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Gott gebe ihr den ewigen Frieden, der Witfrau Johanne Jörgensen! Er rechne es ihr nicht schlimm an, daß sie bereits um elf Uhr vormittags keifte, weil ich noch im Bett lag. Er verüble es ihr nicht, daß sie es nicht gern sah, wenn ich Besuche empfing. Sie hat es zu Lebzeiten schwer gehabt – möge ihr der Himmel leichter werden. Ihr Mieter war beileibe kein solider Herr, mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, die im Stadtteil Nörrefaelled ein großes Fleischgeschäft innehaben, war sie seit Jahren verfeindet. Übrigens schmerzte sie das kaum, ich habe sie einmal gefragt, ob es ihr leid tue, mit den Enkelchen nicht verkehren zu können, da zuckte sie nur geringschätzig mit den Mundwinkeln. Auch den lieben Gott hat sie nie besucht und, soviel ich weiß, nie zu ihm gebetet. Vorgestern abend, als der Geistliche kam, lag sie schon in Agonie, sonst hätte sie ihn gewiß beschimpft und hinausgeworfen. Schimpfen war überhaupt ihre . . ., aber man soll doch nichts Übles von einer Toten sagen, über der sich noch nicht der Grabhügel wölbt.
Sie wurde ja erst heute beerdigt. Die Tochter und der Schwiegersohn haben seit vorgestern abend die Wohnung von oben bis unten durchsucht, den Auktionator überall herumgeführt und wegen jedes Möbelstückes – sogar in meinem Zimmer und in meiner Gegenwart – mit ihm gehandelt und gefeilscht. Von Trauer, von Pietät war nicht viel zu spüren. Trotzdem haben sie ihr ein Begräbnis ausgestattet, erstklassig, das muß man sagen.
Ich habe lange genug bei Frau Johanne Jörgensen gewohnt und bin daher zur festgesetzten Stunde in der Kapelle des Assistens-Kierkegaard gewesen. Der Schwiegersohn in umflortem Zylinder und Gehrock, erschüttert, aber gefaßt. Die Tochter ganz in Schwarz, das Gesicht verhüllt, der Körper in den üblichen Zuckungen des Schmerzes erbebend. Die Enkelkinder neigten folgsam ihre Gesichter. Auch sonst waren Leute zugegen, alle sichtlich bewegt, eine Deputation der Fleischerinnung und zwanzig bis dreißig alte Frauen. Nie hätte ich gedacht, daß meine Zimmerwirtin so viele Freunde besessen hat! Kränze waren da, mit Schleifen. Sie lagen auf dem weißlackierten glatten Sarg, der in Dänemark viel getragen wird. Von der Galerie, die verhängt war, drang ein gemischter Choral:
Laer mig, o Skov, at visne glad
Som sent i Höst dit gule Blad
Et bedre Foraar kommer!
Ein langes Lied, es hat etwa acht sechszeilige Strophen, aber ich ließ es über mich ergehen – ich habe lange genug bei der Witwe Johanne Jörgensen gewohnt, um ihr dieses Opfer bringen zu müssen. Spät, sehr spät verstummte der unsichtbare Chorus, und ich dachte, es würde zu Ende sein. Fehlgedacht! Es erschien ein Geistlicher in schwarzem Talar, weißer Halskrause und gelbem Spitzbart und begann zu reden. Zuerst altbekannte Tatsachen vom Glück des Familienlebens, von der Unabwendbarkeit des Todes und dergleichen, dann Neuigkeiten: von der hingebenden Liebe der Verblichenen, von ihrer Güte und Fürsorge, von ihrem unerschütterlichen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes und von vielem anderen Schönen und Edlen, was ich nicht gewußt hatte. Aber schließlich muß er es besser wissen, sonst könnte er es doch nicht so öffentlich behaupten vor Gott und der Welt. Wirklich dringt oftmals ein tiefer Seufzer der Bestätigung aus dem schwarzen Schleier der tiefgebeugten Tochter, wenn die erhabenen Herzens- und Geisteseigenschaften der Dahingeschiedenen besonders hervorgehoben werden. Ich bin dem Sprecher nicht böse, nicht eine Sekunde denke ich daran, daß man ihn und seinesgleichen, die da leeres Stroh dreschen, vor eine Abteilung Soldaten stellen und diesen den Befehl zum Feuern geben sollte. Nicht im Traum fiele mir so etwas ein. Ich habe eine Abneigung gegen die Phrase, ich bin ein Fanatiker der Sachlichkeit – doch auch der Mann auf der Kanzel ist ein Mensch, er will leben, er muß seines traurigen Amtes walten, er muß reden, und was soll er denn über meine Wirtin Johanne Jörgensen aussagen?! Wenn er sich nur etwas kürzer fassen wollte. Er spricht entschieden zu lang. Schade, daß man in einer Friedhofskapelle nicht rauchen darf.
Eigentlich habe ich gar nicht so lange bei Frau Johanne Jörgensen gewohnt. Also schleiche ich mich aus der Halle und gehe draußen spazieren, verliere mich in den Reihen der Gräber vom Assistens-Friedhof. Fast neben jedem Hügel steht ein Gartensessel, oft zwei. Auf manchem sitzt eine alte Frau und liest die Zeitung. Ich gehe vorbei und schaue die Grabsteine an. Merkwürdig, ein so großes Land, dieses Dänemark, und so wenig Namen: alle Toten heißen Hansen, Nielsen, Andersen, Larsen, Sörensen, Baggesen, Nansen, Michaelis, Jacobsen, Jensen, Petersen. Aber wie viele Träger dieser spezifisch dänischen Namen haben in der Welt Klang gewonnen, wie viele besondere Assoziationen rufen diese Wald-und-Wiesen-Namen hervor: bei »Andersen« denken wir an jenen feinen Satiriker, dessen vermeintliche Märchen wir den Kindern zu lesen geben, weil die Erwachsenen sie nicht verstehen, Baggesen hieß der göttliche Akrobat, der hundert Teller zerbrach und sich des Fliegenpapiers doch nicht entledigen konnte, Nielsen ist uns die schönste Vollenderin des miesesten Gewerbes, einer des Namens Nansen dichtete den »Gottesfrieden« (während sein norwegischer Namensvetter durch Nacht und Eis zum Nordpol zog), Karin Michaelis erfand die Ausrede des »Gefährlichen Alters«, Sophus Hansen von Kobenhavn Boldklubben »Frem« zeigte uns, was ein Goalman alles können kann, Sörensen schrieb das beispiellose Abenteuerbuch »Die Fahrt der Jomsburg« (Verlag Erich Reiß), Inge Pedersen hieß das komische Mädchen in Berlin, das mich liebhatte, von Jacobsen ist »Niels Lyhne«, und so weiter – übrigens weiß ich gar nicht, ob das alles Dänen sind, deren Namen mir da zwischen den Friedhofszeilen assoziiert auftauchen, und ich weiß auch gar nicht, ob sie tot sind. Aber ich kenne andere Menschen, die bestimmt aus Dänemark stammen und bestimmt tot sind und die auch außerhalb Dänemarks noch leben. Ich will gar nicht von Hamlet reden (der ein Reaktionär war und die Verabreichung von Kaviar fürs Volk verhöhnte), nicht von Ritter Oluf (dem Spießer, der an seinem Hochzeitstage nicht mit einer anderen tanzen wollte und deshalb von der verschmähten Elfkönigin mit einem Herzkollaps bedacht wurde) und nicht von Tycho Brahe (der ein glückliches Eiland gegen die dumpfe Hofluft des rudolfinischen Prag vertauschte und sich von der Lues seine Nase abfressen ließ); aber Holberg zum Beispiel ist liebenswert, weil er den Satz schrieb: »Alle Welt sagt, daß Jeppe trinkt – aber niemand sagt, warum er trinkt«, und Hermann Bang, der mit den Fingerspitzen dichtete, und Thorvaldsen, der uns zwar heutzutage ein wenig langweilt, aber der doch immerhin ein nordischer Hellene war, und Holger Drachmann, der viel vertrug und nach dem deshalb hier eine Weinstube heißt, und Graf Bernsdorff, der dem vergessenen deutschen Klassiker H. P. Sturz (siehe »Klassischer Journalismus«) hier eine Zufluchtsstätte bot, aber selbst aus dem Lande mußte, als Dr. Struensee mit der Königin ein Verhältnis anfing und darum geköpft wurde (siehe Film), und Gjellerup, der den Nobelpreis bekam – aber mir scheint es, daß ich ihn mit Geijerstam verwechsle, der ein Schwede ist, und so weiter und so weiter.
Ist es nicht wirklich erstaunlich, daß eine Gemeinschaft, ein Land von so wenig Namen der Welt so viele Namen schenken konnte? Wie starben sie? Ob ihnen auch ein Pastor mit weißem Stuartkragen, schwarzem Rockelor und gelbem Spitzbart eine so langatmige Rede auf den letzten Weg gegeben hat wie meiner seligen Hauswirtin, der Witib Johanne Jörgensen? Ob er noch immer in der Kapelle spricht, indes ich, eine Zigarette rauchend, durch Grabstraßen Dänemarks gehe, an Tote denkend und an Lebende? Ich stehe vor dem Grab einer Frau, die Kierkegaard heißt, das ist »Friedhof«. Und Kierkegaard hieß auch der Größte dieses Landes. Richtig, auch er war ein Eingeborener dieser vom Kattegat gekühlten Insel, vielleicht dachte ich nicht an ihn, weil er so unnordisch glühend streiten konnte. Und er liebte die Bibel, da sie für ihn so war wie Shakespeares Dramen: »Dort fühlt man doch, daß es Menschen sind, dort haßt man, liebt man, mordet seinen Feind, verflucht dessen Nachkommen in alle Geschlechter, dort sündigt man.« Sören Kierkegaard hat wegen einer Leichenrede die ganze dänische Kirche verflucht, wegen eines Satzes, in dem ein Niemand als Zeuge der apostolischen Wahrheit bezeichnet wurde – er hätte sich auch über den Mann erregt, der eben am Sarge der lieblosen Witwe Johanne Jörgensen seine Suada leuchten läßt. Während ich mich gar nicht aufregte und einfach hinausging in die Avenuen der Kopenhagner Leichen. Und jetzt verstehe ich, warum er schwor, das Kommando zum Feuern geben zu wollen, wenn alle Journalisten füsiliert würden. Nicht wegen der Phrase, denn es gibt sachlichere Menschen unter uns als in anderen Berufen (welch ein ödes Geschwätz eines Universitätsprofessors habe ich doch heute nacht gelesen!), nein, aber wegen unseres Mangels an Haß, an Empörung, an Erregung. Wir sind ärger als Phrasendrescher, denn wir sind freiwillig zu Dienern der Phrasendrescher geworden, zu Knechten des Kompromisses, zu Leibeigenen des eitelsten Spießertums, zu Sklaven des Heute. Ich beginne den Bannfluch zu verstehen, hier vor dem Grabe der Frau Kierstine Nielsdatter Kierkegaard geborener Royon, gestorben 23. März 1796, achtunddreißig Jahre alt, das in einem Winkel liegt, etwas abseits von den Gräberstraßen, und zu dem mich der Zufall geführt hat. Übrigens liegt die Frau Kierstine nicht allein, es ist ein Familiengrab. Auf den Grabstein sind andere Tote dieses Kirchhofsnamens gemeißelt, und noch zwei Marmorplatten sind angelehnt mit eingehauenen Daten später verstorbener Familienangehöriger. Und unter Michael Pedersen Kierkegaard (†1838) und Anna Kierkegaard geborene Lund (†1834) finde ich Sören Michael Kierkegaard und Maren Kierstine Kierkegaard (geboren 1797, gestorben 1822) und ganz unten auf derselben Steintafel – Sören Aabye Kierkegaard, födt 5. Mai 1813, död 11. November 1855. Siehe da, ich stand also wirklich an seinem Grab, ohne daß ich es wußte. Unter seinen Namen ist noch ein Vers gezwängt von plumpen Reimen und billigem Inhalt.
Det er en Liden Tid
Saa har jeg vundet
Saa er den ganske Strid
Med eet forsvundet . . .
Nein, der ganze Streit ist nicht verschwunden. Noch lange nicht. Nur der Halskrausenmann hat eben in der Zeremonienhalle seinen Sermon beendet. Man trägt den Sarg hinaus, und ich eile, der Witwe Johanne Jörgensen drei Erdschollen ins Grab zu werfen, wie es sich für jemanden schickt, der lange genug bei ihr gewohnt hat.