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Zweites Kapitel

Der Messerschmied Ulrich nämlich stand auf. Er stand auf und trat auf den Lehrer zu. Sein Kinn und sein grauer Bart, der lang und schmal war und Ähnlichkeit hatte mit einem Zopfe, fingen an zu zittern, noch ehe er zu sprechen begann.

»Herr!« sagte er dann. »Herr!« sagte er dann. »Herr! Ich sage, Sie haben – Herr! – Sie gehörten früher einem Stande an, einem gebildeten Stande – ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten! Nein! Sie haben sich – erfrecht – jawohl, erfrecht, die mir teuern Toten auf dem Gottesacker zu bespei – bespeien, jawohl! – Aber nicht genug damit – Sie haben sich erfrecht, die Religion und ihre Priester zu verhöhnen. Das ist mir zuviel!« Der Lehrer lächelte gutmütig, und der Messerschmied schöpfte tief Atem, wurde blaß und wiederholte einigemal keuchend: »Das ist mir zuviel!« Und sein Bart zitterte.

Der Lehrer winkte nachlässig mit der Hand und sagte mit ruhigem Lächeln und gutmütigen Augen hinter den Brillengläsern: »Beruhigen Sie sich doch, Verehrtester! Sie können sich in Ihrer Gesundheit schädigen.«

Jedoch der Messerschmied Ulrich gehörte dem Stadtrat an und war überhaupt ein Mann, der keinen Spaß verstand.

»Wie?« schrie er pfeifend. »Wissen Sie auch, mit wem – mit wem – Sie sprechen? Und erinnern Sie sich vielleicht, was Sie, wer Sie eigentlich sind?«

Der Lehrer lächelte und sein gleichsam von einem braunen Firnis überzogenes Gesicht nahm einen gütigen, väterlichen Ausdruck an. Seine Augen waren von verschiedener Größe, das größere betrachtete erstaunt den Messerschmied, das kleinere lachte ihn lustig an.

»Fragen Sie mich, junger Mann?« sagte er endlich.

»Junger –!«

»Ich sage vergleichsweise: junger Mann,« fuhr der Lehrer fort, »denn Sie sind ja mir gegenüber noch sehr jung, eine Art Säugling, möchte ich sagen, ja, noch ungeboren – in der Tat! Ich meine, ob Sie mich fragen?«

»Ob ich Sie frage?« antwortete der Messerschmied und seine Stimme zitterte, als ob ihn jemand unausgesetzt auf den Rücken klopfe. »Ja, gewiß, ich frage Sie! Ich möchte das zu gerne wissen!«

Der Lehrer kämmte mit der Hand den langen, knisternden, schwarzen Bart und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich nun fragen – und Sie fragen mich doch, nicht wahr? – so kann ich Ihnen wohl antworten, aber es tut mir leid für Sie, denn ich sage keine Schmeichelei: Sie sind eine Art Scherenschleifer und ich bin ein Edelmann!«

Es wurde ganz still und man hörte die Räder auf den Schienen stampfen. Der jüdische Händler gluckste leise.

Der Messerschmied tat zuerst gar nichts. Es schien, als ob er nichts gehört habe. Dann schüttelte er die Schultern, als sei ihm der Rock unbequem, er schnitt eine Grimasse, zischelte und plötzlich verbeugte er sich tief vor dem Lehrer. Er lachte meckernd und sagte mit wütender, zitternder Stimme:

»Gut! Sie mögen im Recht sein, Herr Edelmann – mein Herr Edelmann. Sie mögen zehnmal im Recht sein – aber, wenn Sie ein Edelmann sind – was hier von all diesen Herren niemand bezweifelt – ach, nein, nein, niemand bezweifelt es – ach, du gütiger Himmel, nein, nein! – so werden Sie gefälligst, Herr Edelmann, zuvor Ihre Schulden bezahlen. Nicht wahr, Sie werden zuvor Ihre Schulden bezahlen, mein Herr Edelmann. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie mir seit sechs Jahren – seit sechs Jahren! – neun Mark und fünfzig Pfennig schuldig sind! Bitte! Ich weiß nicht, wo Ihr Schloß liegt oder Ihr Besitztum – also, bitte sehr, bitte!«

Gelächter. Er streckte die bebende Hand hin und musterte mit übertrieben spöttischer Miene den Lehrer vom Kopf bis zum Fuße. Der Lehrer war ohne Kragen, ein Tuch war um seinen braunen Hals geschlungen. Wie sein Gesicht, so war seine ganze Kleidung verwettert und verwildert, seine Schuhe klafften und man sah die nackten Füße, die Ärmel waren an vielen Stellen zerrissen und mit unordentlichen Stichen zusammengenäht.

Der Lehrer blickte mitleidig lächelnd auf die bebende Hand des Messerschmieds und schüttelte den haarigen Kopf. »Ist das Ihr Ernst?« fragte er voller Bedauern, im tiefsten Baß.

»Ja – hähä – das ist mein Ernst!«

»Wie leid es mir tut, daß Sie sich so in meine Hände liefern, mein Herr!« sagte der Lehrer. »Aufrichtig gestanden, ja! Wie niedrig Sie doch denken, Geld, Schulden und dergleichen Geschichten mit dem Begriffe Edelmann in Verbindung zu bringen? Edelmann, mein Herr, das ist Noblesse, Weltgefühl, Kraft, Genialität – Dinge, von denen Sie noch gar nichts gehört haben, nicht mehr als ein Hering vom süßen Wasser. Aber nun hören Sie: Ich bezahle nie, nie mit Geld. Ich bezahle mit Liebenswürdigkeit, Geist, Humor.«

»Bitte, bitte!« heulte der Messerschmied und schüttelte die Hand.

»– eine Münze, die für Sie gar nicht existiert, leider. Ich habe die halbe Welt durchwandert, ohne zu bezahlen, Tatsache! Ich habe tausend Freunde in der Welt, Edelleute, Fürsten – ich bringe Glück und frohen Sinn in jedes Haus – man empfängt mich mit Freuden, man entläßt mich mit Tränen in den Augen – ich kann den ganzen Heine, Schiller, Goethe und Shakespeare auswendig, jede Szene, die die Herrschaften nur immer wünschen – wollen Sie eine Probe? – Nun, wollen Sie eine Probe – he! Und nun Sie, ein geborener Scherenschleifer, der alle Schaltjahre einen Gedanken hat, eine krankhaft zur Menschenähnlichkeit aufgeblähte Blase, ein alter Hanswurst, der dreißigtausend Siriusfernen abseits aller Kultur geboren ist –«

»Bitte, bitte!« heulte der Messerschmied unaufhörlich und schüttelte die ausgestreckte Hand, daß seine Gummimanschetten rasselten. Alles lachte, weniger oder mehr ungeniert, je nachdem man in freundschaftlicher Beziehung zu dem Magistratsrat stand. Aus dem Lachen des Viehhändlers hörte man die aufrichtige Freude eines fetten Menschen heraus.

Der Lehrer aber stand ruhig wie ein Turm inmitten des Gelächters, mit seinem verwilderten schwarzen Kopf, seinem nußbraunen Gesicht, seinen kindlichen gütigen Augen, und deklamierte lächelnd und in aller Ruhe mit einer solch tiefen Stimme, wie man sie noch nie gehört hatte.

»Aha, ich sehe schon, Sie bestehen auf Bezahlung!« sagte er endlich. »Ich habe nun zwar keinen Pfennig in der Tasche, arm wie eine nackte, junge Ratte bin ich – ich werde Sie trotzdem bezahlen, hier im Augenblick werde ich Sie bezahlen, in diese Hand, Sie sollen sehen, Sie kostbare Versteinerung, teuerste Essenz der bürgerlichen Gesellschaft, Aushängeschild der Krämergilde, Sie werden es erleben, daß ich Sie bezahle. Ehe Sie sich auch nur den Geruch Ihrer Lieblingsspeise vorstellen können, wird das Geld auf Ihrer Hand liegen. Es ist Ihnen doch einerlei, woher ich es nehme?«

»Bezahlen, bezahlen, Herr Edelmann!«

»Gut! Wieviel, sagten Sie? Neun Mark und fünfzig Pfennig, wenn ich richtig hörte, nicht wahr? Schön. Sofort. Ich habe zwar keinen Heller in der Tasche – aber sofort.« Er wandte sich an die Anwesenden. »Wer ist so freundlich, mir sofort neun Mark fünfzig Pfennig zu schenken – zu schenken?« fragte er und verneigte sich.

Gelächter. »Bitte, bitte!« wiederholte der Messerschmied, der sich dem Siege nahe wußte.

»Seine Münze ist außer Kurs!« sagte der Viehhändler. »Hat er nicht selbst gesagt, daß er niemals bezahlt?«

»Schenken, schenken – meine Herrn?«

»Bitte, bitte!« triumphierte der Messerschmied. »Sie großes Maul von einem Edelmann – Sie Vagabond von einem Edelmann (er sagte Vagabond), bezahlen Sie, haha – so etwas von – haha.«

»Geduld!« sagte der Lehrer. »Sofort werde ich Sie befriedigen, verehrter Herr!« Er musterte spöttisch die Gesellschaft und zog mit der Hand den schwarzen Bart herab, so daß seine roten Lippen zum Vorschein kamen. Sie sahen aus, als pfeife er. Er rief über die Scheidewand ins Nebenabteil hinüber – »neun Mark und fünfzig – schenken!« Aber man lachte und sagte ihm Schmeicheleien.

»– so etwas von einem großen Maul von einem Edelmann – haha!«

Der Lehrer lächelte, er verlor nicht die Fassung. Er zuckte bedauernd die Schultern und sagte: »Aus Kieselsteinen läßt sich kein Likör abziehen, ich hätte das wissen sollen. – Aber Geduld, Edler, wenn ich nicht sofort bezahle, so sollen Sie sagen, ich sei eine Null, ein Loch, eine Einbildung, ein eingesessener Bürger.« Damit wandte er sich an den jungen Mann, der in der Ecke schlief.

Der junge Mann saß mit geschlossenen Augen. Die Lippen halb geöffnet, den Hut auf den Knien, genau so wie er sich nach seinem Eintritt gesetzt hatte. Er hatte dunkelbraunes weiches Haar, eine hohe Stirne, die weit über die Augen vorsprang, sein Gesicht war fein, mager und lang, ohne Bart und von jener weißlichen Hautfarbe, wie man sie oft bei Rothaarigen findet. Sein Mund war knabenhaft und rot.

Der Lehrer näherte sich ihm und berührte seinen Arm mit der Fingerspitze.

Sofort schlug der Fremde die Augen auf, braune, sanfte Augen; nun sah sein Gesicht auffallend schön und strahlend aus.

Der Lehrer verbeugte sich und wiederholte seine Bitte: »neun Mark und fünfzig Pfennig, sofort. Wenn es dem Herrn möglich sein sollte.«

Gelächter.

Aber nun ereignete sich etwas, was alle verblüffte, nur den Lehrer nicht. Der Fremde lächelte, richtete sich ein wenig auf und griff in die Tasche und klimperte mit Geld. Es reichte nicht. Er errötete leicht, griff nach dem gestickten Reisesack und öffnete ihn, tauchte mit der langen Hand hinein und zog ein Taschentuch mit einem Knoten heraus. Den Knoten öffnete er und es fand sich ein zusammengefaltetes Stück Papier darin Diesem Papier entnahm er ein kleines Goldstück und gab es dem Lehrer.

»Danke!« sagte der Lehrer und verbeugte sich. Er wandte sich an den Messerschmied. »Sie sehen, daß es noch immer Edelleute auf der Welt gibt. Bitte, Herr Messerschmied Ulrich!«

Alle saßen mit aufgerissenen Mäulern und Augen und begannen erst zu lachen, als der Messerschmied, der einen Augenblick nicht wußte, was er tun sollte, das Goldstück einsteckte und fünfzig Pfennig zurückgab. Diese fünfzig Pfennig überreichte der Lehrer dem Fremden, der sofort wieder die Augen schloß und sich in die Ecke zurücklegte.

In der letzten Station – Stadt Weinberg – stieg ein Herr mit glänzendem Zylinder und schwarzem gewichsten Schnurrbart ein. Adjunkt Kaiser grüßte und rückte höflich zur Seite. Das Gespräch stockte. Dann wandte sich der Viehhändler an den Herrn mit dem glänzenden Seidenhut.

»Verzeihen Sie mir die Kühnheit;« sagte er mit schmeichlerischer Stimme. »Können Sie mir vielleicht Auskunft geben, ob man dieses Dienstmädchen, diese Selbstmörderin, kirchlich beerdigen wird oder nicht?«

Der Herr mit dem Seidenhut legte die Stirne in Falten und sagte kühl: »Nein – soviel mir bekannt ist – hat das Dekanat von einer Einsegnung Abstand genommen.«

Er zog ein Notizbuch heraus und blätterte darin, um weitere Fragen abzuschneiden.

Der Händler verneigte sich. »Danke!« Und er flüsterte den andern zu: »Nein, nein.«

Der Schuhmachermeister nickte resigniert mit dem Kopfe und bot allen eine Prise an.

Der Zug verlangsamte die Fahrt und schließlich schlief er ein und regte sich nicht mehr. Als man hinaus sah, fand es sich, daß man weit draußen vor der Station stehen geblieben war. Man war angekommen. Der erste, der ausstieg, war der Herr im Zylinder, alle ließen ihm den Vortritt. Zuletzt stieg der Fremde mit dem gestickten Reisesack aus.

Es war düster und kalt; nur wenige Laternen brannten in der kleinen Station, die ganz im Schnee versank.


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