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Elftes Kapitel

Schon am nächsten Tage machte sich Grau auf den Weg, die Lehrersfrau zu besuchen, bei der Eisenhuts Mutter wohnte. Es traf sich so günstig, daß er von dem Lehrer zu einem Besuche aufgefordert worden war.

Es war kalt, aber die helle Sonne schmolz den Schnee auf den Dächern und wo man ging, fielen einem langsame schwere Tropfen auf die Hand, den Hut, die Schultern. Vor allen Häusern waren Kinder, Frauen und Männer beschäftigt, das Eis aufzuhacken; in der ganzen Stadt hackte und pickte es lustig. Ein heller gleichmäßiger Lärm erfüllte die Straßen, fast wie ein Singen. Und unwillkürlich begann Graus Herz mitzuklingen. Im ersten Stocke eines schönen alten Hauses blitzte ein Fensterspiegel und das war wie ein Winken, ein Grüßen und durchfuhr ihn wie ein Gruß des Lichtes von weither. Vor einer Schmiede stand ein Schimmel und Grau sah ihm einen Augenblick lang in die großen Augen, die wie zwei schwarze Zauberspiegel glänzten. Er streichelte die Schnauze des Pferdes und flüsterte ihm ins Ohr und der Schimmel wandte sich nach ihm um, als ob er verstanden habe.

Die Straße machte eine Biegung und tauchte vollständig in Sonne. Die Sonne blitzte in allen Fenstern, in all den Picken und Äxten, in all den Tropfen, die langsam und schwer von den Dächern fielen.

Grau suchte sich seinen Weg zwischen den arbeitenden Leuten; er hatte eine eigentümliche Art sie anzusehen, ihnen zuzulächeln und in die Augen zu blicken. Was ist doch so sonderbar an den Menschenaugen, jener Schein, frage ich? Nun, sie haben alle Sonne, Mond und Sterne im Blut, das ist jener Schein, nicht wahr? Aber was ist doch jenes Leuchten in den Menschenaugen, jenes besondere Leuchten?

Grau nickte den kleinen Knirpsen zu, die arbeiteten, daß sie schwitzten, und als ein junges Mädchen mit halboffenem Munde an ihm vorüberging, starrte er das Mädchen beinahe erschrocken an. Das Mädchen knickste hastig und wurde rot. Ja, dachte Grau, etwas Schönes ist ein junges Mädchen, ob es nun Sommer oder Winter ist; die Vögel, die Blüten, Kinder und junge Mädchen, das ist alles ein und dieselbe Sache.

Er blickte dem jungen Ding nach und wäre beinahe überfahren worden. Ein Jagdwagen fuhr rasch daher, der junge Freiherr von Hennenbach kutschierte.

Grau durchschritt den Torturm. Es war ein schöner Tag heute, das mußte man sagen! Er atmete die frische Luft ein und fühlte wie seine Augen klarer und sein Geist freier wurden. Es ist ja nur die Luft, dachte er, großer Gott im Himmel, nur die Luft, nichts als die Luft, die Vögel atmen sie, die Bäume und Menschen, aber was ist sie doch? Er blickte in die Höhe, da glitzerte die Luft als sei sie aus kristallhellen Sternen gebildet. Die Bäume der Allee streckten ihre Äste zitternd in diese helle, sonnige Luft empor.

Vor seinen Blicken breitete sich die weiße, weite Ebene aus. In ihrer Mitte lag der vom Rauch geschwärzte kleine Bahnhof und aus einer Lokomotive, nicht größer als ein Kinderspielzeug, stieg feiner brauner Rauch empor. Der Schnee lag unberührt auf den Feldern, nur da und dort hatte der Wind mit ihm gespielt, ein Feld klippiger kleiner Berge gebaut oder Wellen und Schleifen in ihn gezeichnet. Er lag weithin wie schimmernder weißer Samt, auf dem es glitzerte, als sei der Samt mit Brillanten bestickt. In der Ferne sah es aus, als beginne der Schnee zu brennen, farbige Feuerchen bewegten sich auf ihm hin und her; lichtes Grün, feuriges Rosa, Schwefelgelb.

Auf der Straße gingen drei junge Mädchen und ein hagerer, etwas schiefschultriger Mann, der ein Bündel Schlittschuhe trug. Sie hatten es nicht eilig und gingen ganz langsam. Die Mädchen sprachen und lachten mit klingenden Stimmen und der schiefschultrige Mann, der in einem gelben abgetragenen Überzieher steckte, ein rotbraunes Halstuch und einen kleinen spitzen Hut trug, meckerte dazwischen und sprach in hastigen, abgerissenen Sätzen.

Zwei der Mädchen gingen Arm in Arm und waren ganz gleich gekleidet, ihre Haare waren von schlichtem deutschen Blond, auch ihr Gang war der gleiche; sie gingen beide als schritten sie auf einem Seil. Offenbar waren es Schwestern. Das Mädchen, das an ihrer Seite schritt, war etwas größer, freier in allen Bewegungen; sie trug den Kopf wie ein stolzes Tier im Walde. Sie war gekleidet in ein langes flottes Jackett aus seidenhaarigem Pelz, eine kleine Pelzmütze saß auf dem auffallend reichen, schwarzen Haar, das in einen lockeren Knoten gebunden war. Ein dünner gelber Schleier floß um die Pelzmütze herum und flatterte lustig im Winde.

Grau sah wie sie sich dahin bewegten und etwas in der Art ihrer Bewegung ergriff ihn nahezu bis zu Tränen. Sie gingen mit der Seele der Frau, mit der schwebenden, wehenden Seele der Frau, die in die Weite strebt, wartet, späht, lockt und hofft. Der Mann an ihrer Seite dagegen ging nicht, er schlich. Seine Seele war zusammengedrängt, gefesselt, er blickte in sich hinein, er war beschäftigt mit sich selbst, ob er auch plauderte und lachte.

Grau holte die Gesellschaft ein und da der Weg nur zum Teil vom Schnee freigemacht war, mußte er sich hinter ihr halten. Er hörte, was sie sagten.

»Haben Sie die Geschichte von dem Manne gehört, der von der Doktorkutsche auf der Straße gefunden wurde, nachts, im Schnee?« wandte sich das Mädchen mit den schwarzen Haaren an den Mann, der die Schlittschuhe trug. Sie sprach scharf, mit einem kaum hörbaren fremden Akzent.

»Adele!« sagten die Schwestern leise und lächelten.

Der Mann mit den Schlittschuhen lachte meckernd. »Jä,« sagte er, »ich habe diese Geschichte gehört, natürlicherweise habe ich sie gehört – am andern Tag – aber ich kann schwören –«

»Schwören Sie besser nicht!« fuhr das Mädchen fort. »Wie leicht hätten Sie im Schnee erfrieren können.«

»Jä, wie leicht hätte ich im Schnee erfrieren können!«

»Sie sollten sich schämen, ich an Ihrer Stelle würde mich schämen.«

»Gewiß, Sie, ja Sie würden sich schämen, Fräulein von Hennenbach.«

»Sie ruinieren sich auch. Sie sind ein ganz origineller Mann, aber vollständig verwahrlost. Vielleicht sind Sie auch nur originell, weil Sie verwahrlost sind.«

Der junge Mann mit dem spitzen Hut lachte. »Wie geistreich!« sagte er und lüftete ein wenig den Hut, indem er ihn bei der Spitze mit zwei Fingern anfaßte und in die Höhe hob. »Wie geistreich!« meckerte er. »Wie geistreich!«

»Es ist nichts mit Ihnen anzufangen!« sagte kühl das junge Mädchen und wandte sich den Freundinnen zu.

Eine Weile blieb es still, dann begann sie von neuem: »Lassen Sie sich’s gesagt sein,« sagte sie, »daß ich meinem Bruder nicht mehr erlaube, Sie zu besuchen. Sie treiben es zu toll bei Ihren Gelagen. Das ist ja die reinste Lasterhöhle. Vier Nächte nacheinander hat er mit Ihnen durchgezecht. Es wird auch Hasard gespielt, nicht wahr? Heute nacht hat er zweihundert Mark dabei verloren.«

»Was hat er verloren?«

»Zweihundert Mark. Er hat sie heute von mir verlangt. Weiß Gott, es ist unrecht von Ihnen. Natürlich muß er bezahlen, wenn er sein Ehrenwort gegeben hat, aber es ist eine Sünde von Ihnen, er ist noch so jung.«

Der schiefschultrige Mann lachte laut heraus. »Aber es ist ja keine Silbe wahr von all dem, was Sie da sagen!« rief er. »Keine Silbe, nicht eine einzige Silbe! Er war eine ganze Woche nicht bei mir, kein Mensch war bei mir. Wie kann er da zweihundert Mark verloren haben, wie denn? Ich habe nicht mit ihm gespielt, das schwöre ich Ihnen!«

»Schon gut! Sie werden es ja nicht eingestehen, Sie werden es leugnen. Das ist selbstverständlich. Ich werde Ihnen aber die Polizei ins Haus schicken, mein Herr! Daß Sie es nur wissen. So wahr ich hier gehe, das werde ich tun. Es ist Ihnen doch bekannt, daß Hasard polizeilich verboten ist, nicht wahr?«

Der Mann rasselte mit den Schlittschuhen, warf dem Mädchen einen bösen Blick zu, aber dann lachte er wieder. »Was Sie nicht sagen?« rief er aus. »Ich bekümmere mich nicht um die Polizei. Sehen Sie, ich stecke jedem eine Flasche Wein in die Tasche und dann gehen sie wieder. Übrigens, Fräulein von Hennenbach, hat gerade Ihr Herr Bruder das Spiel eingeführt. Er brachte es von Monte Carlo mit.«

Es blieb einen Augenblick still, dann erwiderte das Mädchen: »Er war ja nie in seinem Leben in Monte Carlo, niemals!«

»Also hat er auch keine hundertundfünfzigtausend Mark dort verloren, wie? Also lügt er?«

»Er macht sich einfach lustig über Sie, das ist alles!«

Der junge Mann nahm den Hut ab und verbeugte sich. Er lachte.

»Herr von Hennenbach lügt nicht!« rief er aus. »Herr von Hennenbach machen sich einfach lustig. Er macht sich lustig, ja, das muß man sagen, er lügt nicht, er macht sich lustig. Er sagt, er habe zweihundert Mark im Spiel verloren und er hat drei Tage vorher mich um genau zweihundert Mark gebeten, da er sie brauche. Ich habe sie ihm aber abgeschlagen – rundweg – ich gebe nichts mehr, keinen Pfennig, ich habe die schlimmsten Erfahrungen gemacht in der letzten Zeit!«

Grau watete nun durch den Schnee und beschrieb einen weiten Bogen um die Gesellschaft. Hinter ihm meckerte der junge Mann, er räusperte sich und rasselte mit den Schlittschuhen.

»Aber, nein!« sagten die Schwestern vorwurfsvoll, und die junge Dame fügte in scharfem Tone hinzu: »Was denken Sie doch –?«

Doch der junge Mann lachte nur. Er sagte laut: »Alle Welt macht sich über mich lustig – ergo – weshalb soll ich mich denn nicht auch ein wenig lustig machen, wenn es mir einfällt! Wie? Bin ich etwas andres vielleicht als die andern Menschen? Ich erlaube mir das zu fragen! Man soll sich nur ein wenig in acht nehmen vor mir. Ich könnte eines schönen Tages einen Skandal heraufbeschwören und das wäre manchen Leuten nicht angenehm, nein!« Er meckerte, aber er schien zornig zu sein.

»Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch!« sagte eine der Schwestern.

Fräulein von Hennenbach aber sagte kurz: »Tun Sie doch, was Sie nicht lassen können, aber lassen Sie mich mit Ihren Anspielungen gefälligst in Ruhe!«

Darauf bat der Mann um Entschuldigung. Ein solch harmloser Mensch, wie er sei! Wenn er sich nur erlaube, zu scherzen –

Die Stimmen verloren sich. Grau war beim Bahnhof angelangt, blieb stehen und blickte sich um. Dem Bahnhof gegenüber stieg der Wald an; eine Hütte, gefüllt mit Brettern, Leitern, Balken, lag am Wege, dort stand ein dicker, niedriger Turm mit leeren Fensterlöchern – ein alter Wartturm – aber von einem Wohnhaus war nichts zu sehen. Allein dieser Lehrer, dieser Lehrer Löwenherz, hatte er nicht gesagt: Gleich beim Bahnhof?

Die Gesellschaft holte ihn ein. Die Mädchen standen still, führten flüsternd eine Beratung, dann sagte eine der Schwestern: »Suchen der Herr etwas?«

Grau zog den Hut. »Ja, ich suche ein Haus,« sagte er.

»Hier sind keine Häuser,« sagte der Mann mit den Schlittschuhen mit dünner Stimme und lächelte spöttisch. Grau hatte ihn schon gesehen. Er hatte ein gelbes Gesicht, einen kleinen Spitzbart und Mausaugen.

»Ja, hier scheinen allerdings keine Häuser zu sein,« sagte Grau und blickte umher. »Aber man hat mich hierher gewiesen – ich suche das Haus eines Lehrers, eines gewissen Lehrers Löwenherz!«

»Löwenherz?«

Die jungen Mädchen blickten einander an. Sie besannen sich und schüttelten die Köpfe. Die Schwestern sahen einander so ähnlich, wie zwei rotbackige Äpfel auf einem Zweig. Man hätte sie nicht zu unterscheiden vermocht, wenn nicht die eine ein kleines braunes Mal auf der Wange gehabt hätte. Sie hatten frische, runde Gesichter mit roten Wangen, die etwas rissig von der Kälte waren, und nachdenkliche blaue Augen.

Fräulein von Hennenbach sah nicht so bleich aus wie neulich, als Grau in ihrem Hause vorsprach, ihre Wangen waren von einer feinen Röte überzogen, aber ihre Augen erschienen um so klarer und heller. Sie waren nahezu weiß.

Der Mann mit den Schlittschuhen begann plötzlich zu kichern und zu lachen. Er streckte wichtigtuerisch die spitze Nase vor. »Es ist der Lehrer!« rief er aus. »Sicherlich ist es der Lehrer. Er heißt Lenz, mein geehrter Herr. Löwenherz! Was sagen die Damen dazu? Ein ausgezeichneter Einfall – Löwenherz!«

Fräulein von Hennenbach öffnete erstaunt die Lippen. »Ah, Susannas Vater!« sagte sie, und die Schwestern fügten wie aus einem Munde hinzu: »Ach ja, Susannas Vater!«

»Ich erinnere mich, er sprach von seiner Tochter Susanna,« sagte Grau.

»Das ist ganz in der Ordnung, er wohnt hier. Nur muß man durch den Turm gehen, bis zur Brücke. Der Herr hier hat im gleichen Hause zu tun.«

Sie gingen zusammen und schwiegen. »Ein schöner Tag!« sagte Grau nach einer Weile. »Ja!« antworteten die Mädchen wie aus einem Munde und sahen ihn alle an. Es war schön, wie sie alle die Gesichter zu ihm wandten, die außen gehende mußte sich etwas vorbeugen. Er sah in diese drei Paar Augen hinein. Aber es fiel ihm weiter nichts ein, was er den Mädchen sagen hätte können.

Von der Brücke aus konnte man ein kleines Häuschen im Felde liegen sehen. Dieses Häuschen lag ganz einsam, halb zugeschneit lugte es mit zwei trüben, kleinen Fenstern aus dem Schnee. Weit und breit war nichts zu sehen als Schnee, kein Baum, kein Strauch, nur einige Krähen bewegten sich langsam in einem Acker. Es lag da gleichsam ausgestoßen aus der Stadt, wie ein Siechenhaus, wie die Hütte des Abdeckers. Ein Zaun lief um das Haus herum wie ein Gitter, aus dem Kamin stieg ein Hauch von Rauch, den man nur mit scharfen Augen wahrnehmen konnte.

Dieses Haus sei es!

Grau nahm den Hut ab. »Ich danke, meine Damen!« sagte er und verneigte sich vor den drei jungen Mädchen. »Bitte, bitte!«

Fräulein von Hennenbach blickte ihn an. Sie heftete ihre hellen, klaren Augen eine Weile auf Grau, dann sagte sie: »Wie schön Sie neulich gesprochen haben!« Sie streckte ihm die Hand hin. Sie lächelte, aber ihr Mund und ihre Züge blickten trotzdem ernst.

Die Schwestern lächelten ebenfalls, Grübchen erschienen in ihren Wangen und ihre weißen, kleinen Zähne blitzten; sie richteten die Augen groß und leuchtend auf Grau.

Grau verbeugte sich verwirrt. Er wagte kaum, die Hand des Mädchens zu berühren. Er errötete und machte abermals eine verwirrte Verbeugung.

»Viele Grüße an Susanna, viele Grüße!« riefen die Mädchen.

»Morgen kommen wir!« setzten die Schwestern hinzu.

Der junge Mann lieferte die Schlittschuhe ab und ging an Graus Seite feldeinwärts. Sie wateten bis an die Knie im Schnee. Grau ging wie ein Träumender.

Wie merkwürdig, dachte er, wie merkwürdig! Und unwillkürlich wandte er sich nochmals nach dem Mädchen um. Nun fällt es mir ein, wo ich dieses Mädchen schon früher gesehen habe. Ich ging einst im Traume mit ihr über die Heide – damals unter dem Sternschnuppenregen. Es sind dieselben Augen und besonders ihre Art, den Kopf zu tragen – wie merkwürdig ist das Leben!

Er hörte kaum, was sein Begleiter sagte, obwohl er sich aus mehreren Gründen außerordentlich für ihn interessierte.


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