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Achtes Kapitel

Grau sprach bei Frau Bezirksamtmann Häberlein vor, wo das Dienstmädchen zuletzt gedient hatte. Hier hielt er sich längere Zeit auf.

Die Frau des Hauses, eine Dame mit breiten Hüften, schmaler, fast zierlicher Büste, porzellanartigem Teint und viel äußerlicher Vornehmheit, empfing ihn mit übersprudelnder Herzlichkeit im Salon. Ihre Stimme bimmelte immerfort wie ein kleines helles Glöckchen, besonders hell, wenn sie lachte; sie konnte aber auch und zwar ganz unvermittelt, Teilnahme, Mitleid, Resignation, Ergebenheit, Schmerz, Trauer und sogar Verzweiflung ausdrücken, um gleich darauf wieder in Heiterkeit zu erklingen.

Frau Häberlein verheimlichte nicht, daß sie ein wenig verletzt sei, da Grau so spät erst zu ihr komme. Als Frau des Bezirksamtmannes spielte sie die Rolle einer Königin in der Stadt und jeder ankommende Beamte beeilte sich ihr augenblicklich unter tiefen Bücklingen seine Ergebenheit zu Füßen zu legen. Aber als Grau ihr mitteilte, daß er absichtlich zuletzt zu ihr gekommen wäre, um sich über das unglückliche Mädchen näher zu erkundigen, erklang das kleine Glöckchen ihrer Stimme um so lebhafter und heller. Mit Vergnügen!

Sie begann sofort eifrig zu sprechen, schien aber merkwürdigerweise Graus Anliegen zu vergessen. Sie sprach von ihrem Gatten, ihrem Vater – sie war von adeliger Abkunft – eine Menge Offiziere in bunten Uniformen und mit ordengeschmückter Brust tauchten auf, besonders ein General, ein Onkel von ihr, erfreute sich ihres Interesses, und schließlich wimmelte es in ihrem Gespräche von Herren und Damen wie in einem Ballsaal. Sie plauderte ohne Pause, mit vor Liebenswürdigkeit und Eifer glänzenden Augen, die sie nur gelegentlich von Grau abwandte, um sie einem schrägen Wandspiegel zuzuwenden, in dem sie sich selbst sprechen sehen konnte. Wie man einen Hasen mit Speck verziert, so war ihr Gespräch mit Worten und Zitaten aus allen lebenden und toten Sprachen gespickt.

Glücklicherweise mußte sie niesen und es gelang Grau ihr ins Wort zu fallen. Er erfuhr nun die näheren Umstände der Katastrophe, Einzelheiten aus dem Leben des Mädchens, nichts wesentlich Neues.

Ja, sie sei ein braves, ein sehr fleißiges Mädchen gewesen, ordentlich, reinlich, sparsam, ehrlich, frohsinnig – mit einem Wort – es sei sehr, sehr schade, daß sie so traurig enden mußte.

»Man sagt, ein Fleischergeselle soll der Vater ihres Kindes sein?«

Wie unangenehm ihr die ganze Angelegenheit sei – wie peinlich – bei all dem Bedauern mit dem armen Mädchen, natürlich – kein Mensch könne sich vorstellen – wie peinlich ihr die Angelegenheit sei. »Ja, so sagen die Leute, der Bursche aber leugnet es.«

»Er wollte wohl nichts mehr wissen von ihr?«

»Nicht eigentlich das. Er wartete oft stundenlang vor der Haustüre – Margarete klagte oft darüber – er belagerte das Haus, so daß ich meinen Gatten aufforderte es ihm zu untersagen.«

»In den letzten Monaten wartete er?«

»Ja, sogar in den letzten Wochen.«

Grau versank in Nachdenken. »Das ist sehr merkwürdig,« sagte er. Er dachte nach und erinnerte sich erst wieder, wo er war, als Frau Häberlein sich leise räusperte.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau,« sagte er, »darf ich noch fragen, wie lange das Mädchen in Ihrem Hause gedient hat?«

»Ein halbes Jahr. Genau ein halbes Jahr.«

»Und vorher?«

»Bei Herrn Eisenhut. Ach, solch eine heikle und penible Angelegenheit!«

Grau erhob sich. »Entschuldigen Sie die lange Störung, gnädige Frau!« Er verbeugte sich. »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet für Ihre gütige Aufklärung.« Er ging, aber unter der Türe wandte er sich zurück und sagte: »Noch eine Frage, verzeihen Sie gütigst. Von welcher Farbe waren die Augen des Mädchens?«

Frau Bezirksamtmann Häberlein lächelte und sagte mit feiner Stimme, sie bedaure, so genau pflege sie ihre Dienstmädchen nicht zu betrachten.

»Ja, entschuldigen Sie gütigst. Aber Sie mußten es ja sehen, ohne zu wollen. Waren die Augen braun oder grau oder blau, erinnern Sie sich nicht?«

»Wenn ich mich recht erinnere, so hat sie braune Augen gehabt, dunkelbraune Augen, die im Dunkeln schwarz und glänzend aussahen. Sicherlich waren sie braun, ja, ich glaube ganz sicher zu sein.«

»Das stimmt mit der Aussage der Mutter des Mädchens überein,« sagte Grau. »Danke.«

Die Sammlung hatte eine hübsche Summe eingebracht, Grau war zufrieden und lachte in sich hinein. Ordentlich habe ich abgegrast, dachte er. Er ging geradeswegs ins Waisenhaus.

Die Schwestern empfingen ihn mit wenigen feierlichen und gütigen Worten in den stillen Räumen, in denen sie sich ohne Laut bewegten. Er gab das gesammelte Geld ab, die eine Hälfte bestimmte er für die alte Frau, die andere Hälfte bat er für die Verpflegung des Kindes zu verwenden.

»Kann ich das Kind sehen?« fragte er.

»Oh, recht gern können Sie das,« lispelten die Schwestern und er sah das Kind. Er betrachtete es lange und aufmerksam. »Es kann ein schönes Kind werden,« sagte er, »was für kluge, hellgraue Augen es doch hat! Ist es nicht auffallend zierlich gebaut? Aber es sieht kränklich aus, oder täusche ich mich?«

Ja, der Arzt sei ebenfalls nicht zufrieden, es liege an der Amme. Eine Schlossersfrau habe sich erboten, das Kind zu nähren, aber sie sei brustleidend.

»Nein, das geht freilich nicht. Ich werde nachfragen. Sie haben niemand im Hause, der das Kind stillen könnte?« fragte Grau.

Die Schwestern lächelten und erröteten unter der weißen Haube. »O nein,« flüsterten sie.

Grau sah sie erstaunt an. Dann errötete auch er und machte sich eiligst davon. »Du bist doch der größte Dummkopf der ganzen Welt,« sagte er zu sich und lachte in sich hinein.

Am andern Morgen besuchte er zum Erstaunen der Leute alle drei Hebammen, die es am Platze gab, um nach einer geeigneten Amme zu fragen. Er war den halben Tag unterwegs, bis es ihm gelang, eine Magd dazu zu überreden, sich des verwaisten Kindes anzunehmen. Die Magd war derb und stark, sicherlich gesund und nach Graus Meinung imstande zwei, drei Kinder spielend zu stillen. Die Magd erklärte sich nach langem Sträuben bereit, aber nun stieß er unerwartet auf Schwierigkeiten bei der Dienstherrschaft.

Das waren zwei alte Leutchen, ein alter Rentier und seine Gattin, und sie wollten die Erlaubnis nicht hergeben. Sie waren ohnedies ärgerlich, daß das Mädchen, eine Verwandte von ihnen, in ihrem Hause geboren hatte, und wollten nicht, daß es noch weiter bekannt wurde als es schon war. Sie blickten einander an, der Alte, der eine Kappe mit einer Quaste auf dem kahlen Schädel trug, und seine Frau, eine verschrumpfte Greisin mit schneeweißem störrischen Haar und pfiffigem Lächeln, und sagten nein, ein für allemal nein. Da saß denn Grau zwei geschlagene Stunden auf einem harten Sofa und führte die Unterhandlung mit den beiden Alten, die noch dazu schwerhörig waren. Der Greis beschäftigte sich damit, aus einem Topfe Mehlwürmer hervor zu suchen für ein Rotkehlchen, das lustig in seinem Bauer trillerte. Dann zerdrückte er Hanfkörner mit einem Bügeleisen. Die Greisin tat nichts, sie saß da und blickte pfiffig lächelnd auf Grau.

Grau gab sich alle erdenkliche Mühe, aber die Alten rührten sich nicht. Endlich sagte der Alte mit der Quaste: »Wir sind ja katholisch, mein Herr, das Dienstmädchen aber ist ja protestantisch gewesen.«

Grau lachte. »Aber, du gütiger Himmel.«

Nun wollte der Greis den wahren Grund sagen. Er sagte: »Das wäre es ja nicht, Herr, aber es wird so bekannt – so bekannt überall – und wir wollten in aller Stille Gras über das Kind unserer Verwandten wachsen lassen.«

»Gut! Aber man muß sich doch des verlassenen Kindes annehmen, nicht wahr?«

Oh, da gebe es ja die schwere Menge, sagte die Greisin und lächelte pfiffig.

»Ganz einerlei! Man muß sich jedes einzelnen Kindes annehmen. Da ist nun der Herr beschäftigt, Hanf zu knacken und er hat extra Mehlwürmer gezüchtet und richtet jeden einzelnen her für sein Rotkehlchen wie einen Braten, man kann recht gut beobachten, mit welcher Sorgfalt er es tut – und nun ein Kind! Ein Menschenkind! Vielleicht wird etwas Besonderes aus ihm – das ist wie eine Lotterie, vielleicht ist es ein Treffer.«

Man gewinne nie etwas. Der Alte mit der Quaste gluckste. Er band sich eine grüne Schürze um und begann Schleißen zu schnitzen.

»Oh, erlauben Sie recht sehr, ich habe bei einem Tischler gewohnt, der gewann das große Los – er hat jetzt ein Karussell und ein Wachsfigurenkabinett, zieht umher und bläst die C-Trompete« – nein, vielleicht sei es nur ein kleiner Treffer, oder gar kein Treffer, man müsse sich des Kindes unbedingt annehmen.

Die Alten sahen einander an, lächelten, glucksten und sagten: »Nein!«

Grau wechselte das Thema. Er sprach über alles mögliche, über die Zucht von Mehlwürmern und die Lebensweise der Rotkehlchen, über die Verkehrsverhältnisse in früherer Zeit und was für eine Sache das doch gewesen sei, mit Zunder und Stein Feuer zu machen. Die Alten lachten und glucksten und machten es ihm vor. Sie konnten es, ja, das war eine Freude, es zu sehen! In der ganzen Stadt gibt es vielleicht keinen mehr, der es kann! Alterchen ging, um Kaffee aufzutischen, das andre Alterchen nahm die grüne Schürze wieder ab, nachdem es genug Schleißen zum Anschüren geschnitten, und brachte aus einem Schranke ein Gläschen mit Öl, ein paar alte Schlüssel und krumme Nägel und ölte all das mit einer Taubenfeder behutsam ein.

Grau erkundigte sich, ob sie Söhne oder Töchter hätten. Ja, das hatten sie, einen Sohn, zwei Töchter. Nun wollte Grau gerne wissen, wo sie lebten, wie sie lebten, ob sie gesund und glücklich seien, welchen Beruf der Sohn und die Schwiegersöhne hätten, jede Kleinigkeit. Aber ehe sich’s die beiden Alten versahen, sprang Grau auf die Enkel über, ja, diese Enkelchen, nicht wahr? Sechs, oh du meine Güte! Die Greisin ging und brachte Photographien herbei und der Greis putzte sich die Hände an einer Zeitung, einem Ballen Putzwolle und einem wollenen Lappen und entnahm dem Schubfache ein Vergrößerungsglas, denn er mußte nun die Enkel ebenfalls genau sehen.

Grau fragte, wie alt die Enkel seien, wann sie geboren seien, ob sie krank waren, er mußte alles genau wissen. Er sah die Bilder an, lobte den trotzigen Zug eines Knaben, über den kleinen Zopf der Enkelin Babettchen wurde er ganz außer sich vor Freude. Er besang diese Enkel. Ja, so klug, so gesund, so blühend –

Die beiden Alten kicherten und glucksten.

Plötzlich sagte Grau: »Also, wie steht es jetzt mit der Amme? So ein armes, verwaistes Kindchen, nicht wahr?«

Die Alterchen erschraken – denn jetzt konnten sie ja nicht mehr, sie konnten nicht – sie sagten: »Ja.«

Grau schüttelte ihnen die Hände. Der Alte nahm die Kappe mit der Quaste ab und ließ es sich nicht nehmen, Grau an die Türe zu begleiten; sein kahler Schädel glänzte wie ein Feuerwehrhelm.

»Da fällt mir noch etwas ein,« sagte Grau, »könnten Sie nicht im Frühling Ihr Rotkehlchen fliegen lassen, zum Beispiel?«

»Wie?«


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