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Wenn man im Lateinischen Viertel wohnt und zu vielen Tageszeiten auf die Straße kommt, so kann man die Studenten bei den diskrepantesten Beschäftigungen beobachten.
Zum Beispiel: eine beinahe kahlgeschorene Studentin kauft morgens am Grünzeugkarren etwas Karfiol und Kartoffeln und beim Fischhändler einige Muscheln ein, um sich ihr Mittagessen zu kochen; ein junger Mann kommt jeden Vormittag vor eine der großen Buchhandlungen in der Rue de l'Ecole de Médecine, nimmt aus den draußen in offenem Schrank ausgelegten Büchern ein Lehrbuch der Gynäkologie, als ob er's kaufen wollte, und lernt – die Lippen bewegend – eine Seite nach der andern auswendig. Zwei Burschen, die zur Nachtzeit über den Boul Mich gehen, disputieren über Spinozas politisches Traktat; vor den Cafés unterbrechen sie das Gespräch und klauben unter den Tischen Zigarettenstummel zusammen. Spricht dich, ungeschickt genug, auf dem Boulevard Saint-Germain, zwischen Place Maubert und Cluny, ein Mädchen gegen Ende des Monats an und bittet, dich von ihr begleiten zu lassen, Bezahlung nach deinem Belieben, so ist es eine Studentin: Sie kann auf andere Art ihre Miete nicht auftreiben oder den Abonnementspreis im Restaurant des Etudiantes . . . An zweihundert Japaner umstehen, umgehen und umsitzen während der ganzen Ferien die achtzehn Billards des Kaffeehauses in der Rue de Monsieur le Prince und üben systematisch – Diagramme in Hefte zeichnend – schwere Stöße.
Man kann auch von den Einsamkeiten des Studenten in seiner Stube erfahren, kann gleichsam bei verzweifeltem Kniefall und aufjubelndem Armebreiten Zeuge sein. Man erfährt von Stoßseufzern und Schwüren, Ängsten und Hoffnungen, Gebeten und Gelübden, von Glauben und Aberglauben. Kleine weiße Marmortafeln, von denen wohl noch kein Pariser Chronist gesprochen hat, erzählen davon, kleine weiße Marmortafeln, die an den Innenwänden einer ziemlich abseits gelegenen Kirche befestigt sind. Das altersschwarze Mauerwerk und die gotischen Pfeiler in der Severinskirche sind es, die diesen Schmuck heller Steintapeten tragen. Der Brauch, nach überstandenen Nöten der Kirche eine Votivtafel zu bringen, ist in französischen Gebieten stark verbreitet, jedoch die Inschriften in den kleinen Pariser Kirchen des linken Seineufers, vor allem in der Eglise Saint-Séverin, sind das Seltsamste, was sich denken läßt. Man kann aus ihnen nicht bloß die differenzierten Prüfungssorgen lesen, sondern sie ergeben geradezu ein ganzes Studienprogramm, ein Verzeichnis aller Lehrfächer und Disziplinen und ihrer Schwierigkeiten. Alle Heiligen werden um Hilfe angerufen, die Schwergeprüften sollen den Schwerzuprüfenden beistehen, und hat einer der Apostel und Märtyrer das Wunder vollbracht, so dankt der Errettete: »Dem heiligen Antonius für die Approbierung des abgelieferten Programms aus Technisch Zeichnen A.« Neben diesem Dank, der die Unterschrift »H. N., Hörer der Akademie für Straßen- und Brückenbau« trägt, hat ein anderer Ingenieurkandidat sein Flehen an die Wand geschlagen: »C'est sous votre puissante protection, ô notre Dame de Sainte-Espérance, que je mets ma dernière année. J. P., candidat à l'Ecole Polytechnique.«
Ein Mediziner gibt bei der heiligen Veronika seine carrarische Visitkarte ab, »mit Dank für die bestandene Prüfung aus Pathologischer Anatomie«; die Juristen scheinen mit Vorliebe den heiligen Joseph um Protektion gebeten zu haben, »Reconnaissance à St-Joseph pour mon examen du droit civil. Un normalien«, oder »Saint-Joseph! Merci pour mon succès, faisant l'examen du droit public! Un licencié en droit, S. S.«. Die Philosophen von der Sorbonne und vom Collège de France wenden sich nicht erst an die Heiligen, sondern an den Heiland direkt. Mit Erfolg! Er hat ihnen, wie man erfreut lesen kann, besonders in Organischer Chemie, Integralrechnung, Ägyptologie und Revolutionsgeschichte gnädig geholfen. Die Hörer der Bergakademie verlassen sich auf den Apostel Paulus; seine Eingebung bewirkt, daß man die bösesten Fragen aus Geologie, Mineralogie und Paläontologie richtig beantwortet, er war es – saxa loquuntur –, der oft Gnade für Bergrecht ergehen ließ. An St. Dyonisius wenden sich die Studenten der Ecole Normale vertrauensvoll um Rat und Hilfe, wenn sie aus Englisch, Deutsch, Spanisch oder Russisch kolloquieren wollen.
Die Mutter Gottes aber soll jene beschützen, die sich das Kriegshandwerk erwählt haben, die aus der Wissenschaft von privilegiertem Mord und Totschlag Prüfungen ablegen. Wenn wir ein Täfelchen wie dieses lesen: »Témoignage de reconnaissance à la Sainte-Vierge d'une mère pour trois fils Saint-Cyriens«, so verstehen wir es noch: die fromme Frau will ihre drei Söhne bald versorgt sehen. Aber was soll man zu all jenen Kriegsakademikern sagen, die in Marmor meißeln lassen, daß ihnen die Heilige Jungfrau bei ihren Studien aus Waffenwesen, Schießwesen, Ballistik, Taktik und Strategie geholfen habe!
Es ist der Glauben, der die Kirchenwände derart schmückt. Und so abstrus sich eigentlich die Namen von modernen Lehrfächern, diese Bezeichnungen der am schnellsten vergehenden irdischen Sorgen unter den Wölbungen des mittelalterlichen Gotteshauses ausnehmen, so ist man doch gar nicht zum Lächeln geneigt. Die Steine reden, sie erzählen von fremden Nöten, sie erinnern an eigenes analoges Leid und sind immerhin Denksteine einer Martyriologie.