucks hielt einen Opanken in der Hand und schwenkte ihn in der Luft wie ein Fanal. Beim Vorbeigehen aber hörte Christian ein Wort, das ihn stutzen ließ. Er hatte klar und deutlich das Wort »Mabel« aufgefangen. Dieser Umstand bewog ihn, die beiden zu beobachten. Daß Arnoldi mit Jeff gut Freund zu sein schien, störte ihn nicht weiter.

Die beiden gingen nach einer Weile den Weg zum Postamt, bogen aber früher durch ein Tor, auf dem in großen Lettern die Inschrift »Finis Josephinae« stand. Eine kurze schattenlose Allee folgte, und dann die heiße Straße, die sich zwischen Felsen gegen Norden schlängelte. Einmal warf Strucks einen Blick zurück; als er einen alten Herrn bemerkte, blieb er stehen, und Christian mußte an ihm vorbei. Hundert Schritt weiter aber verengte sich das Tal – und der junge Mann kletterte behend den steilen Hang hinauf. Seine Arbeit hatte vollen Erfolg. Tief unter ihm gingen Jeff und Arnoldi, und er konnte ihnen auf der Höhe folgen, ohne befürchten zu müssen, daß sie ihn entdecken würden.

So zogen sie parallel durch die Glut, und erst als sich das Tal nach Norden zu öffnete, stieg ein leichter, kühlender Wind auf. Unter Christian lag ein kleiner Talkessel, und an der Berglehne, halb versteckt zwischen den braungebrannten Steinen, stand eine einsame Hütte.

Fast eine Stunde verstrich, ehe die beiden Männer diese Hütte verließen; ihre Gestalten wurden immer kleiner, bis sie hinter einer Biegung verschwanden.

Behend ging Christian auf die Hütte zu; seine Augen fuhren unruhig umher und seine Hand umklammerte eine Pistole; seit Vinzenz Arnoldi in der Stadt war, ging er niemals unbewaffnet aus.

Die Hütte war mit einem schweren Vorhängeschloß abgesperrt, und alle Bemühungen Christians, es zu öffnen, waren fruchtlos; er hatte auch keinerlei Werkzeuge bei sich als nur einen langen, etwas gebogenen Nagel. Dann kletterte er auf das Dach und hob langsam einen Ziegel ab. Zwei weitere folgten, und er konnte sich zur Not hineinzwängen. Eine Falltür führte hinab, aber sie war mit starken Bolzen vernagelt. Durch die Ritzen aber übersah man das einzige Zimmer. Einen kleinen, viereckigen Raum, der einen Tisch, zwei Stühle und ein bequemes, frisch überzogenes Bett enthielt. Vor dem Bett lag sogar ein Vorleger.

Seltsam, dachte Christian und betrachtete lange diese immerhin luxuriöse Einrichtung inmitten der Wildnis. Was zum Teufel haben sie vor, daß sie sich hier so ein Tuskulum geschaffen?

Er sah noch, daß die Fenster mit schweren, anscheinend ganz neuen Läden von außen zu verschließen waren, dann kroch er ins Freie, legte die Dachziegeln wieder in der Reihenfolge, wie er sie abgenommen, streute darauf etwas Sand und machte sich auf den Weg.

Irgend etwas war mit der Hütte in Verbindung … Aber was?

*

Der einzige ruhige Mensch in der Reihe der unruhigen und seltsam erregten Leute war Axel Nyström.

Denselben Tag biederte er sich an Vollmer an; und der unfehlbare Instinkt, der Menschen gleichen Berufes einander zutreibt, führte bald zu einem gegenseitigen Erkennen.

Vollmer war es überdrüssig geworden, Bilder zu malen; außerdem hatten ihn die Johnsons gekündigt. So trachtete er, sein Wissen, das er sich mit großer Geduld erworben, an den Mann zu bringen.

Da ihm Zengg ganz gut gefiel, dachte er nicht an eine Abreise.

»Irgendwie«, sagte er zu Nyström, »hängen diese Personen alle zusammen; einer läßt den anderen nicht aus den Augen; aber was sie bezwecken, konnte ich nicht herausbringen.«

»Ausgezeichnet«, lachte der Inspektor, »Sie haben viel geleistet. Sie wissen nicht, ob der alte Herr, vor dessen Haus Sie immer malen, eine Maske trägt?«

»Er nicht«, sagte Vollmer im Brustton tiefster Überzeugung. »Er ist knapp neben mir gestanden und hat meine Bilder bewundert. Er ist echt. Aber sie – sie ist falsch.« Er beugte sich vertraulich vor. »Ich begehe ja keinen Vertrauensbruch, wenn ich Ihnen sage, daß diese alte Dame ein junger Mann ist.«

»Donnerwetter …« sagte Nyström und riß die Augen auf.

»Ja; ein ganz junger Mann. Ich weiß nicht, wie er heißt, aber die Amerikanerin, dieses verrückte Frauenzimmer, hat mich ausgeschickt, ihn zu beobachten.«

»Also so ist die Geschichte, …« Nyström war äußerst zufrieden. »Das ist dann dieser famose Farr.«

»Ganz richtig. Jetzt fällt's mir ein, es ist Farr.«

»Und wo Farr ist, ist Mortensen nicht weit.«

»Wer ist Mortensen?« forschte Vollmer neugierig.

»Ein netter junger Mann«, sagte Nyström grinsend, »den ich gerne treffen möchte.«

»Sind Sie«, fragte der andere vorsichtig, »auch im Dienst irgendeiner Amerikanerin?«

»Nein«, sagte Nyström, ohne seine Aufgabe zu verraten.

Als Farr am Nachmittag ausging, folgte er ihm unauffällig; aber der junge Mann schlenderte nur müßig in der Stadt herum … Einmal schien er ins Postamt gehen zu wollen, aber dann überlegte er sichs anscheinend.

Als er aber dann bei der Agenzie der Schifffahrtsgesellschaft einen Platz für den Schnelldampfer »Velebit« belegte, wurde Nyström stutzig. Ein Auftreten Farrs ohne Mortensen schien ihm ein Unding zu sein, und er verbrachte unruhige Stunden; obwohl er die ganze Zeit über vor dem Hause Farrs am Ufer saß und mit großer Geduld fischte.

Dort bemerkte ihn Jeff, der aus dem Bade kam, und begrüßte ihn in der gewohnten Weise stürmisch und freudig.

»Wenn Sie jetzt noch behaupten, daß Mortensen hier ist«, sagte Jeff und kniff ein Auge zu, »dann flunkern Sie.«

»Ich behaupte nur, daß Mortensen nicht hier ist«, sagte der Inspektor und befestigte einen neuen Brocken Käse an der Angel. »Ich weiß es sogar sicher.«

Er schleuderte die Angel mit ziemlicher Geschicklichkeit ins Wasser, so entging ihm, daß Jeff erleichtert aufatmete.

»Das ist die erste gute Nachricht, die Sie mir geben«, sagte Jeff. »Bisher habe ich mit Detektivs und ähnlichen Leuten nur trübe Erfahrungen gemacht. Übrigens fällt mir gerade ein … was würden Sie tun, wenn Sie Mortensen wirklich hier fänden?«

»Verhaften«, sagte der andere lakonisch.

»Wir sind doch in Jugoslawien!«

»Was Sie nicht alles wissen; ich habe einen ordnungsgemäß ausgestellten Haftbefehl gegen Christian Mortensen in der Tasche.«

»Natürlich«, nickte Jeff und kratzte den Kopf. »Ich vergaß einen Augenblick, daß Sie vom Fach sind.«

»Gil«, sagte Jeff, als er das Zimmer betrat, in dem die Brüder gemeinsam wohnten, »Mortensen ist nicht hier. Es war nur ein Schreckschuß.« Er erzählte seine Unterredung mit dem Inspektor, und Gil nickte zufrieden; seit langer Zeit fühlte er sich wieder einmal ruhig und geborgen.

Mathiessen trat vom Fenster zurück, an dem er gestanden. »Ich glaube auch nicht an die Gefährlichkeit dieses Mortensen«, sagte er und schnippte mit den Fingern. »Mein Gott, ein Mensch, der eben auch verdienen will und in der Jugend mal auf die schiefe Bahn geraten ist.«

»Sie sind ein wundervoller Philosoph«, höhnte Gil und warf dem jungen Mann einen häßlichen Blick zu. »Aber wenn es zum Hängen kommt, nützt keine Philosophie. Das merken Sie sich.«

»Danke«, sagte Mathiessen und ließ ein ironisches Lächeln sehen. »Und was hat der hohe Rat in meiner Abwesenheit beschlossen?«

»Beschlossen«, sagte Gil und leckte die Lippen. Ein warnender Blick Jeffs ließ ihn verstummen.

Gil wandte sich herum. »Was, zum Teufel, gibst du mir Zeichen, wenn ich sprechen will?« fragte er laut.

»Weil«, sagte Jeff grinsend, »wir wollen nicht, daß Mathiessen alle unsere Pläne durchschaut … Er sollte doch mit der Miß da ein Techtelmechtel beginnen und sie aus der Stadt herauslocken. Nun ist Hoffmann der Ansicht, er hätte sich in der Zwischenzeit wirklich und wahrhaftig in das Mädel vergafft. Er hat sie letzthin beim Leuchtturm beobachtet. Das ist nicht nur, als ob …, das ist bitterer Ernst.«

»Und du glaubst …«

»Daß wir ihn niemals überreden können, irgendeinen Schlag gegen das Mädel zu führen. Im schlimmsten Fall wird er sie rechtzeitig warnen.«

»Schön, und wer wird die Sache machen?«

»Arnoldi … Er spricht gut englisch und wird der Kleinen irgendeinen Roman erzählen – was weiß ich – daß Mathiessen verunglückt sei und sie zu sehen wünsche oder sonst irgendwas. Einmal außerhalb der Stadt, ist die Sache leicht zu machen.«

*

Plötzlich und unvermittelt empfand Christian brennende Sehnsucht nach Ulla. Es gibt Stunden im Leben, in denen sonst noch so vernünftige Menschen von tollen Gedanken befallen werden.

Eingedenk der Weisung Ullas und im blinden Vertrauen in ihre unbegrenzten Fähigkeiten, nahm er ein Blatt und schrieb darauf:

»Ich habe Sehnsucht nach dir, Ulla. Ich will dich sehen.«

Als Farr das Zimmer abstaubte, bemerkte er den Brief und las ihn bedächtig.

»Korrespondenz mit Geistern«, sagte er grinsend. »Ich hab mal so eine Geschichte gelesen. Soll unter Umständen 'ne ganz famose Sache sein.«

»Du hast die verdammte Gewohnheit zu schwätzen«, sagte Christian und schob den Jungen aus dem Zimmer. Er sperrte die Tür ab; es wäre ihm unangenehm gewesen, hätte die Wirtin seinen dringenden Ruf an Ulla gelesen.

Als er das Haus verließ, stand Nyström, der ebenso geduldig als erfolglos gefischt hatte, auf und folgte ihm unauffällig.

»Das ist er gewiß nicht«, murmelte er mißmutig, »aber daß der Kleine allein in der Welt herumfährt, kommt mir reichlich merkwürdig vor. Hätte er gewußt, was Christian am weiteren Weg alles tat, wäre er bestimmt auf sich selbst sehr ärgerlich geworden.«

Außerhalb der Stadt, gegen Norden, blieb der junge Mann stehen und betrachtete eingehend eine große Mauer, die ein wüstes Stück Land umsäumte; vom praktischen Standpunkt aus betrachtet, war die Mauer bestimmt zwecklos, aber Christian schien sie zu gefallen. Er warf erst einen forschenden Blick in die Runde, dann zog er ein Stück Kreide aus der Tasche und begann die heißen Steine zu beschreiben. Was er schrieb, sah wie eine Kinderzeichnung aus. Nur viel geheimnisvoller.

Von irgendwo stieg ein leiser Pfiff; dann sang ein musikalischer Mann mit schmelzender Stimme eine bekannte, darum abgedroschene Arie: »Lache Bajazzo …« Ein Boot scheuerte leise gegen Stein. Dann Stille; tiefe, atembeklemmende Stille. Es schien, als wäre ein dichtes schwarzes Tuch über die Gegend gefallen.

Ein leises, kaum hörbares Klopfen. Dann eine flüsternde Stimme: »Dreizehn, zehn, drei.«

Christian, ebenso leise: »Hundert, fünf, acht. – »Hallo, dachte schon, du wärest über den Styx gegangen …«

Die Stimme (mit sympathischem Lachen): »Styx ist gut und begreiflich; die Leute sind nicht gerade zärtlich.«

Christian: »Wirklich froh, dich zu hören. Was ist Neues?«

Die Stimme: »Die Leute sind ratlos. Letzthin sprachen sie davon, einen der Johnsons zu entführen und vom übrigbleibenden Teil Lösegeld zu erpressen.«

Christian: »Jeffs Vorschlag?«

Die Stimme: »Natürlich. Er träumt nur von Mord und Totschlag.«

Christian: »Ein Zeichen, daß er ungesund erregt ist. Ein schlechtes Programm. Johnson ist zäher als Schuhleder.«

Die Stimme: »Das dachte ich mir. Aber Mabel ist verdammt nett. Wann ist der Tag?«

Christian: »Übermorgen oder einem der nächsten Tage. Du darfst nicht zu stolz sein auf deine Tüchtigkeit.«

Die Stimme: »Keine Angst. Morgen an der gleichen Stelle.«

Dann senkte sich Stille übers Wasser. Weiter rechts arbeitete ein Kran und sein Lärm übertönte auf Minuten jedes Geräusch. Als Christian nach einer Weile leise gegen das Holz klopfte, kam keine Antwort.

Von der anderen Seite drangen laute Stimmen.

Es war unverkennbar Jeff Strucks, der sprach: »Was zum Teufel treiben Sie sich in der Nacht hier herum?« Er schien ärgerlich zu sein.

Der andere, Christian, erkannte mühelos die unangenehm quietschende Stimme Hoffmanns, sagte: »Wollte mir die Gegend ansehen. Ist aber so finster, daß man über seinen eigenen Schatten stolpern kann.«

»So?« sagte Jeff mißtrauisch. »Sind Sie verliebt?«

»Das geht Sie nichts an. Außerdem gehe ich gern allein.«

Als Christian nach Hause kam, lag das Papier noch auf dem Tisch. Mit einer festen, energischen Schrift stand unter seinem Brief:

»Du hast Mabel geküßt …« Einige Worte durchgestrichen. Dann: »Ich mag mit niemand teilen. Ulla.«

»Da hat dieser kleine, hundsföttische Schuft geplauscht«, keuchte Christian und lief erregt in Farrs Zimmer; er hatte die feste Absicht, dem Jungen eine Tracht Prügel zu verabfolgen – aber das Zimmer war leer.

Später bemühte sich Christian emsig, die ausgestrichenen Worte zu entziffern; er arbeitet« daran nahezu eine Stunde.

*

Zu Mittag desselben Tages bekam Jeff Strucks einen Brief aus Wien, der ihn in Erstaunen setzte. Er rief seinen Bruder und Arnoldi, die im Nebenzimmer Sechsundsechzig spielten und sich gegenseitig betrogen und schwenkte das Blatt wie eine Fahne in der Hand.

»Hat Dir Mabel Johnson endlich ihre Hand angetragen?« knurrte Gil und spuckte aus.

»Laß den Unsinn. Mortensen schreibt.«

»Mortensen …«, kam das Echo zurück und die Männer stießen leise Pfiffe aus.

Der Brief lautete:

 

»Lieber, guter Jeff!

Ihre Annonce war so deutlich, daß sie bestimmt auch Nyström hätte enträtseln können. Das ist Ihr Grundfehler: Sie trauen Ihren Feinden zu wenig zu. Und sich zu viel. – Doch das nur nebenbei.

Wie Sie aus dem Postvermerk entnehmen können, sitze ich in Wien und betrachte mit regem Interesse das vorbeiflutende Leben …

Apropos – von den zweiundsechzigtausend Mark, die ich Ihnen im Bus aus der Tasche gezogen, sind zwei Tausender falsch. Ich hätte niemals gedacht, daß Sie sich auch mit solchen Dingen abgeben. Wohl ein Produkt des regen Geistes Ihres lieben Bruders Gil?

Hoffmann würde ich nicht zu viel trauen. Er paktiert mit anderen Leuten hinter Ihrem Rücken. Doch der gute Arnoldi tut es auch.«

 

»So ein lügnerischer Hund«, zischte Arnoldi und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ruhe«, sagte Gil nervös und begann an seinen Nägeln zu kauen.

Jeff las weiter; der letzte Passus hatte ihn heiter gestimmt.

 

»Seit mein Freund Nyström bei Ihnen weilt und den lieben ganzen Tag unschuldige Fische beunruhigt, fühle ich etwas wie ferne Lebensfreude in mir. Sagen Sie ihm, er möge Köderfischchen verwenden. Sie haben recht, lieber Freund, der Amerikaner Johnson, der Ihre Schätze bewunderte und Ihnen für das Ganze in Bausch und Bogen drei Millionen Dollars geben wollte, war ich …

Jede weitere Bemerkung erübrigt sich von selbst.

Jetzt weiß ich, was Sie besitzen und das genügt meinem Ehrgeiz; Wann ich die Sachen bekommen werde, ist wohl nur eine Frage der Zeit; ich habe viel Zeit.

Ihr Angebot, mit Ihnen zu arbeiten, haben Sie wohl selbst nicht ernst genommen; Arnoldi und Mathiessen, die mit Ihnen so schöne Ferien an der blauen Adria verbringen, sind für mich keine guten Bürgen. Arnoldi wollte mir in Athen das Gehirn mit einem Revolver ausblasen und Mathiessen kann ich den heimtückisch geführten Messerstich in Aden nicht so bald vergessen.

Mit solchen Freunden zu arbeiten ist kein Vergnügen.

Das ist meine Antwort.

Falls Sie nächste Woche noch in Zengg sind, hoffe ich Sie persönlich zu begrüßen.

Richten Sie dem lieben guten Nyström meine Empfehlungen aus – stets der Ihre

Mortensen.«

 

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann zerknüllte Jeff den Brief und warf ihn wütend zu Boden. »So ein Schuft – so ein kaltblütiger, heimtückischer Schuft!«

Arnoldi, der Mann mit dem schrecklichen Gesicht, strich sich über die Augen. »Merkwürdig ist nur, daß der gute Mann über alles, was hier vorgeht, genau orientiert ist.«

»Das finde ich gerade nicht«, sagte Jeff und begann den voreilig zerknitterten Brief wieder zu glätten.

»Nicht? Er weiß, daß wir hier alle versammelt sind … er weiß, daß dieser Dummkopf von einem Detektiv den ganzen Tag fischt …«

»Ja«, fauchte Gil und begann im Zimmer umherzugehen, »er weiß zu viel. Verdammt – man wird so unsicher, daß man seinen eigenen Augen nicht mehr traut.«

»Jedenfalls bin ich froh, daß er kommen will«, sagte Arnoldi und ballte seine mächtigen Fäuste. »Lebend kommt er nicht mehr heraus.«

»Höchste Zeit«, sagte Gil sichtlich beruhigt. Die kräftigende Nähe Vinzenz Arnoldis gab ihm neuen Mut.

Als Mathiessen kam, hatten sich die Männer bereits beruhigt.

»Mortensen hat geschrieben«, sagte Jeff und hob mit einem Ruck seinen Kopf. Und der hübsche Mathiessen riß die Augen auf und blieb regungslos stehen.

»Teufel …« flüsterte er.

Es dauerte geraume Weile, ehe sie ihm den Inhalt des Briefes tropfenweise einflößen konnten; die finstere Miene des jungen Mannes deutete auf seine maßlose Erregung.

»Wenn Sie einen Helfer brauchen, Arnoldi«, sagte er verbissen, »können Sie jederzeit auf mich zählen …«

»Danke«, kam es lachend zurück. »Zu solchen Stelldicheins nehme ich mir niemals Zeugen mit.«

»Und nun«, sagte der praktische Jeff und legte beide Arme auf den Tisch. »Wie steht die Angelegenheit mit dem Mädchen?«

Mathiessen wurde etwas rot. »Ganz gut. Wir haben uns geküßt und sagen uns du.«

»Und sonst?«

»Was soll das heißen?« fuhr der junge Mann erregt auf. »Was wollen Sie damit sagen?«

Jeff grinste. »Ah so – Sie wollen Sie heiraten? Schön, junger Mann. Wir haben nichts dagegen. Wieviel Provision sind Sie bereit, uns für die Vermittlung zu zahlen?«

»Was verlangen Sie?«

»Warten Sie.« Gil machte ein nachdenkliches Gesicht und schien an den Fingern zu rechnen. »Sie bekommt zwei Millionen mit …, sagen wir eine Million.«

»Wenn ich das Geld auf die Hand bekomme«, sagte Mathiessen ernst, »gebe ich die Summe her; es ist aber nicht ausgeschlossen, daß sie sich auch in der Ehe die Verfügung über das Geld vorbehält.«

»Dann«, gluckste Jeff, »holen wir's uns selbst. Sie müssen uns Duplikate zu den Schränken und Formulare von Ihren Schecks verschaffen.«

»Das ließe sich machen«, nickte Mathiessen und spielte mit den Fingern. »Ihr dürft aber nicht glauben, daß ich es gerne tue.«

»Gerne oder nicht gerne«, trumpfte Gil ab, »spielt für uns keine Rolle. Non olet, wie der Lateiner sagt.«

»Beatus ille qui procul amicis …« seufzte Mathiessen und begann einen unruhigen Marsch zu trommeln.

Jeff warf Arnoldi einen versteckten Blick zu.

»Ich glaube, wir können uns damit zufrieden geben«, sagte er.

»Ich glaube auch«, entgegnete Arnoldi und verzog sein Gesicht zu einer häßlichen Fratze.

*

Es ist unmöglich zu ermessen, welchen Weg alle Dinge genommen hätten, wäre Nyström zu der Zeit nicht ungeduldig geworden; das Fischen machte ihm keinen Spaß; die Unterhaltungen mit Vollmer wurden eintönig und die Hitze machte ihn nervös.

Viel Schuld an den folgenden Ereignissen trug auch Jeff.

Als er Nyström auf der Uferstraße begegnete, konnte er es nicht übers Herz bringen, ihm den Erhalt des Briefes zu verschweigen.

Aber verschiedene Bemerkungen des Briefes ließen den erfahrenen Detektiv stutzen. Den Scherz, einen Brief in eine Stadt zu senden, um ihn von dort dann rücksenden zu lassen, kannte er zur Genüge. So keimte langsam in seiner Seele der Verdacht, Mortensen sitze irgendwo in Zengg und amüsiere sich über seine Hilflosigkeit und seine Beschäftigung, und dieser Gedanke machte ihn ärgerlich. Und vor ärgerlichen Detektiven muß man sich hüten.

Einmal so weit, begann er nochmals, alle Bekannten durchzusieben, und immer wieder fielen ihm die seltsamen Gewohnheiten des alten Ehepaares auf, von denen einer ein Mann war – eigentlich waren es zwei Männer, die hier ein Ehepaar bildeten, aber Nyström dachte dabei nur an Farr. Ihn schaltete er aus; für ihn war Farr nichts als das willenlose Werkzeug in den Händen des gewissenlosen Mortensen, und einmal so weit, empfand er etwas wie menschliche Regungen. Er hatte tatsächlich die Absicht, den jungen, seiner Ansicht nach unschuldigen Burschen auf den Weg des Rechtes zurückzuführen.

Aber Farr blieb unsichtbar; ging er aus, geschah es immer nur in Begleitung des alten, weißhaarigen Herrn.

Zweimal ging Nyström an der Wohnung Christians vorbei; zweimal befiel ihn die brennende Lust, hinaufzugehen und nachzusehen. Das drittemal gab er dem Ruf seiner Seele nach.

Unglücklicherweise hatte Christian gerade an dem Tage wieder Sehnsucht nach Ulla verspürt und ihr eine lange Epistel am Tisch liegen lassen:

 

»Ulla, Du irrst Dich. Schuld an allem ist der kleine schmutzige Kerl von meinem Diener, der sich mit Mabel eingelassen hat. In der Dunkelheit hat sie mich für ihn gehalten. Du darfst auch nicht alles glauben, was Farr erzählt. Er ist der geborene Lügner.

Christian.«

 

Diesen Brief las Nyström, der mit Hilfe seines Dietrichs mühelos ins Zimmer gedrungen war, und schrieb ihn sogar säuberlich ab.

Sorgfältig untersuchte er das Zimmer, fand aber nichts. Auch das Bett schien nicht als Versteck zu dienen. Und dann – ärgerlich, wie er war, nahm er einen Bleistift und schrieb unter die Liebesepistel Christians eine Antwort …

Um zehn Uhr kam Christian nach Hause; er nahm Farr ins Zimmer mit, denn er hatte seit einiger Zeit eigene Gedanken. Dann blieb er stehen und begann die Augen zu öffnen.

In fliegender Eile las er: »Ulla hat recht, daß sie mit Verbrechern nichts zu tun haben will. Christian Mortensen – ich bin Ihnen auf der Spur. Axel Nyström.«

»Verdammt«, sagte Christian und zerriß den Brief in kleine Stücke. »Dieser Spürhund ist imstande und bringt die größte Verwirrung hervor …«

Genau genommen, war die Notiz Nyströms etwas Kindisches – aber haben Kinder nicht die unheimliche Fähigkeit, die wundervollsten Arbeiten denkender Menschen zu zerstören?

»Er muß weg«, sagte Christian verbissen und ließ sich etwas erschöpft in seinen Sessel fallen.

»Es ist gräßlich, wenn Sie so reden«, sagte Farr ängstlich aus seiner Ecke.

Christian hob leicht überrascht den Kopf. »Oh – mein Gott. Du bist auch da?«

»Sie haben mir nicht gesagt, daß ich gehen solle.«

»Nein, das habe ich nicht.«

Eine Weile herrschte Schweigen; Christian bemühte sich, allerdings vergeblich, eine massive Aschenschale einzurollen, dann stand er auf.

»Farr«, sagte er ruhig, aber in seinen Augen schienen Tränen zu schimmern; wenigstens kam es Farr so vor. »Wir haben lange Zeit hindurch Freud und Leid geteilt, und ich war dir immer ein guter Herr. Ist es so?«

John Farr riß die Augen auf und sein Gesicht wurde bleich; trotzdem sagte er überzeugt: »Ja.«

»Gut, Farr. Ich habe dir alles gegeben, was ich selbst gehabt, und dich immer wie meinesgleichen behandelt. Ist es so, Farr?«

»Ja.« Farr schien jetzt an einem Erstickungsanfall zu leiden, doch Christian ging herzlos über das hinweg.

»Wir haben Abenteuer zusammen bestanden«, fuhr er träumerisch fort, »und haben manchen Kampf siegreich gegen den gewaltigen Nyström ausgefochten. Aber jetzt ist es vorbei. Endgültig vorbei. John Farr – ich muß dich entlassen.«

»Mich – entlassen …« kam es aus schluchzender Kehle.

»Ja«, sagte Christian mit der Miene eines Diktators, der seinen einzigen Sohn wegen Ungehorsams gegen das Gesetz zum Tode verurteilt. »Jetzt beginnt der letzte, entscheidende Kampf. Ein Streit auf Leben und Tod. Weißt du, wer Leonidas war? Erinnerst du dich, daß er vor der entscheidenden Schlacht seine Krieger nach Hause schickte und allein zurückblieb?«

Sei es nun, daß Farr tatsächlich nichts von Leonidas wußte, sei es, daß er nicht sprechen konnte – nur ein wildes Schluchzen stieg unmelodisch …

»Nun gut, Farr. So entlasse ich dich, wie es weiland Herr Leonidas mit seinen Leuten tat. Lebe wohl. Nie hat es einen braveren Diener gegeben als dich …«

»Ich«, keuchte Farr, »ich – wir – könnten …« Er faltete die Hände wie ein reuiger Sünder, aber Christian übersah diese Bewegung. Er drückte dem Jungen einen väterlichen Kuß auf die schwere, graue Perücke und schob ihn leicht aus der Tür; der Schlüssel kreischte im Schloß …

Dann machte Christian ein sehr zufriedenes Gesicht. Er glich in dem Augenblick eher einem satten Epikuräer denn einem hungrigen Spartanerkönig.

*

Axel Nyström war ein methodischer Mann. Er benahm sich wie ein Romandetektiv, setzte sich an die Riva vor Christians Haus und fischte. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Haus keinen zweiten Ausgang hatte. Es lag etwas Herzloses, Drohendes in dieser Beschäftigung des Detektivs, aber es war sehr klug.

Außerdem liebte er es, die Ereignisse heranreifen zu lassen.

Gegen elf Uhr vormittags – es war ziemlich heiß, – kam ein Facchino auf Nyström zu und begann zu reden; mit viel Geste und sehr lauter Stimme. Facchinos nennt man im Süden Menschen, die eine Eckenstehermütze mit einer großen Nummer aufsetzen und Arbeit vortäuschen. Es gibt bestimmt keinen anständigen Menschen, der jemals einen Facchino arbeiten sah.

Dieser Mann war scheinbar stark behaart und besaß eine wundervolle Rednergabe; was ihm an Worten mangelte, ersetzte er durch Gesten; dabei mengte er viele Sprachen durcheinander. Ein Mann, der alle diese Sprachen einwandfrei beherrschte, hätte ihn trotzdem nicht verstanden.

Der Inspektor betrachtete den Facchino eine Weile sehr aufmerksam; dann stand er langsam auf und sagte: »Wenn Sie mit mir reden wollen, sprechen Sie langsam.«

Nyström kannte etwas italienisch, außerdem sprach er tschechisch; so entspann sich eine mühevolle Unterhaltung.

Ein braunes Auto mit der Marke A – XXXIV – der Facchino sagte »Axiiihhhh …« – sei vor dem Tor, gleich hinter der ersten Biegung an einen Stein angefahren, und ein Mann wäre dabei verunglückt – natürlich ein Fremder – er hätte viele Papiere bei sich; seltsame Papiere mit großen Stempeln – und die Polizei – der Facchino machte eine abwehrende Handbewegung … Ob der Herr nicht mitkommen und nachsehen wollte …

Die Sache schien ziemlich logisch zu sein, und Nyström, der von Natur aus neugierig war, folgte ihm ohne Zögern. Er dachte an den Marinevertrag, und dieser Gedanke beschleunigte seine Schritte.

Beide passierten das Tor und die kurze schattenlose Allee; gingen am Friedhof vorbei, der unter den Glutstrahlen der Sonne tatsächlich wie ein an die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnender Ort aussah, und kamen in ein enges Tal.

»Zum Teufel«, fluchte der ungeduldige Detektiv. »wo ist denn dieses verunglückte Auto?«

»Dort«, sagte der Facchino und trat ganz nahe an Nyström. Im nächsten Augenblick umschlangen den Detektiv zwei lange, starke Arme, und ein Riemen nahm ihm die Möglichkeit, seine Hände zu gebrauchen. Er begann um Hilfe zu rufen, aber seine Schreie verhallten ungehört; ebensogut hätte er singen können.

Weit und breit war kein Lebewesen.

»Nyström«, sagte jetzt der Facchino in reinstem Deutsch, »Sie sind doch nur ein dummer und eingebildeter Mensch, der sich immer wieder übertölpeln läßt. Ich hatte Furcht, daß Sie mir die größten Schwierigkeiten machen würden …«

»Mortensen«, brachte der Detektiv mühsam heraus, »das werden Sie büßen!«

»Reden Sie keinen Unsinn«, kam es lachend zurück. »Ich könnte Sie jetzt hier liegen lassen, wie es manche Fremdenlegionäroffiziere mit ihren Soldaten tun, aber ich möchte Ihr Leben erhalten. Sie verschaffen einer Menge Verbrecher angenehme und heitere Stunden …«

»Mortensen«, sagte der Inspektor wütend, »lassen Sie mich augenblicklich los. Sie bringen sich an den Galgen.«

»Was Ihnen nicht einfällt! – Übrigens, da fällt's mir gerade ein: ich sehe es nicht gerne, wenn man sich in meine Privatkorrespondenz mengt. Das ist ziemlich taktlos.«

Er hob den Detektiv auf und trug ihn mühelos den steilen Hang hinan; später, als sie zur Hütte kamen, zog er einen Dietrich und öffnete geschickt das schwere Vorhängeschloß.

»So«, sagte er und setzte Nyström auf den Boden, »das ist Ihre Behausung für die nächsten Stunden. Sie waren mir im Wege, und ich kann Sie draußen nicht brauchen.«

Er stellte zwei Flaschen Wasser auf den Tisch und legte dazu ein Paket Eßwaren; schloß die schweren Läden und vergewisserte sich, daß die Bolzen an der Decke noch fest waren.

Dann löste er dem Inspektor die Handfesseln.

»Leider muß ich Sie jetzt allein lassen«, sagte er und winkte zum Abschied leicht mit der Hand; »die Stricke an den Beinen können Sie dann allein entfernen. Unterm Bett liegen auch einige Bücher, und nun – Gott befohlen …«

Ein sehr zufriedener und sehr vergnügter Facchino ging pfeifend in die Stadt zurück; er trat ohne anzuklopfen in Christian Mortensens Zimmer.

»Der Herr ist da«, sagte Christian gutgelaunt und entfernte vorsichtig den häßlichen Hängebart und die starken Augenbrauen. »Farr, das war eine Arbeit.«

Farr, sehr bleich aber gefaßt, kam einen Schritt näher.

»Was haben Sie wieder getan …?«

»Ich«, sagte Christian großartig und begann mit einem Tuch sein Gesicht abzureiben, »habe einem niederträchtigen Menschen verboten, sich in meine Korrespondenz mit Ulla zu mengen. Der Mann ist imstande und bringt dieses wunderbare Mädchen gegen mich auf.«


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