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4.

Die Hohenbrunner Straße, die nach Südosten zieht, durchquert eine landschaftlich ganz nette Gegend. Hinter Aying beginnt das Hügelland, und weit im Süden stehen die Ketten der österreichischen Alpen und bohren ihre Spitzen in den Himmel. Es ist angenehm, auf der Straße im Wagen dahinzugleiten und seine Gedanken in die Ferne flattern zu lassen, wenn die Sonne scheint und leichter Bodendunst über den Wäldern liegt.

Jeff und Gil hatten vorläufig keinen Sinn für die Schönheiten der ewigen Natur; nicht nur weil es Nacht war und man verschiedene Dinge nicht sehen konnte. Die Scheinwerfer ihres Wagens bissen sich in die Dunkelheit und der Motor sang sein eintöniges Lied; der Lenker vor ihnen kauerte im tiefen Sitz, und man sah von ihm nichts als die Kappe. Ein Zug rollte vorbei; aus dem Schlot der Lokomotive sprangen Funken, und die grell beleuchteten Fenster der langen Wagen huschten durch die Finsternis wie eine lange, bewegliche Perlenkette; auf Augenblicke übertönte das Donnern des Zuges die Arbeit des Motors. Es war jetzt ganz dunkel, nur die fahlen Sterne schimmerten vom Himmel und die weiße Straße zog sich wie ein achtlos hingeworfenes Band über die Wiesen, durch die Wälder und über die Hügel …

Beim Betreten ihrer Wohnung hatten die Brüder Strucks einen fürchterlichen Schreck bekommen – das Innere ihrer sonst so friedlichen Behausung hatte der Stadt Pompeji nach dem verderblichen Vulkanausbruch geglichen; dann waren sie ohne Überlegung Hals über Kopf geflüchtet; als kluge Leute wollten sie einer persönlichen Begegnung mit verschiedenen Menschen aus dem Wege gehen, die sich heimlicherweise ein Vergnügen daraus machten, ihre Wohnung zu zerstören.

»Der Kerl«, sagte Jeff nach einer längeren Gesprächspause und sog an seiner Zigarette, »hat wahrhaftig den Teufel im Leib. Ich hätte ihn nicht erkannt. – Weiß Gott wie er es fertig bringt, sich so zu verstellen.«

»Das einzige, was er kann«, knurrte Gil. Er war etwas rheumatisch und verabscheute nächtliche Autofahrten. »Durch sein System wird er dich noch an den Galgen bringen …«

»Quatsch, System. Ein kleiner Dieb, der anderen, größeren die Beute abjagen will.« Er sagte die Unwahrheit, denn innerlich hatte er gerade in dem Augenblick eine scheußliche Angst vor Christian; aber er hätte das niemals zugegeben.

»So? Bisher hat er dir ein Vermögen abgeknöpft …«

»Ein Drittel von dem, was ich ihm genommen …«

Gil zuckte die Achsel. »Gegen deinen Optimismus komme ich nicht auf. Wo willst du eigentlich hin?«

»Über Rosenheim nach Innsbruck; dann in die Schweiz.«

»Glaubst du, daß du dort den Wisch an den Mann bringst?«

»Wisch ist gut«, höhnte Jeff geärgert; »für den Wisch zahlt mir jede ernste Regierung eine Million Dollars. Verstehst du? Eine Million.«

»Erst mußt du einen Käufer finden«, meinte der skeptische Gil.

»Keine Angst – wird sich finden … nicht nur einer. Zufällig kenne ich einen Lord der britischen Admiralität. David O'Conell. Weißt du, wer das ist?«

»Nein«, sagte Gil etwas verschüchtert; die Worte seines Bruders begannen ihm zu imponieren. »Und – hat er gesagt, daß er kaufen will?«

»Natürlich«, log Jeff darauf los. »Er wollte sich jetzt keine Blöße geben.« Ich habe ihn im D-Zug nach München kennengelernt. Netter älterer Herr, der aus Privatvergnügen einen Scheck über eine Million Pfund Sterling in der Tasche herumträgt.« Er versank eine Weile in haltlosen Phantasien. Dann kam er in die Wirklichkeit zurück. »Alles hängt davon ab, daß wir diesem kalten Teufel, dem Mortensen, ausweichen. Kommt's zu einem Skandal, riskiert er nichts.«

»Und du alles – ich verstehe. – Im Notfall …« Er machte eine häßliche Handbewegung. Man sieht diese Bewegung öfters bei Mädchen, wenn sie Hühner umbringen.

Jeff lachte. »Das könnte nicht schaden«, sagte er herzlos.

Der Wagen umfuhr eine Ecke; unvermittelt tauchte ein kleiner Ort auf. Einer jener Orte, die täuschend an der Landstraße lauernden Menschen ähneln und harmlose Wanderer durch ihr plötzliches und lautloses Erscheinen erschrecken. Mitten auf der engen Straße schaukelte ein Heuwagen, und der Fahrer begann zu hupen. Irgendwo schlugen Hunde an.

»Wenn der nicht bald verschwindet«, sagte Gil, »wird uns der kalte Schuft bald einholen …«

Jeff schrak zusammen. Er hatte eben von einer kleinen hübschen Villa am Strand des blauen Meeres geträumt. Der Übergang war zu jäh – seine Unterlippe hing ihm mit einem Ausdruck hilflosen Entsetzens herab.

»Mortensen?« stöhnte er. »Herr des Himmels – schreck' mich nicht mit dem Menschen …«

Indem tat es einen langen Seufzer und der Wagen stand still. Knapp neben einem niederen Haus, in dessen Fenstern sich die Scheinwerfer spiegelten.

»Panne«, sagte der Fahrer und stieg mit steifen Beinen über die Wagenwand. »Wahrscheinlich a verdreckte Kerzen …«

»Sie müssen sich beeilen«, sagte Jeff jetzt wirklich erregt. »Wir versäumen sonst den Anschluß …«

Der bedächtige Fahrer ließ eine kleine Pause verstreichen, ehe er antwortete. Nach seinen Gesten zu urteilen, hätte die Antwort anders lauten müssen: »So kann i ja eh net fahren.«

»Glaubst du, daß Mortensen hinter uns her ist?« fragte Jeff nervös.

Die Ausbesserung des Motors schien sich in die Länge zu ziehen; es verging nahezu eine Stunde, ehe der Wagen ansprang und eine Skala donnernder Explosionen zum Besten gab.

»Jetzt wird's gehen …« meinte der Fahrer und spuckte kräftig aus.

Zwei große starre Lichter schoben sich lautlos heran; ein breiter brauner Wagen trat unvermittelt ins Licht. Christian sprang mit einem Satz auf die Straße; er kam mit langen Schritten nach vorne. In seiner rechten Hand funkelte matt eine Pistole.

»Sie scheinen Pech zu haben«, sagte er freundlich, »aber es ist mir nicht unangenehm – Hände hoch, Gil … Hände hoch, sonst … Sie dürfen nicht das gleiche Manöver versuchen wie damals in Suez. Sie sind ein Dummkopf, Jeff, daß Sie sich solchen Fahrzeugen anvertrauen …« Eine Pause folgte; der Fahrer stand, beide Arme erhoben, neben der Haube. Das ungewiß glitzernde Ding, das Christian in der Hand hielt, machte ihm Angst.

Endlich stieß Gil heraus: »Was wollen Sie? Das ist ärger als Straßenräuberei …«

»Oh – keine solchen Bemerkungen, Gil; vergessen Sie nicht, daß Sie die englische Kolonialpolizei seit vier Jahren sucht. Ich will Sie auch nicht aufhalten, denn Ihr bloßer Anblick kann einen anständigen Charakter verderben. Geben Sie den Vertrag heraus, Jeff.«

Jeff Strucks' Augen quollen aus ihren Höhlen; seine erhobenen Hände begannen zu schwanken. »Ich will verdammt sein …«, keuchte er.

»Sie werden verdammt sein, wenn Sie ihn nicht herausgeben. – Los, Jeff!«

»Nein.«

Christians Gesicht nahm einen leicht gespannten Ausdruck an. »Ich fordere Sie nochmals auf, Jeff. Machen Sie keinen Unsinn; wir sind hier auf der Landstraße und die Grenze ist keine Stunde entfernt. Nehmen Sie das Zeug heraus und legen Sie's auf den Wagen da.«

»Mortensen«, zischte Gil wütend, »gehen Sie und …«

»Kein Wort mehr! – Farr …«

Farr trat ins Licht.

»Nimm die Pistole und halte sie auf den Herrn da –«, er zeigte auf Gil, »bei der geringsten Bewegung schießt du. Verstanden?«

»Vollkommen«, sagte Farr und bemühte sich vergebens, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen.

In dem Augenblick senkte Jeff eine Hand, riß seine Soutane auf und warf ein großes, braunes Kuvert auf die Straße; es fiel gerade vor die Füße Christians, der es blitzschnell aufhob. Ein flüchtiger Blick …

»Danke, Jeff. Ich dachte mir, daß Sie so vernünftig. sein würden.« …

»Wir treffen uns noch«, zischte Gil.

»Ah – was Sie nicht sagen …«

Zwei neue Männer schoben sich plötzlich in den knappen Lichtkreis; zwei herkulisch gebaute Männer in kurzen Hosen und Kniestrümpfen; auf den Köpfen hatten sie grüne Hüte und in den Händen kurze Jagdgewehre.

Sie musterten mißtrauisch die Gruppe; der Fahrer, der noch immer die Hände hoch hielt, erregte ihr Interesse.

»Was is denn da los?«

Christian faßte sich sofort; das waren zweifelsohne Flurwächter.

»Eine kleine Unterhaltung, meine Herren«, sagte er freundlich, »hat weiter nichts zu bedeuten.« Er warf einen raschen Seitenblick auf Farr und sah mit Befriedigung, daß dieser die Pistole bereits eingesteckt hatte.

Jeff schrie dazwischen: »Dieser Mann hat einen Brief, der mir gehört …«

»Jawohl«, fiel Mortensen ein. »Der Brief ist dem Herrn während der Fahrt davongeflogen, und ich war so glücklich, ihn zu finden.« Er machte einige rasche Schritte auf Jeff zu und reichte ihm das braune Kuvert. »So mein Herr … Finderlohn beanspruche ich keinen, wir sind ja Kavaliere unter uns – auf Wiedersehen meine Herren!« Er ging mit Farr etwas rascher, als es der harmlosen Deutung entsprach, zum Wagen. »Grüß Gott zum Gruße«, winkte er den beiden Flurwächtern zu und sauste davon.

Den Fluch, den er darnach murmelte, hörten sie nicht.

*

»Rosenheim«, las Christian im Morgengrauen. »Rosenheim.« Der schwarze Wagen der Brüder Strucks war knapp früher vor ihm in einer Staubwolke verschwunden und er schüttelte den Kopf. »Sie haben in der Eile die falsche Straße genommen …«

»An was denken Sie?« fragte der genaue Farr.

»Wenn sie bei Aibling abgebogen wären«, sagte Christian, »wären sie auf die Kufsteiner Straße gekommen. Dieser Weg führt nach Freilassing und Salzburg.«

»Umso besser«, meinte Farr ohne zu denken.

Weit drüben, bei Prütting, jagte das Münchener Taxi über die lange weiße Straße; es donnerte in einer großen Staubwolke dahin und schreckte ruhige Menschen aus tiefem traumlosen Schlaf. Der glitzernde Spiegel des Chiemsees sprang auf und verschwand. Wälder flogen heran und verschwanden. Die Telegraphenstangen glichen einer großen, surrenden Schnur.

Im unverminderten Tempo wurde Traunstein durchfahren, und die Berge wurden höher; dreißig Kilometer hinter ihnen fuhr Christian wie die rächende Nemesis. Farr kauerte im tiefen Sitz und sein kleines Gesicht war von der scharfen Morgenluft gerötet.

Als sie in Freilassing einfuhren, kam ihnen der Münchener entgegen und blickte sie bös an. Irgendwo hatte er seine beiden Insassen abgesetzt und ein Ausfragen wäre zwecklos gewesen; die ganze massige Gestalt des Chauffeurs atmete geradezu Unhöflichkeit.

»Ich«, sagte Farr nachdenklich und hob einen kleinen Finger an die Nase, »würde sie laufen lassen und einfach zurückfahren.«

»Und ich«, sagte Christian ärgerlich, »werde ihnen folgen und sollten sie nach Afrika gehen.«

»Das ist sehr verwerflich«, meinte Farr und blickte seinen Herrn unmutig an.

»Hinter uns«, sagte Christian, »kommt Nyström. Wenn du Lust hast, kannst du ihn hier erwarten und ihm Näheres mitteilen.«

»Und Sie?«

»Ich fahre weiter.«

»Sie werden mich sicher brauchen«, nickte Farr und kam nicht mehr auf die Sache zu sprechen.

Eine Stunde später passierten sie anstandslos die Grenze; neun Stunden später waren sie in Wien.

Das Dreieck hatte sich auseinandergezogen: Jeff und Gil saßen im Hotel Bristol; Christian und Farr im Hotel Imperial; Axel Nyström durchfuhr um die gleiche Zeit Salzburg. Er hatte erst zu Mittag des nächsten Tages Nachrichten über Christian und seinen Diener bekommen. Der Überbringer war niemand anderer als der biedere Münchener Chauffeur gewesen.

»Wie die Wilden«, sagte er in seiner temperamentvollen Art zum Inspektor. »Wie die Wilden. Nix als Hände hoch und mit die Revolver herumg'fuchtelt …« In der Eile erzählte er noch etliche Kleinigkeiten, die seinen eigenen Mut und die Niedertracht seiner Feinde ins rechte Licht setzen sollten; er beschrieb Kostbarkeiten, welche die Verbrecher den beiden armen Fahrgästen, die sich ihm anvertraut hatten, genommen, und machte zum Schluß etliche recht treffende Bemerkungen über die Ortspolizei eines unbekannten bayrischen Ortes.

Aber alles zusammen bestimmte Nyström, schleunigst aufzubrechen und die bereits verloren gegangene Spur wieder aufzunehmen.

In Freilassing erfuhr er Details. In Salzburg bekam er romantische Geschichten zu hören; und je näher er an Wien kam, umso schrecklicher erschienen ihm Christian und sein Begleiter.

Die ganze Sache hatte sich infolge verschiedener Kleinigkeiten maßlos zugespitzt.


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