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Sechstes Kapitel

Es kamen viele Leute in Trauerkleidern und stiegen die beschneiten Stufen zu der kleinen Kirche mit dem weißen Turm empor. Es kamen Leute vom Land, Bauern, die ernste Gesichter machten und langsam daherstampften, es kamen immer mehr, auch die jungen Damen, die ein gutes Herz hatten, kamen; auch der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals kam, feierlich pustend, in einem engen Gehrock, mit frostroten Handgelenken, ein kleines Bukett aus Wachsblumen in der Hand. Es kamen immer mehr, in all den weißen Gassen wanderte es. Viele kamen aus Neugierde, natürlich. Der kleine Friedhof war ganz schwarz und alle drängten der Ecke zu, die den Namen Selbstmörderecke hatte. Es war sehr stille über dem Städtchen und die Sonne blendete.

Plötzlich hörte man ein Schluchzen, ein Schreien, und man sah, daß ein Sarg die Staffeln heraufgetragen wurde, ein roher Kasten. Man schaffte ihn aus dem Spital herauf. Hinter dem Sarge kam eine Gruppe von Frauen, die in der Mitte etwas Weißhaariges führten, das sich schüttelte und hin- und herwarf und sich auf die Staffeln werfen wollte und schrie.

Der Sarg kam heran und alle nahmen den Hut ab. Man räusperte sich, man hustete, man zog die Brauen zusammen und in den schwarzen Fäusten der jungen Damen erschienen blendendweiße Taschentücher. Die kleine Frau schrie ohne Aufhören, aber als sie an das Friedhoftor kam, schwieg sie plötzlich. Das aber war noch viel schrecklicher als ihr Geschrei. Sie wankte zwischen den Frauen einher, und alle wichen zurück, niemand wollte einem solch schrecklichen Jammer nahe kommen. Eine breite Gasse entstand.

Gestern sind ihre Haare noch grau gewesen, aber heute sind sie weiß. Aber diese Haare waren nicht nur weiß, das war es nicht allein, die Haare flatterten. Sie waren dünn und kurz und befanden sich in ununterbrochener Bewegung, immerzu stiegen einzelne Haare in die Höhe, kräuselten sich, sanken zurück, andere lösten sich und flatterten langsam in die Höhe.

Der gelbe Sarg wanderte durch die Menge, getragen von sechs Männern, es schien als stelze er auf diesen vielen dunkeln Beinen durch den Schnee, direkt auf das Grab zu, wie auf seine Höhle. Die weißhaarige Frau sagte etwas und machte mit beiden Händen Zeichen, daß man nichts zu befürchten habe. Dann ließ sie sich in die Knie nieder und küßte das Ende des gelben Sarges, küßte es mit gespitzten runzeligen Lippen, wobei sie die beiden Seitenwände des Sarges mit den Händen streichelte. Als die Träger sich anschickten, den Sarg hinabzulassen, begann die alte Frau zu lachen und mit den Fäusten auf ihre Stirn zu schlagen. Alle Leute wichen zurück und erblaßten. Der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals wurde blaurot im Gesicht und öffnete weit den Mund, die jungen Damen wandten sich ab und bissen in die Taschentücher.

Da begann es in der Luft zu schwirren, ein feines Sausen schwang sich in der Stille und es klang als fiele ein klingendes Becken hoch aus der Luft herab; die Glocken begannen zu läuten. Süß und feierlich klangen sie und alle Augen richteten sich auf den kleinen, weißgetünchten Turm, wo sie sich in den Luken schwangen. Es läutet! Ja, natürlich, es läutet, es läutet in der Kirche. Und alle Glocken läuteten, nicht nur die Beerdigungsglocke. Es gab einige, die sofort in den Turm hineingingen, wo der Kirchner und sein Gehilfe an den Stricken auf und abtanzten. Es läutet ja?

»Er hat es befohlen, der Neue!«

Die kleine verzweifelte Frau hörte auf zu lachen und lauschte, indem sie den weißen Kopf zur linken Schulter neigte und den Mund öffnete. Sie wandte sich nicht um, sie lauschte nur. Es war das große Geläute.

Die schmale Türe der Sakristei öffnete sich und der Vikar stieg die Stufen herab. Er war im Talar und auf seinem Arme lag ein Buch. Alle sahen ihn kommen und bildeten eine Gasse. Er schritt hindurch, den Blick auf den Boden geheftet. Er trat ans Grab und nahm das Barett ab.

Seine Haare waren braun und weich, mit einem Schimmer ins Rote, und alle konnten sehen, daß sein Gesicht lang und mager war.

Er schlug die Augen auf und sah nun aus, als ob er noch nicht zwanzig Jahre alt wäre. Er lächelte unmerklich und richtete den sanften, schimmernden Blick auf die weißhaarige Frau. Dann begann er zu sprechen. Es war totenstill und man hörte einen gedämpften Schritt im Schnee knarren. So leise sprach der Vikar, daß man ihn kaum verstand, seine Stimme zitterte und plötzlich blieb er stecken. Er schwieg eine lange Weile, errötete, aber er wandte den Blick nicht von der kleinen Frau ab. Dann fand er sich wieder zurecht und nun sprach er rasch und sicher bis ans Ende. Seine Stimme wurde nicht laut, aber sie schwebte doch klar und deutlich bis in jede Ecke des Friedhofes und ein feines, feierliches Echo antwortete von der Kirchenwand her.

Die Rede des Vikars war schlicht und nicht lang. Er sprach von den vielen Kränzen, die man der Verblichenen gebracht habe, und daß sie aus Nah und Fern gekommen seien, die sie kannten, so viele, viele seien gekommen, alle habe ihr Tod und ihr Schicksal erschüttert und in der Stadt und auf dem Lande trauere ein jeder um sie. Nun erst, da sie tot sei, wisse man, wie sehr man sie geliebt habe.

»Sie war jung und frisch und voll von Leben,« sagte er, »ihr habt sie gekannt, ich habe nur von ihr gehört. Sie wandte sich ab von der Erde und starb den schwersten Tod, den es gibt.«

Der Vikar sprach davon, wie fleißig und treu sie gewesen sei, wie diensteifrig sie war und wie fein doch ihr Herz war.

»Es war so fein, ihr Herz,« sagte er und lächelte leise, »sie starb an ihrem feinen Herzen. Sie glaubte auch, daß ihr alle sie mißachten würdet, sie fürchtete euren Blick, sie schämte sich vor euch. So fein war sie. Das aber wollte sie nicht. Da warf sie denn alles hin, was sie hatte, ihre Jugend, ihre Frische, ihre Erinnerungen, ihre Wünsche und alle Freuden, die auf sie warteten. Das alles warf sie hin. Viel zu viel war es, viel zu viel.«

»Viel zu viel war es, viel zu viel,« wiederholte der Vikar, und das feine, klingende Echo rief: Zu viel, zu viel.

Da begann die alte Frau zu weinen, ihr Gesicht zog sich zusammen, nichts als braune Runzeln war ihr Gesicht, es sah wie eine Nuß aus.

Der Vikar blickte auf sie und lächelte. »Sie hat wohl Grund zu weinen,« sagte er, »wer von uns allen würde nicht weinen an ihrer Stelle. Wir würden klagen wie sie und Worte könnten uns nicht trösten. Aber in ihrem Schmerze wird es wie eine feine Freude sein, daß die, um die sie trauern muß, so fein war und gut. Und sie wird ja ihr Kind haben! Es ist auch ein Mädchen, es wird wachsen, spielen, lachen, es wird etwas sein, das sie tröstet, nicht alles, aber doch viel, nicht wahr, viel!«

Nun sprach er ausschließlich zu der alten Frau und er sagte auch, daß ihre Tochter nun bei Gott sein werde, zu den feinsten Seelen werde sie gehören.

»Denn Gott versteht sich wohl besser auf Menschenseelen als wir,« sagte er. »Er wird sagen: Ich habe gesehen, wie du gekämpft hast, wie du gerungen hast – ich habe alles gesehen, es ging über deine Kraft. Ich habe auch gesehen, daß du auf dem Wege zum Tode einem Kinde begegnetest und du hast es gestreichelt. Auch das habe ich gesehen, auch das. Ein Hund hat vor deinem Hause gebellt und du hast ihm Nahrung gegeben – damals warst du noch ein Kind – auch das habe ich gesehen und nicht vergessen, denke nicht, daß mir etwas entgeht und daß ich etwas vergesse – zittere nicht –«

Die alte weißhaarige Frau lauschte. Sie legte ein wenig den Kopf auf die Seite, ganz wie ein Vogel, der lauscht, und heftete die tränenwunden Augen auf die Lippen des Vikars; kein Wort sollte ihr entgehen, nichts, nicht das kleinste Wort. Sie begann leise und schmerzlich mit dem Kopfe zu nicken und die Tränen flossen langsam über ihr welkes Gesicht und tropften in den Schnee.

Der Vikar segnete die Tote ein und alle beugten die Köpfe, sein Blick ging über sie hin.

Unter all den Anwesenden befand sich ein Mann mit gelbem Gesicht und kleinem Spitzbart und dieser Mann war der einzige, der den Kopf nicht senkte. Er stand und lächelte und heftete die kleinen Mausaugen erstaunt und spöttisch auf den Vikar.

Der Vikar ging rasch durch die Menge hindurch und sein Talar verschwand in der schmalen Türe der Sakristei.

Die alte Frau folgte ihm und ging die Stufen empor. Aber hier geschah etwas Merkwürdiges. Auf jeder Stufe kniete sie nieder und küßte sie. Dann machte sie den Knöchel des Fingers ganz spitz und pochte an die Türe.

Sie blieb über eine Stunde in der Sakristei.


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