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Der Dampfer pfiff zum zweitenmal, als Jeff Strucks aufgeregt in Olaf Mathiessens Zimmer stürzte.
»Mathiessen«, sagte er hastig und zog den jungen Mann am Ärmel. »Nehmen Sie rasch einen Kragen und laufen Sie los. Sie müssen mit dem Dampfer dort nach Arbe. Hoffmann ist mit einem Motorboot vorausgefahren und hat ein Stelldichein mit einem Engländer, der sich für Marinedinge interessiert …«
»Was zum Teufel hat er mich nicht gleich mitgenommen?« fragte der junge Mann erstaunt.
»Weil Sie wie gewöhnlich nicht zu finden waren«, er senkte seine Stimme plötzlich zu einem Flüstern, »und weil wir Hoffmann nicht mehr ganz trauen können.«
»Wie lange muß ich bleiben?«
»Lächerliche Frage. Sie kommen mit dem nächsten Dampfer zurück. Vielleicht auch früher. Wenn Sie sehen, daß die Verhandlungen zu keinem Erfolg führen, brechen Sie sie ab und zwingen Hoffmann, gleich zurückzukommen.«
Gerade als die Sirene zum drittenmal pfiff, stürmte Mathiessen über die Laufplanke an Deck.
Es waren nur wenig Passagiere an Bord, und Mathiessen begann sich zu orientieren. Ein kühler Wind strich über das Schiff, und das Meer war fast durchsichtig blau. Einige Möwen balgten sich in der Luft.
*
Jeff wandte sich zufrieden lächelnd um. Neben ihm stand Hoffmann und grinste.
»Er hat's gefressen«, sagte er und machte eine Bewegung mit der Hand, die alles mögliche bedeuten konnte. »Wann kommt der Dampfer zurück?«
»In sechs Stunden.«
»Wie lange braucht eine Motorbarkasse hin und zurück?«
»Fünf Stunden.«
»Well, dann los …« Er trabte zufrieden zum Hotel und stieß in der Tür mit Mabel Johnson zusammen, die eben ins Freie trat.
Als er den Hut zog, wandte sich die Amerikanerin ab und setzte ein hochmütiges Gesicht auf.
»Täubchen«, knurrte Jeff wütend, denn die Gäste hatten die Szene bemerkt, »du wirst in drei Stunden anders denken.«
Aber Mabel Johnson dachte im Augenblick sehr häßlich über Jeff und Gil; vor dem dritten, der sich ständig in ihrer Gesellschaft herumtrieb, hatte sie sogar Angst.
Was etwas bedeuten will, wenn man bedenkt, daß Mabel aus Kolorado-USA. stammte und ihre Kinderjahre zwischen Cowboys verbracht hatte.
Sie ging baden, aber da sie Mathiessen nicht fand, zog sie sich bald wieder an.
Sie traf ihren Pa vor dem Hotel; er trank südländische Getränke und bemühte sich, sie durch reichliche Zugabe reinen Alkohols genießbar zu machen; was ihm nur unvollkommen gelang.
Als Mathiessen auch zum Essen nicht kam, wurde sie unruhig.
»Er wird hinausgefahren sein«, sagte Mister Johnson und aß mit großem Appetit die Artischocken, die man seiner Ansicht nach nirgends so gut zubereitete wie gerade in Zengg.
»Aber er muß doch zum Essen kommen; er weiß, daß ich auf ihn warte«, gab sie mißmutig zurück. Mabel war keine leicht zu behandelnde Frau.
Als Mathiessen gegen zwei Uhr noch nicht erschienen war, wurde sie unruhig. »Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist«, sagte sie und begann mit ihren Kinderaugen zu rollen. Aber diese sonst so strahlenden Augen waren jetzt feucht.
Sie ging an die Mole und sah übers Wasser; neben dem Blinklicht stand Jeff Strucks und fütterte Fische. Zwischendurch warf er begehrliche Blicke nach hinten: die Amerikanerin trug ein entzückendes Komplet, und der Wind legte den Stoff eng um ihre wundervollen Glieder. Er hätte sie jetzt ohne Scheu ansprechen können, und sie wäre vielleicht auch freundlich zu ihm gewesen; aber Jeff hatte hellseherische Instinkte und wartete.
Trotz ihrem Widerwillen kam Mabel tatsächlich auf ihn zu … Sie wußte, daß Mathiessen mit Jeff verkehrte und hoffte, irgend etwas über den jungen Mann zu erfahren.
»Sie haben ein ganz entzückendes Kleid an«, sagte er unvermittelt und lächelte lüstern. »Ich finde, daß es wundervoll zur Landschaft paßt.«
»Ja«, sagte sie und bemühte sich freundlich auszusehen. »Ist Herr Mathiessen weggefahren?«
»Nein«, sagte Jeff und tat maßlos erstaunt. »Ich dachte, er wäre mit Ihnen. Wir haben ihn auch schon gesucht.«
»Er war nicht mit uns …«
Jeff produzierte mit vieler Mühe eine kleine Sorgenfalte auf seine Stirne. »Das ist doch allerhand! Einfach so zu verschwinden –«
Mabel griff das Wort auf. »Wieso verschwinden? Wann haben Sie ihn gesehen?«
»Oh – vor reichlich zwei Stunden. Das war oben, beim Tor. Er forderte mich auf, mit ihm zu gehen. Irgendwo hätte er eine wunderbare Quelle entdeckt und wollte nun sehen, ob er sie nicht ausbeuten könnte. Mathiessen ist immer voll solcher Ideen …«
»Und wo ist diese Quelle?«
Jeff schien nachzudenken. »Warten Sie … wenn man die Straße entlang geht – vielleicht zweihundert Schritt hinterm Friedhof … Ja – er hat mir den Weg genau beschrieben, aber ich habe ihn mir nicht gemerkt. Soweit ich mich erinnere, dürfte es dort sein. Oder wenigstens in der Nähe.«
Mabel zwang sich zu einem Lächeln. »Wie seltsam, daß er mir nie was davon erzählt hat.«
Und Jeff lachte. Eigentlich meckerte er wie eine beleidigte Ziege. »Er ist sehr verschwiegen«, sagte er und begann zu zwinkern.
»Ja – und vor zwei Stunden haben Sie ihn gesehen?«
»Genau vor zwei Stunden.« Er machte plötzlich ein sorgenvolles Gesicht. »Vielleicht ist ihm was zugestoßen? Er ist zwar jung, aber sehr vollblütig – und diese Hitze – wir sind an solche Temperaturen nicht gewöhnt …«
»Natürlich nicht«, sagte Mabel geistesabwesend. In ihrer lebhaften Phantasie sah sie Mathiessen hilflos im Sand liegen. Sie machte auch eine Bemerkung, und Jeff versicherte, er würde Mathiessen sofort suchen. Leider müsse er auf eine Tante warten, die mit dem Mittagdampfer käme.
»Und das ist schrecklich«, setzte er mit gramerfülltem Gesicht hinzu, »denn, wenn er verunglückt ist.«
»Ich wußte es ja«, jammerte Mabel plötzlich unmotiviert; sie war in dem Augenblick ganz Weib.
Es dauerte fast eine Stunde, ehe sie einen Wagen fand; weitere zehn Minuten dauerte der Streit mit dem Eigentümer, denn Mabel wollte unbedingt allein fahren. Sie war jetzt ganz romantisch und hatte die Seele voll wundervoller Bilder, die sie allein und ohne Zuseher erleben wollte. Dann fuhr sie los.
Mister Johnson kam gerade zurecht, als der Wagen in die Uferstraße einbog. »Wo zum Teufel fährt sie hin?« sagte er ärgerlich zu Jeff Strucks, der jetzt nachlässig auf einem Sessel lümmelte.
Jeff hob den Kopf. »Mich fragen Sie das? Ich finde das reichlich seltsam.«
Und Johnson wandte sich wortlos um.
Mabel Johnson gelang es ohne Mühe, die Ecke vor der Porta Josephina auf nur einem Räderpaar zu umfahren; sie gab unaufhörlich Gas und sauste die Straße entlang wie ein toll gewordener Sportler. Der Staub flog hinter ihr wie eine große, wehende Rauchfahne, und der Motor keuchte und stöhnte. Die Wände warfen das Echo zurück. Eine Biegung, dann noch eine – dann stand ein Mann auf der Straße und winkte heftig mit beiden Armen. Mabel stoppte jäh.
Und dann sah sie entsetzt, daß der Mann das Gesicht mit einem dunklen Tuch verhüllt hatte; nur die stechenden Augen sahen heraus. Ehe sie auch nur einen Laut herausbringen konnte, wurde sie aus dem Wagen gehoben und trotz ihrem wahnsinnigen Sträuben fortgetragen. Einmal gelang es ihr, den Mann bei den Haaren zu packen, aber er faßte ihre kleine Hand und preßte sie so kräftig, daß sie unwillkürlich aufschrie.
Ehe sie wußte, was eigentlich geschehen war, befand sie sich in einem schlecht beleuchteten, stickig heißen Zimmer, in dem eine flackernde Petroleumlampe brannte. Die Tür flog hinter ihr zu und sie war allein.
Die ganze Geschichte hatte keine zwei Minuten gedauert, und der Mann hatte kein Wort gesprochen. Auch nicht, als sie ihm einige Haare ausriß.
Jedes andere Mädchen hätte jetzt getobt und geschrien; hätte mit den Händen verzweifelt ihr Haar gerauft und zu allen Heiligen um Schutz gefleht. Mabel Johnson ordnete ihre Kleider, sagte »damned« und ließ sich in einen Sessel fallen.
Ein eigenartiges, schlürfendes Geräusch ließ sie auffahren.
»Hallo – wer ist da?« fragte sie und eine leise Angst schwang in ihrer Stimme mit. Befand sich noch jemand in der Hütte, hatte die Geschichte ein anderes Aussehen, und Mabel biß die Zähne zusammen. Sie erinnerte sich in der Eile an verschiedene Dinge – an Jeff Strucks' gierige Blicke und Hoffmanns gelegentliche Bemerkungen.
Jemand kroch unterm Bett heraus. Es war zweifelsohne ein Mann, und das Mädchen stand rasch auf.
Sie wich bis an die Wand zurück. Ihre kleinen Fäuste ballten sich, und sie war fest entschlossen, dem Manne, mochte es nun wer immer sein, einen unangenehmen Empfang zu bereiten.
Langsam richtete sich jetzt der Mann auf, und Mabel blickte, einen Augenblick grenzenlos erstaunt, in das etwas verstaubte Gesicht Axel Nyströms. Sie erkannte ihn sofort und lächelte. Alle Angst wich von ihr.
»Hilf Himmel«, sagte sie zufrieden und gab ihre Kampfstellung auf.
Nyström rieb seine Gelenke; sie schienen ihm eingeschlafen zu sein. Dann nickte er schmerzlich bewegt: »Unnötig zu fragen, wie Sie hergekommen. Sie kennen nicht die Geschichte vom Papagei und dem Hund?«
Mabel kannte die Geschichte nicht; sie hatte auch keine Lust, sie anzuhören. »Wahrscheinlich«, sagte sie, »bin ich auf die gleiche Weise hergebracht worden wie Sie …«
»Ja. Man hat mich in der dümmsten Weise übertölpelt.« Dann zog er die Stirn in Falten. »Was haben Sie eigentlich mit Mortensen zu tun gehabt?«
Sie hatte den Namen niemals gehört. »Wieso mit Mortensen? Wer ist das?«
»Ein gefährlicher Verbrecher«, nickte der Inspektor. »Er und der kleine Farr geben …«
»Oh«, sagte Mabel erschrocken. »Meinen Sie den Grafen John Farr?«
In Nyströms Augen stieg ein Leuchten. »Hat er sich als Graf ausgegeben? Wie nett! Der andere – ich glaube er nannte sich Kielhausen oder so ähnlich …«
»Wahrscheinlich der Verwandte des Königs von Bayern …«
Nyström schüttelte sich. »Schrecklich!« stöhnte er. »Die beiden haben, scheint's, den ganzen Gotha geplündert, um sich in ein gewisses Licht zu setzen.« Dann setzte er plötzlich aufmerksam hinzu: »Sagen Sie – waren Sie mit dem … Farr nicht befreundet?«
Mabel lachte. »Nicht mehr.«
»Da danken Sie Gott. Das ist ein gefährlicher Mann.«
»Wirklich?« Das Mädchen schien einen Augenblick nachzudenken. »Sie haben scheinbar einen anderen Maßstab als ich. Aber ich bin angenehm überrascht, daß Sie mir das sagen.« Nach einer kleinen Pause, die der Erinnerung an John Farrs schüchterne Küsse gewidmet war. »Was glauben Sie – wann können wir hier heraus?«
»Wenig zu machen«, meinte der Detektiv traurig. »Ich habe mich bemüht, irgendeinen Ausgang zu finden, aber der Mann, der das gebaut hat, scheint damit gerechnet zu haben. Nicht die kleinste Möglichkeit, seine Kunst zu zeigen.«
Mabels Gedanken wandten sich wieder der Gegenwart zu. »Wir werden wohl lange hierbleiben müssen.«
»Schwer zu sagen. Sie hat man sicher hergebracht, um von Ihrem Vater ein Lösegeld zu erpressen.«
»Und Sie?«
Nyström machte eine Handbewegung wie ein Mann, der das Leben ausgekostet und es reich an Enttäuschungen gefunden hat.
Die Zeit schlich langsam dahin. Einmal schien es den beiden, als ginge jemand auf der Straße vorbei, und sie begannen zu rufen. Das Geräusch verklang und tiefe Stille senkte sich über die Gegend.
Mit Hilfe eines Stückes Papier und einiger Brotreste baute Nyström ein Spiel und sie beschäftigten sich bis gegen zehn Uhr. Dann wurde Mabel müde.
»Jetzt will ich schlafen«, sagte sie und stand auf. »Und Sie?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, will ich dasselbe tun.«
»Gut. Ich schlafe im Bett. Und Sie?«
»Am Boden«, sagte Nyström und verzog sein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse.
*
Denselben Abend war Christian seltsam unruhig. Das Wetter war stürmisch und ein weicher Regen hüllte alles in einen ungewissen Schleier.
Er saß mit Farr in seinem Zimmer und machte sich endlich bereit auszugehen.
»Kann ich mitkommen?« fragte der Junge harmlos.
Christian schüttelte den Kopf. »Nein. Die Wege, die ich gehe, sind nicht für dich …«
»Umsoweniger sollten Sie allein gehen.« Ehrliche Besorgnis klang aus Farrs Stimme.
»Du bleibst zu Hause.«
»Und wenn ich nicht will?« Es war das erstemal, daß sich Farr eine solche Äußerung erlaubte, und Christian hob erstaunt den Kopf.
Der Junge hatte seine Perücke und die Frauenkleider abgelegt und trug sein dunkles Sakko. Manchmal, wenn das Licht schräg auf ihn fiel, sah er wie ein kleiner, schmächtiger Schuljunge aus.
»Ausgeschlossen«, lachte Christian rasch besänftigt. Eine leise Wehmut schwang in seiner Stimme. »Du mußt bleiben. Wenn Nyström kommen sollte …«
»Den haben Sie doch – ausgeschaltet«, meinte der andere etwas verblüfft.
»Ja«, klang es ungeduldig zurück, »aber er kann sich freigemacht haben. Außerdem – sollte Ulla kommen …«
»Ulla …« Farrs Stimme klang in einen langen Seufzer aus und er ließ die Hände sinken. »Sie haben recht, ich bleibe hier …«
Christian nickte zufrieden; er zog den leichten Trenchcoat an und steckte einen geladenen Revolver in die Tasche.
»Falls mir etwas zustoßen sollte«, sagte er betont, »mußt du sobald als möglich verschwinden. Denn dann werden sie auch auf dich greifen.«
Einen Augenblick blieb er noch in der Tür stehen.
Dann wandte er sich rasch um und stieg die Treppe hinab.
Sekunden später folgte ihm Farr. Er huschte wie ein Schatten über die dunkle, nasse Riva und drückte sich eng an die Mauern. Der Wind war jetzt stärker geworden, und manchmal fuhr ein Stoß heulend und brüllend übers aufgepeitschte Wasser.
Die Straßen waren wie ausgestorben.
Knapp vor ihm ging Christian; er erkannte ihn am Gang. Einmal wandte sich der junge Mann spähend um; aber er hatte seine Absicht früher durch eine Schulterbewegung verraten und Farr versank in einer Nische wie ein Schwimmer im tiefen Wasser.
So gingen sie bis ans Ende der Mole. Dann kamen die Holzstapel und Christian verschwand hinter ihnen; der Wind verschlang jedes Geräusch und Farr konnte sich nicht einmal nach den Schritten orientieren. Einen Moment zögerte er; dann tauchte er in die Finsternis und tastete sich suchend fort. Das Holz, an das er griff, war naß und klebrig und er schauderte.
Plötzlich verstummte der Wind und Farr blieb stehen; instinktiv hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Manchmal haben sensible Menschen solche Gefühle.
Er überlegte eine Zeitlang. Dann ging er wieder weiter – und stieß mit der Hand gegen etwas Weiches, Nachgiebiges.
»Sind Sie's, Hoffmann?« Die Stimme ließ Farr erstarren. Er hatte das Empfinden, man müsse sein Herz schlagen hören.
Dann faßte er sich wieder und hauchte: »Ja – was ist's?«
»Er ist da …«
»Ahem.«
»Gehen Sie und sehen Sie, was vorgeht. Ich kann mich unter diesen Brettern nicht zurechtfinden.«
Ein Schauer überrann Farr; er hatte die Stimme Gil Strucks erkannt. Die kalte, herzlose Stimme, die ihn niederzwang und betäubte. Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er aufgeschrien.
»So gehen Sie schon …«
Und Farr ging. Weit im Süden stieg ein schweres Gewitter auf und es blitzte. Einmal flog ein heller Strahl über den Himmel und tauchte die umliegenden Gegenstände in farbloses Licht.
Langsam tastete sich Farr jetzt weiter; das einzige Bedürfnis, das er hatte, war, recht weit von Gil wegzukommen.
Zweimal bog er um Ecken … dann wieder ein greller Blitz, und im Schein sah Farr eine scheußliche Szene. Weit vor ihm lag Christian am Boden und horchte aufs Meer hinaus. Zwanzig Schritte hinter ihm kauerte ein kleiner, zottig aussehender Mann und neben ihm funkelte etwas.
Wie sich alles dann abgespielt hatte, wußte Farr später nicht mehr; es waren Instinkthandlungen gewesen, die er tat. Ausflüsse einer grenzenlosen, alles verzehrenden Angst.
Tief gebückt lief er um den Holzstoß herum und kam so Christian von der anderen Seite entgegen. In einem neuerlich aufflackernden Schein sah er, daß der Verfolger näher gekommen war. Dann ließ er sich zu Boden gleiten und griff mit einer Hand vor.
»Rasch, rasch«, flüsterte er fast unhörbar und begann an Christians Ärmel zu zerren. Und der junge Mann, geschult in tausend Gefahren, machte nicht die geringste Bewegung; er glitt unhörbar weiter, bog mit einem Satz um einen Holzstoß und folgte der kleinen dunklen Gestalt, die er mehr ahnte.
Als er an der Riva hielt, war Farr verschwunden.
Christian hatte nur ein warnendes, tonloses, »man lauert Ihnen auf« gehört, aber das war genug, um ihn zur höchsten Eile anzuspornen. Er eilte jetzt in großen Sätzen durch einige Quergassen und erreichte naß und verschwitzt seine Wohnung.
Farr öffnete die Tür und sah ihn prüfend an. Ein eigenartiges Lächeln lag um seinen Mund.
»Ich dachte, Sie würden die ganze Nacht ausbleiben«, sagte er.
»So?« Mehr sagte Christian nicht. Er wechselte die Kleidung ließ sich dann auf das Sofa nieder und begann zu rauchen.
*
Zur gleichen Zeit fast kamen Gil und Hoffmann in Jeffs Zimmer; sie waren naß und elender Laune. Gil schien nicht übel Lust zu haben, die ohnehin nicht sehr luxuriöse Einrichtung noch armseliger zu gestalten.
»Deine Vorwürfe«, sagte er wütend zu Jeff, »gefallen mir. Geh du hinaus und stell dich in dem Wetter hinter einen Holzstoß; nicht die Hand vor den Augen sieht man.«
»Es scheint genug hell gewesen zu sein«, höhnte Jeff, »daß er euch gesehen hat.«
»Wer wars eigentlich?« mengte sich Arnoldi ins Gespräch. Er hatte bisher der erregten Kontroverse der beiden Brüder mit sichtlichem Gefallen gelauscht.
»Weiß ich's?« Gil blähte seine Backen. »Irgendein Verräter. Ich habe die Gaunerzinken an der Mauer gelesen und kenne mich in solchen Dingen aus. Die Notiz lautet: genauere Nachrichten über Arnoldi. Neun Uhr zweiter Holzstapel links vom Italer.«
»Für wen war sie bestimmt?«
»Weiß ich nicht. Für irgendeinen, der uns auf der Spur ist und uns belauert wie der Teufel die Seele eines Frommen.«
Jeff verzog sein Gesicht. Er war sichtlich nervös. »Ich habe das Ganze für einen Scherz gehalten«, sagte er kläglich, »aber wenn ihr jemand gesehen habt.«
»Zwanzig Schritt vor mir«, sagte Hoffmann finster. »Noch ein Sprung und ich hätte ihn gehabt. Da ist jemand dazwischen gekommen. Ich habe eine schwarze Gestalt gesehen und dann war nichts mehr da.
»Also zwei«, stöhnte Jeff.
»Und wenn's drei oder zehn sind«, sagte Arnoldi ärgerlich, »ist's kein Unglück, Wo ist Mathiessen?«
»Er kommt um Mitternacht zurück.«
»Und – Johnson?«
»Er hat gegen fünf Uhr den Brief bekommen – und gelacht.«
»Was hast du geschrieben?«
Gil zuckte ärgerlich die Schultern. »Das alte Lied. Hunderttausend Dollars oder das Leben Ihrer Tochter und so weiter. Herrgott, diese dumme Fragerei!«
»Und was hat er gesagt?«
»Ich habe ihn an der Riva getroffen; er ist baden gegangen. Dann erzählte er vom Brief als wär's ein Spaß. Er meinte, der Teufel solle ihn holen, wenn er auch nur einen Cent hergäbe.«
Jeff schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich werde morgen hingehen und dem Mädel einen kurzfristigen Antrag stellen. Dann wird sie einen Brief an den Alten schreiben.«
Arnoldi rieb sich die Hände. »Die Sache ist nicht schlecht«, sagte er und kicherte.
»Schön und gut.« Gil stand langsam auf und warf einen finsteren Blick auf die anderen. »Aber wissen möchte ich, wer über uns Nachrichten haben will. Die Sache gefällt mir nicht.«
*
Der um Mitternacht ankommende Dampfer tanzte erregt auf den spitzen Wellen und kämpfte schwer gegen den Wind, der ihn beharrlich abtrieb.
Jeff und Gil waren allen Bewegungen des Schiffes aufmerksam gefolgt; sie standen am Ende der kurzen Mole und bohrten ihre neugierigen Augen in die Dunkelheit.
»Nichts«, sagte Jeff endlich erstaunt. »Nichts. Du lieber Gott, wo kann er hingekommen sein?«
Weit drüben legte um die gleiche Zeit ein kleines flinkes Motorboot an und eine dunkle Gestalt sprang ans Ufer. Sie musterte einen Augenblick die Umgebung, dann verschwand sie.
Nicht einmal Schritte waren zu hören.
Jeff und Gil hatten nichts davon bemerkt. Man sah kaum auf zwanzig Schritt.
»Wenn er Hoffmann sucht«, meinte Gil endlich leise, »ist's gut. Ich habe keine Sehnsucht, den Laffen zu sehen.«
»Wenn, wenn …« Der ewig skeptische Jeff stieß die Worte ärgerlich heraus. »Arbe ist so klein, daß er es in einer Stunde abgrasen konnte – und Hoffmann ist nicht leicht zu übersehen.«
»Was machen wir, wenn er nicht kommt?«
»Wenn er bis morgen nicht kommt? Hoffen wir dann zu Gott, daß er irgendwo ertrunken ist.«
Jeff und Gil gingen, schwer gegen den Sturm ankämpfend, zurück.
»Vielleicht«, meinte Gil und freute sich selbst über den Einfall, »war ihm das Wetter doch zu schlecht.«
»Unsinn. Mathiessen ist ein alter Seemann. Da ist was anderes dazwischen gekommen.«
»Zum Beispiel?«
Jeff wurde ungeduldig. »Was weiß ich … die Sache gefällt mir nicht. Irgendwo lauert eine Gefahr und man kann sie nicht fassen. Ob nicht wieder Nyström?«
»Ah – hör auf mit dem famosen Detektiv!«
Sie gingen schweigsam bis zum Hotel und stiegen die knarrende Treppe hinauf.
»Morgen warte ich noch«, sagte Jeff, ehe er ins Bett stieg, »und nicht eine Sekunde länger. Zahlt Johnson nicht, so können wir nichts tun als …«
»Ich verstehe«, nickte Gil und zog umständlich seine Pyjamas an.
Seltsamerweise wollte Mister Johnson auch am nächsten Tag nicht zahlen.
Zu Mittag bekam er einen Brief seiner Tochter, der ihn in die schrecklichste Wut versetzte. Er fluchte und wetterte wie ein Kapitän nach langer Fahrt; aber er gab auf den Brief keine Antwort.
*
Nyström hatte eine unruhige Nacht verbracht; einigemal war er aufgeschreckt und hatte gehorcht; dann nickte er wieder ein und träumte die ungeheuerlichsten Dinge.
Mabel schlief tief und fest.
Sie erwachte erst gegen neun Uhr und blinzelte einen Augenblick erstaunt, als sie die ungewohnte Umgebung sah; dann kam sie zu sich und nickte dem Inspektor freundlich zu.
»Und was wird heute sein?« fragte sie.
»Irgendeine Teufelei.«
Bis Mittag regte sich nichts. Dann kamen schwere Schritte den Berg herauf; aber es waren die Schritte mehrerer Männer – und Nyström kroch unters Bett. Wenn man ihn jetzt entdeckte war vielleicht alles verloren. Denn das eine wußte er sicher, daß die Leute, die Mabel Johnson hiehergebracht hatten, von seiner Anwesenheit nichts ahnten.
Die Tür flog auf und – Jeff Strucks trat ins Zimmer.
Ein schwitzender, aufgeregter Jeff.
Hinter ihm erschien das Galgengesicht Vinzenz Arnoldis.
»Sie?« sagte Mabel und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Sie halten mich hier gefangen?«
Jeff lächelte. Er glich einem grinsenden Faun. »Nicht gefangen, nur verwahrt.« Er versuchte, Mabel auf die Schulter zu klopfen, und fuhr ihr mit seiner klebrigen Hand über den Arm. Sie stieß ihn heftig zurück.
»Rühren Sie mich nicht an; was wollen Sie?«
Die Frage klang nach Geschäft, und Jeff übersah die schroffe und beleidigende Haltung des Mädchens. Er wurde sogar freundlich.
»Wir haben an Ihren Vater eine Forderung gestellt – leider hat er sie abgelehnt.«
»Wieviel haben Sie verlangt?« forschte Mabel neugierig.
»Hunderttausend Dollars.«
»Wenig. Ich hätte mich höher eingeschätzt.«
»Schön«, sagte Jeff kalt. »Wir können die Forderung erhöhen. Sind Sie mit dreihunderttausend zufrieden?«
»Das ist die richtige Summe.«
Jeff atmete tief. »Sie werden Ihrem Vater jetzt einen Brief schreiben und ihn bitten, die Summe sofort auszuzahlen. Im Augenblick, in dem wir das Geld haben, sind Sie frei …«
»Und wenn er nicht zahlt?« Mabel begann leicht zu zwinkern.
»Dann«, sagte Jeff grinsend, »werden wir stärkere Mittel gegen Sie anwenden. Sie verstehen …«
»Danke – keine Details. Geben Sie mir Papier und Bleistift.«
Sie setzte sich an den Tisch und schrieb einen Brief, der das helle Entzücken Jeffs wachrief.
»Wundervoll«, sagte er und schleckte seine dicken Lippen.
»Ganz ausgezeichnet. Haben Sie sonst noch welche Befehle?«
»Machen Sie die Tür von außen zu«, sagte Mabel herrisch. Nicht eine Spur von Angst war jetzt in ihrer Stimme.
Erst als die Schritte der Männer verklungen waren, kam Nyström aus seinem Versteck heraus. Er war sichtlich erregt. »Sie haben doch Ihrem Vater nicht wirklich geschrieben, daß er zahlen soll?« fragte er.
»Doch«, lachte das Mädchen. »Ich habe ihm einen – wie sagt man? – tragischen Brief geschrieben und mit ›Deine unglückliche Mabel‹ unterschrieben. Aber er wird nicht zahlen.«
»Aber wenn Sie ihm schreiben …«
Mabel lehnte sich leicht über den Tisch. »Wissen Sie, als Vater einmal … hm, in Geschäften in Texas war, haben wir eine geheime Korrespondenz besprochen. Er wird auch diesen Brief gleich verstehen.«
Nyström sah das Mädchen bewundernd an. »Sie sind, weiß Gott, die tapferste Frau, der ich in meinem Leben begegnet bin. Sie haben keine Angst?«
»Nicht, so lange Sie hier sind«, sagte Mabel einfach und ging auf ein anderes Thema über.