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In der Rue Berton von Passy, einem Weg, der zwischen Mauern kaum drei Meter breit von der Seine bis zum Blitzableiterhause Franklins steil hinaufführt, entdeckt man das Haus, auf dessen blaugrau getünchten Seitengiebel von irgend jemand hingepinselt worden ist: »La maison de Balzac, 1840-1848, s'adresser 47 Rue de Raynouard.« Es ist auch eine schöne Gedenktafel aus weißem Marmor da, im Jahre 1910 gesetzt: »Dieser Meilenstein aus dem Jahre 1731 bezeichnete die Grenze zwischen den Herrschaften Auteuil und Passy.« Der derart ausgezeichnete Grenzstein steht unter der Marmorplatte und ist ein alter Meilenstein wie tausend andere. Das breite braune Holztor aber öffnet sich unausgesetzt, und prächtige Automobile fahren ein in das Haus Balzacs. Es sind nämlich zwei Automobilgaragen darin.
Wer die Briefe Balzacs an die Baronin Hanska kennt, kann sich die absonderliche Anlage dieses Hauses einigermaßen vorstellen. Durch den Eingang in der Rue de Raynouard (der einstigen Rue de Basse) steigt man die Treppen abwärts, bis man auf einen Hof kommt, der zwei Stockwerke unter dem Niveau der Straße liegt; dort steht ein Häuschen, aus dem man durch eine bedeckte Falltür wieder zwei Stockwerke hinabschreiten kann in einen zweiten Hof und aus diesem in die Rue du Roc hinaus, die heute Rue Berton heißt und jenen denksteingeschmückten Grenzstein besitzt. Dieses so vertrackt angelegte Haus war dem Dichter wohl aufgefallen, als er aus seinen Jardies bei Sèvres nach Paris zu seinem Verleger ging, sorgenschwer, weil er jenen Boden unter seinen Füßen schwinden fühlte. Dieser Bau mochte ihm geeignet erscheinen, gegebenenfalls als Schlupfwinkel vor den Gläubigern zu dienen. Die Stunde kam bald. Die Jardies müssen unter den Hammer, Balzac wird Mieter, »il m'a fallu déménager très lestement et me fourrer là où je suis«, in dem kleinen Hofhäuschen, ängstlich verborgen, mit seiner Mutter lebend, unter Deckadresse Korrespondenz erhaltend, keine Besuche annehmend; nur Gérard de Nerval, Théophile Gautier und Léon Gozlon wissen Klopfzeichen und Losungswort . . . Wenn sonst jemand an die Türe pocht, stülpt Balzac den Hut auf, läuft zur Küche und öffnet – fluchtbereit – die versteckte Falltür, jagt die Stufen hinab in die häuserlose Rue du Roc.
Die Falltür ist noch zu sehen und die leere Wohnung und das dreieckige Gärtchen, worin Vogelbeeren blühen und eine Venusbüste steht. Das nennt sich: Museum Balzac. Eine Frau mit Brille wäscht eben den Fußboden, eine Russin; durch den Krieg um Heimat und Söhne gekommen und zufällig hier im Hause wohnhaft, ist sie damit betraut, den Haushalt des Herrn von Balzac aufzuräumen. Kahle Zimmer. Im ersten hängen zwei Gipsreliefs an der Wand, Abgüsse von der Wandverkleidung eines Theaters wohl, Gruppierungen von Figuren aus Balzacs Werken: auf dem einen die der »Provinzsitten«, auf dem anderen die der Pariser Romane.
Hier saß Balzac, der reichste aller Gestalter, hier saß er Tag und Nacht, acht Jahre lang, hier schrieb er die »Cousine Bette«, den »Vetter Pons«, »Glanz und Elend der Kurtisanen«, hier schrieb er die fünf Akte des »Mercadet« und achtzehn heißbewegte, starke Bücher, der größte Phantast der Realität, ein anerkannter Meister und doch von der Académie verschmäht, ein mit Verlagsaufträgen überhäufter Schriftsteller und der fleißigste, produktivste, den je die Welt gesehen, hier saß er und – ward die Angst vor dem Schuldturm nicht los. »Wenn ich ausgehe, muß ich vorher mein Haus auf ein Jahr verproviantieren«, damit seine Mutter nicht Hungers sterbe, wenn man ihn einsperrt.
Die Nachwelt kommt für die Schulden der Mitwelt nicht auf. Das Musée Balzac? Wohl das tristeste, schäbigste Gedenkhaus, das sich denken läßt! Jede Schornsteinfegerswitwe bewahrt mehr Andenken an ihren Seligen auf als dieses Museum von Balzac. Es sind bloß Reproduktionen da. Gipsabdrücke, Ausschnitte, Drucksorten, Photographien. Ein Briefbeschwerer, aus dem Stein des Hauses in der Rue Fortune verfertigt, wo Balzac starb. (Jetzt steht ein Palais Rothschild dort.) Eine Photographie des unvollendet gebliebenen Balzacmonumentes von Rodin. Eine gewöhnliche Napoleonstatuette, hierhergebracht mit Beziehung auf den Ausspruch des Romanciers: »Was Bonaparte mit dem Schwert begann, mit der Feder will ich es vollenden!« Eine Vervielfältigung des Bildes, das Daffinger von der Hanska malte. Auf dem Tisch liegen drei Bände des philosophischen Diktionärs von Bayle, weil Balzac ein Exemplar dieses Werkes oft benutzte, und die Hand des Dichters in Gips. Originale, Reliquien birgt nur ein Glasschrank: die Kaffeetasse, ein Billett, ein Schillerhemd und eine Jacke, ein Necessaire, das er der Hanska gekauft hat, und eine Faktura der unglückseligen Firma: »Imprimerie de H. Balzac et A. Barbier.« An der Wand im Arbeitszimmer steckte im leeren Bilderrahmen der Zettel: »Ici un Rembrandt.« Deshalb hat man auch jetzt einen Rahmen mit diesen Worten an die Mauer gehängt, aber die Handschrift ist die eines Fremden – selbst von diesem entsagenden Surrogat ist bloß ein Surrogat vorhanden.
Nur die Wände stehen noch da, jene Wände, aus denen der Dichter Hunderte leidenschaftlich bewegter Gestalten treten ließ, die Komödie der Menschheit zu spielen. Das Schlößchen der Prinzessin Lamballe ist noch aus dem Fenster zu sehen, mit dem Park, aus dessen Blüten sich Balzac Farben für seine Palette holte. Der Hofraum ist unter uns, der menschenleer war, so daß der Dichter nicht fürchten mußte, aufgehalten zu werden, wenn er vor seinen Bedrängern durch das untere Haustor davoneilte. Aber die Wände sind heute verstellt von fremden Händen, Schloß und Park Lamballe sind als Sanatorium für Nervenkranke eingerichtet, im einstmals stillen Hofe sind zwei Automobilgaragen, und an dem Tor ist eine Gedenktafel, einem alten Meilenstein zu Ehren.