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6.

Der nächste Tag begann mit einem wolkenlosen, sonnigen Morgen. Die Luft war balsamisch kühl und die Straßen voll Sonne; Menschen und Häuser machten einen freundlichen Eindruck, und selbst die sonst so eintönig anmutenden Straßenbahnwagen schienen wie lustige rote Lebewesen durch die hellen Straßen zu huschen. In aller Frühe begann der Straßenlärm und riß die Menschen mit; Christian stand am Fenster, sah auf das Leben in der Tiefe, und eine unbestimmte Sehnsucht nahm ihn gefangen.

An solchen Tagen pflegen junge gesunde Menschen an eigenartigen Ideen zu leiden.

Als Farr eintrat, war noch ein Rest der Träume in Christians Augen; er funkte aufgeregt umher und verbreitete um sich eine Atmosphäre stiller, geheimnisvoller Fröhlichkeit.

»Ich werde ausfahren«, sagte er dann unvermittelt, »und mich einen Tag dem Nichtstun hingeben. Du kannst tun, was du willst.« Er lachte. »Miß Mabel dürfte nicht böse sein, wenn du dich ihr widmest.«

»Vielleicht werde ich's tun«, meinte der Junge. »Wo wollen Sie hinfahren?«

»Ins Wechselgebiet. Die Straße soll sehr schön sein.«

Und Farr nickte. Er schien mit dem Ergebnis der Unterredung sehr zufrieden zu sein. »Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich entferne?« Christian hatte nichts dagegen.

Nach einer Stunde stieg er langsam ins Foyer, wechselte einige Worte mit Mabel Johnson, die in einem tiefen Korbsessel lag und auf der Lauer zu sein schien, schüttelte Mr. Johnson kräftig die Hand und ging in die Garage. Der Wagen funkelte wie ein Komet, und Christian schwang sich mit einem Seufzer der Erleichterung hinter den Volant.

Der braune Wagen flitzte durch das Straßengewühl; geschickt umfuhr er schwere, keuchende Autobusse und heftig winkende Verkehrsschutzleute. Schlug einen atembeklemmenden Haken um eine Straßenecke und gewann mit einem Sprung das Freie.

In einer Kaskade von Staub und Steinen hielt er neben dem fremden Gefährt. »Hallo …« Als keine Antwort kam, sprang er heraus und trat näher – dann blieb er plötzlich stehen, als wäre er in vollem Lauf gegen eine unsichtbare Mauer gerannt … Vor ihm hoben sich aus dem weißen Untergrund zwei wundervolle Mädchenbeine ab; die Fahrerin lag halb unter dem Wagen, und Christian begann die neuartige Lage eingehend zu überprüfen …

Eine helle Mädchenstimme riß ihn aus seinen Betrachtungen.

»Wenn Sie sich meine Beine genug angesehen haben, können Sie weitergehen …«

»Ich wollte nur fragen«, sagte Christian stockend, »ob ich nicht irgendwie …«

»Wollen Sie mir helfen?« Ein lebhaftes Wesen kroch unter dem Wagen heraus, und Christian blickte erstaunt in ein hübsches, leicht gerötetes Mädchengesicht … Lose Haare flatterten im Wind und zwei dunkle tiefe Augen musterten ihn forschend. Das Komplet aus hellgrauem Tweed umschloß die knabenhaft straffe Gestalt.

Irgend etwas störte Christian an dem Mädchen. Augen und Stimme weckten unbestimmte Erinnerungen, aber vor dem sieghaften Bild, das ihn mit strahlendem Lächeln betrachtete, versanken alle anderen Gedanken. – Nie in seinem Leben war er so verblüfft gewesen als jetzt …

»Christian«, sagte das Mädchen und streckte ihm mit einer biegsamen Bewegung die Hand entgegen, »Christian – welcher Zufall …«

Der junge Mann trat einen Schritt zurück und riß die Augen auf.

Es folgte ein minutenlanges Frage- und Antwortspiel.

»Ich hätte niemals gedacht, daß du so – so –«

»Hübsch bist?« sagte das Mädchen ohne Koketterie. »Du kannst mir's ruhig anvertrauen – ich bin nicht eingebildet. Tante Agathe schrieb mir, daß du hier seiest, und ich wollte dich sprechen; aber irgend so ein grauslicher Kerl von einem Jungen hat mir Geschichten erzählt …«

Der methodische Christian fand langsam zurück. Daß er mitten auf der Landstraße einem bis dahin wildfremden Wesen du sagen sollte, kam ihm etwas lächerlich vor. »Es ist nur die erste Überraschung gewesen«, meinte er lächelnd, »du bist zu unvermutet in mein Leben getreten. Aber ich bedaure es nicht.«

Ulla blickte ihn erstaunt an. »Wie seltsam – und Tante schrieb, du wärest ein kratzbürstiger, schwer zu behandelnder Mensch. Ich finde dich eigentlich recht nett …«

»Danke. Ich kann dir das Kompliment zurückgeben. Wie kommst du hierher?«

»Panne«, lachte Ulla und zeigte zwei Reihen blendend weißer Zähne. »Wenn du so gut bist, kannst du nachsehen. Ich kenne mich in dem Gewirr von Kolben und Röhren nicht recht aus. Wie lange bleibst du?«

Christian wiegte den Kopf. Angesichts des Mädchens bedauerte er, sich in schlimme Abenteuer eingelassen zu haben. »So lange es meine Angelegenheiten erfordern.«

»Was sind deine Angelegenheiten?«

»Ich weiß es selbst nicht. Manche sagen, sie seien sauber, manche wieder bezeichnen sie als schmutzig. Wer kann sich im Streit der Menschen auskennen.«

Sie besprachen eine Zusammenkunft, und Christian blickte dem Mädchen lange nach. Ein eigenartiges Gefühl stieg in ihm hoch, und in seinen Augen lag der Schimmer eines lange ersehnten Glücks …

Erst gegen Abend kam er zurück und fand Farr in seinem Zimmer.

»Was Neues?« fragte der Junge eintönig. Ein Fleck auf dem Kragen eines neuen Jacketts schien ihm viel Sorge zu bereiten.

Christian lachte verlegen. »Ich habe Ulla gesehen.«

»Wirklich?« Die Frage klang gar nicht neugierig, und der junge Mann ärgerte sich darüber.

»Wenn du so sprichst, hast du sie nie im Leben gesehen.«

»Häßlich?«

»Farr«, sagte Christian ärgerlich und wandte sich um, »ich muß dich bitten, über meine Verwandtschaft mit mehr Hochachtung zu reden. Nicht zehn Mabels kommen an Ulla heran.«

»Wirklich?« sagte Farr und rieb mit doppeltem Eifer an dem störenden Fleck.

*

Christian war bis zum Abendessen sehr nachdenklich. Eine Menge neuer Eindrücke stürmte auf ihn ein und er bemühte sich vergebens, sie zu ordnen. Über dem Speisesaal lag es wie ein leichter Nebel; elegante Menschen saßen an kleinen Tischen, und niedliche Lampen mit roten Schirmen verbreiteten ein wohliges Licht; im Hintergrunde standen Blattpflanzen – schwer und wuchtig – und hinter den Pflanzen spielte das unsichtbare Orchester weiche, sehnsüchtige Tangos. Die Töne zitterten durch die Luft und verwoben sich mit dem Stimmengewirr zu einer einschmeichelnden Symphonie.

Vor Christians Augen stand ein hübsches Mädchengesicht und blickte ihn aus tiefen strahlenden Augen an. Erst Mabels etwas herrische Stimme riß ihn aus seinen Träumen.

»Sind alle Deutschen so verwirrt?« sagte sie leicht tadelnd. »Ihr Freund war heute gar nicht nett.«

»Vielleicht war er noch krank?« meinte der rasch ernüchterte Christian.

»Nein – aber so – eigenartig. Wenn Kinder etwas haben wollen, und nicht wissen, was es ist, sind sie so.«

Der junge Mann zog in der Eile Vergleiche, aber die Vergleiche fielen seltsamerweise zu Mabels Ungunsten aus. Sie kam ihm nicht mehr so hübsch vor wie ehedem. Dadurch wurde er merklich kühler.

»Er hat aber viel von Ihnen gesprochen«, log er. »Ich dachte, die Sache wäre schon – wie sagt man doch gleich – perfekt.«

»Nein«, schmollte Mabel und verzog den Mund zu einer Grimasse, »er wollte mich nicht einmal küssen …«

Johnson riß Christian aus einer unangenehmen Lage; sein unruhiger Geist duldete kein längeres Festlegen auf einen Gegenstand.

»Die Amerikaner«, sagte er geringschätzig, »die beiden – Holl und Mac Marlow haben mir eine Karte geschrieben; aber ich habe ihnen keine Antwort gegeben. Sie können das Ihrem Freund sagen.«

»Nanu«, sagte Christian etwas unangenehm berührt. »Was wollen denn die Leute von Ihnen?«

Der USA.-Mann machte eine geringschätzige Handbewegung. »Wahrscheinlich Geld. Ich soll nicht vergessen, morgen zehn Uhr …, was weiß ich, was noch alles.«

»Das ist sehr interessant«, nickte Christian, »aber Sie haben recht; wenn Sie mit meinem Freund beisammenbleiben wollen, müssen Sie die Leute vollkommen meiden.«

»Very well«, sagte Mabel und warf ihm einen strahlenden Blick zu, »und Sie werden auch mit dem Grafen reden. Ich bin im Garten«, setzte sie mit leichtem Lidgeklapper hinzu.

»Du bist ein Esel«, sagte Christian eine Viertelstunde später zu Farr, »die Miß ist verzweifelt, daß du sie nicht küssen willst; was zum Kuckuck willst du von ihr, wenn du nicht einmal die einfachsten Kavalierspflichten erfüllst.«

Farr kam mit der Neugierde. »Ist Küssen Kavalierspflicht?«

»Natürlich.«

»Aber Sie haben Ulla auch nicht geküßt …«

Einen Augenblick stutzte Christian. Dann sagte er: »Aber ich werde es das nächstemal ganz gewiß tun …«

John Farr lief aus dem Zimmer und zog sich rasch um. Als er in den halbdunklen Garten kam, stieß er sofort auf Mabel Johnson, die ganz vorne unter einer blühenden Magnolie saß. Sie streckte ihm beide Hände entgegen.

»Endlich«, sagte sie schmerzlich. »Warum sind Sie nicht zum Abendessen gekommen? Ich hätte mit Ihnen gerne getanzt.«

»Oh«, sagte Farr erschrocken, »ich tanze nie. Die modernen Tänze mag ich nicht und die alten werden nicht gerne gesehen.«

»Mit mir können Sie alles tanzen, was Sie wollen«, sagte die resolute Amerikanerin. »Wenn die Kapelle nicht spielen will, wird sie Papa kaufen.«

»Danke«, nickte Farr schwach und ließ sich resigniert in einen Sessel fallen.

Sie sprachen eine Weile von alltäglichen Dingen; es war nichts Stürmisches oder Eroberndes in Farrs Wesen; aber Mabel war nicht die Frau, die von einem einmal gefaßten Plan abging.

»Sind Sie verlobt?« fragte sie mißtrauisch.

»Nein – aber …«

»Kein aber! Wenn Sie nicht verlobt sind, haben Sie keine Verpflichtungen zu anderen Mädchen.«

»Nein«, seufzte Farr und wich zurück; aber Mabel kam ihm nach.

»Haben Sie noch niemals geküßt?« fragte sie forschend.

»Nein. Das ist bei uns nicht so Sitte wie in …«

»Das ist überall Sitte«, sagte Mabel und faßte mit beiden Händen nach dem Jungen. »Und jetzt werden Sie mich küssen …«

*

Mabel flitzte aufgeregt in ihr Zimmer und dachte zwischendurch an ihren leider etwas zu schüchternen Bräutigam; Mr. Johnson ging langsam in die Halle, um irgendwo einen Cocktail zu bekommen, nach dem sich sein Gaumen sehnte. Aber gerade, als er dem Kellner den Auftrag gab, führte der Zufall Axel Nyström ins Imperial. Nyström, der Mann, der sich einen Ruf erworben hatte, daß er für manche Menschen immer zur Unzeit auftrat. Er eräugte den Amerikaner und kam sogleich auf ihn zu.

»Gut, daß ich Sie treffe«, sagte er herzlich, »aber letzthin haben Sie mir eine Geschichte über einen Herrn von Kielhausen erzählt und ich habe nicht alles behalten.«

»Schön«, sagte Johnson, ohne eine Spur von Höflichkeit in der Stimme, »und wer sind Sie?«

»Aber Sie kennen mich doch …«

»Der Teufel kennt Sie«, sagte der USA.-Mann ärgerlich. Er vermutete irgendwie, daß der Inspektor mit den beiden ihm unsympathischen Amerikanern zusammenhinge, und wollte seinem Versprechen gemäß auch die letzte Bindung mit diesen Leuten lösen.

Nyström lächelte unentwegt. »Ich bin doch Nyström – Axel Nyström, falls Sie ein Freund längerer Bezeichnungen sind.«


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