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»Hallo, Freund, wohin in solcher Eile?« rief ein Moskauer Bürger einem zweiten Moskauer Bürger zu.
»Ich will mich in den Fluß stürzen«, rief der zweite Moskauer Bürger. »Es gibt kein Brot, es gibt kein Fleisch, es gibt keine Milch, und es gibt keine Butter.«
»Wart' ein Weilchen«, rief der erste Moskauer Bürger. »Warte bis der Fünfjahresplan vorüber ist, dann wird alles im Überfluß vorhanden sein.«
»Wenn ich noch eine Weile warte, dann gibt es auch kein Wasser mehr«, rief der zweite Moskauer Bürger und wandte sich entschlossen dem Flusse zu.
Beide Bürger übertrieben wahrscheinlich die Lage ein wenig. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. In Moskau gibt es Brot in Mengen und daher auch in der Sowjetunion. Allen Schicksalsschlägen zum Trotz, die den Fünfjahresplan erschüttert haben, schenkte die Natur Rußland in diesem Jahr eine Gabe, die das Unglück zum größten Teil aufhob.
Es gab eine gute Ernte. Getreide ist im Überfluß vorhanden. In den Straßen Moskaus verkehren Wagen hoch mit Brot beladen. Kinder stolpern mit der Tagesration nach Hause, gebeugt unter drei oder vier mächtigen Laiben Brot, jedes einen Kubikfuß groß.
Brot hat für Europa größere Bedeutung als für Amerika. Es bedeutet mehr für Rußland als für den größten Teil Westeuropas. In Rußland ist Brot der einzige unentbehrliche Artikel. Und heute ist Brot der einzige Artikel, dessen Lieferung gewährleistet erscheint.
Reis, Brot und Fleisch sind die grundlegenden Nahrungsmittel des Ostens und des Westens. Rußland hat den Ehrgeiz, sich mittels des Fünfjahresplans zu der Fleischklasse aufzuschwingen, das bedeutet einen steilen Anstieg, denn infolge des Fünfjahresplans ist Rußland viele Sprossen auf der diätetischen Leiter von jener Stellung heruntergeglitten, die es vor drei Jahren einnahm.
Es herrscht eine Knappheit in fast allen anderen Arten von Nahrungsmitteln, besonders arg in dem Falle von Fleisch, Fett, Milch, Butter und Eiern. Im Augenblick kann man Zucker in Moskau regelmäßig erhalten. Kartoffeln sind rationiert. Kohl gibt es reichlich. Aber außer auf Brot kann man auf kein Nahrungsmittel mit Bestimmtheit rechnen.
Die alten freien Märkte sind tatsächlich verschwunden. Nicht ein Zehntel der früheren Dinge erhält man auf den Lebensmittelmärkten, die vor drei Jahren Fleisch, Meiereiprodukte, Obst und Gemüse in Fülle darboten. Der Oxhotnyryad, der Straßenmarkt im Mittelpunkt der Stadt, auf dem man alles kaufen konnte, vom Spanferkel, Wildbret und Kaviar an bis zu erlesenen Früchten und Gemüsen, ist von der Karte fortgewischt. Ein riesiger, langer, leerer kooperativer Lagerraum hat ihn ersetzt. Man ist hier berechtigt, auf Nahrungsmittelkarten die tägliche Ration an Lebensnotwendigkeiten einzukaufen.
Man hat jedoch nur die Kaufberechtigung. Eine Gewähr, daß dort etwas zu kaufen vorhanden ist, besteht nicht.
Lebensmittelkarten werden lediglich an Mitglieder von Gewerkschaften und deren Angehörige verabfolgt. Nur wer arbeitet, braucht zu essen. Auf Grund der Karte ist ein Handarbeiter berechtigt zum Bezug von: Zwei Pfund Brot pro Tag; dreimal in zehn Tagen dreifünftel Pfund Fleisch; einmal monatlich dreifünftel Pfund Butter, ein Pfund Makkaroni, drei Pfund Zucker und zehn Eiern. Dreimal monatlich kann man an Stelle von Brot Mehl beziehen, außerdem ist jeder Arbeiter zum Empfang von vier Pfund Zerealien monatlich berechtigt.
Milch wird nur Kindern gewährt, die Anspruch auf einen halben Liter täglich, sowie auf dreifünftel Pfund Butter monatlich haben. Gemüse ist nicht rationiert. Gerade jetzt gibt es Kohl, Tomaten, Gurken, grüne Bohnen und Zwiebeln.
Als Kopfarbeiter gehört man einer untergeordneten Klasse an und muß die Folgen erdulden. Anstatt auf zwei Pfund Brot täglich hat der Kopfarbeiter nur auf ein Pfund Anspruch; statt vier Pfund Getreide im Monat erhält er zwei Pfund, statt dreifünftel Pfund Butter im Monat beträgt seine Ration zweifünftel Pfund.
Selbst wenn sämtliche auf der offiziellen Lebensmittelkarte verzeichneten Nahrungsmittel zur Verfügung stünden, müßte der durchschnittliche Einwohner immer noch mindestens ein Viertel seiner Bedürfnisse auf dem offenen Markte decken. Er würde das zu den kooperativen, künstlich verhältnismäßig niedrig gehaltenen, obwohl absolut genommen hohen Preisen tun. Butter kostet drei Rubel (1,50 Dollar) pro Pfund, Fleisch durchschnittlich drei bis vier Rubel pro Pfund, frisches Gemüse dreißig bis siebzig Kopeken pro Pfund und zehn Eier einen Rubel.
Selbst für einen Russen ist ein Happen Fleisch einmal alle drei Tage, ein Teelöffel voll Butter pro Tag und jeden dritten Tag ein Ei allzuwenig. Die Arbeiter, die Angestellten – ja alle ohne Ausnahme – verwenden einen erheblichen Teil ihres Einkommens auf dem freien Markt. Die dortigen Preise sind phantastisch. Ein Pfund Butter 11 Rubel (5,50 Dollar), zehn Eier 3 Rubel, ein Pfund zähes Fleisch 6 Rubel, Pfirsiche pro Stück 60 Kopeken oder 30 Cents. Apfelsinen und Zitronen gehören längst in das Reich der Phantasie.
Diese Art Preise haben zu einem chronischen Ansturm auf die Moskauer Restaurants geführt. Sämtliche öffentliche Speisehäuser in Moskau sind Staatsbesitz oder kooperativ. Falls man zu Hause nicht genug zu essen hat, kann man im Restaurant speisen. Vielleicht!
Für den Fremden bedeutet die Notwendigkeit, in einem Restaurant zu essen, keine besondere Härte für den Gaumen, wohl aber eine große Härte für das Portemonnaie. In den drei für Ausländer reservierten Hotels, im Grand Hotel, dem Metropol und dem Savoi werden Mahlzeiten von verschiedener Qualität serviert, aber im ganzen nicht schlechter als jene in einem zweitklassigen Restaurant in Berlin oder in New York. In dem Grand Hotel erhält man ein Frühstück, bestehend aus guter Suppe, Hammelkotelett, Brot, Butter und Salat für 7 bis 8 Rubel, d. h. für 3,50 bis 4,00 Dollar. Frühstück, bestehend aus 2 Eiern, Brot, Butter und Kaffee, hat einen Normalpreis von 3 Rubeln oder 1,50 Dollar. Ein gutes Abendessen kostet zwischen 15 und 20 Rubel; die Mahlzeiten pro Tag kosten im Durchschnitt 25 bis 30 Rubel oder 12,50 bis 15,00 Dollar.
Russen können sich diese Preise weder leisten, noch ist ihnen der Besuch dieser Restaurants, falls sie nicht in dem Hotel wohnen, gestattet, mit Ausnahme des Savoi. Vor dem Savoi steht eine, einen halben Häuserblock lange Reihe, in Erwartung zur Mittagszeit Zutritt zu erhalten. Tagelang haben diese Leute vielleicht gespart, um sich außerhalb ihrer eigenen Restaurants (Stolovayas) ein gutes Essen zu leisten.
Ich besuchte fünf Stolovayas im Mittelpunkt der Stadt. Ehe man ißt, muß man von dem Kassierer Schecks kaufen. In allen fünf Restaurants standen Reihen von 20 bis 50 Leuten in Erwartung, zu dem Kassierer zu gelangen. Jeder Tisch war besetzt. Endlich erhielt ich einen Platz. Ich hatte Schecks für Suppe, gesalzenen Fisch, Kartoffeln, Gurken und Tee gekauft. Fleisch gab es nicht. Die Suppe bestand einfach aus heißem Wasser mit darin gekochtem Kohl, ohne jede Spur von Fleisch, Fett oder Würze. Der Salzfisch war eingeführter Hering. An den Kartoffeln war auch nicht eine Spur Butter oder anderes Fett.
Zusammen mit dem Essen wurden vier Scheiben sauren Schwarzbrotes verabfolgt. Die anderen Gäste aßen heißhungrig, ohne sich um die massenhaften Fliegen, die schmutzigen Papiertischtücher und Teller, den dreckigen Fußboden und den ekelerregenden Geruch zu kümmern, der den Raum erfüllte. Die Kosten des Essens betrugen 85 Kopeken, etwa 45 Cents. Zwei derartige Mahlzeiten pro Tag würden zwei Drittel des durchschnittlichen Einkommens eines Arbeiters aufzehren.
Das Menu in den vier anderen Restaurants war im Prinzip identisch, der Preis der gleiche. Das Gedränge ebenso groß und die Leute ebenso ausgehungert.
Ich war überzeugt, daß die Verhältnisse in den Fabrikbezirken, in den besonders für Arbeiter reservierten Restaurants, erheblich besser sein würden. Mein Versuch führte mich in ein funkelnagelneues Fabrikrestaurant im Außenbezirk der Stadt. Der Fußboden war zwar mit Fließen ausgelegt, aber mit Schmutz bedeckt. Dieses Mal wurde an der Table d'hôte gespeist. Das Essen bestand aus der gleichen Kohlsuppe, dem gleichen Salzfisch, den gleichen Kartoffeln und dem gleichen Schwarzbrot jenes ersten Restaurants. Als einzigen Unterschied gab es hier zum Dessert noch einen Gelatinepudding. Der Preis betrug nur 30 Cent, dafür war aber auch die Zubereitung des Essens noch wesentlich schlechter.
Ein barfüßiger Gassenjunge saß neben mir, schlürfte seinen Tee und kaute Schwarzbrot. Ich bot ihm meinen Fisch an. Er schüttelte den Kopf und fuhr mit seinem Brot und Tee fort.
Ein mir am Tisch gegenübersitzender Arbeiter fragte:
»Ihnen schmeckt das Essen wohl nicht?«
»Oh, es ist so, so.«
»Oh, Sie können ganz offen reden«, sagte er lachend. »Wir mögen den Fraß auch nicht. Jeden Tag das gleiche. Wie stehen die Dinge in Ihrem Lande? Nicht so wie hier, he?«
»Nicht ganz so.«
»Was denken Sie über uns?«
»Ich denke, daß Sie sehr schwer arbeiten und sehr ärmlich leben, daß sich aber die Verhältnisse bessern müssen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil unsere Führer Wirrköpfe sind. Sie versprachen uns, in zwei Jahren würden wir von allem genug haben. Heute bekommen wir überhaupt nichts.«
»Wieviel verdienen Sie?«
»Einhundertundzehn Rubel im Monat. Eine Menge Geld, aber nichts zu kaufen. Vor zwei Jahren hatten wir kein Geld, und damals konnte man Unmassen kaufen. Jetzt bekommen wir Geld, aber zu kaufen gibt es nichts.«
»Sind Sie Arbeiter?«
»Zum Teufel, ja. Fabrikarbeiter, Bolschewik. Mache Kandiszucker.«
Er beendete sein Essen und tunkte mit einem Knust Schwarzbrot den letzten Tropfen des Stärkepuddings auf, den er nicht leiden konnte.
Ich ging hinaus. Ein Chor erscholl, ein Banner zog vorüber. Die Aufschrift bezog sich auf den Fünfjahresplan in vier Jahren. Der Plan müßte vollendet werden, wie man eine Barrikade stürmt.
Wer gelegentlich durch die Hauptstraßen Moskaus schreitet, könnte die Vermutung für gerechtfertigt halten, daß die Stadt sich einmütig der Musik und dem Sport ergeben hätte. Die hauptsächlich zur Schau gestellten Waren bestehen aus Musikinstrumenten, unter denen Waldhörner vorherrschen, Angelhaken, Hockeyschlägern und Skiern.
Die Vermutung wäre irrtümlich. Tatsächlich gibt es nur sonst fast nichts zu kaufen.
Keine andere Eigentümlichkeit der Moskauer Straßen wirkt so eindrucksvoll wie die Schaufenster, diese endlosen Reihen leerer, verstaubter Fenster, die im besten Falle eine Büste Lenins, ein Bild Stalins und einen Haufen abgerissener Etiketten längst entschwundener Waren bergen. Es sind die Schaufenster einer verödeten Stadt. Die sich stoßende Menge, welche an ihnen vorüberzieht, läßt diese Leere bizarr erscheinen.
Von sämtlichen im täglichen Gebrauch befindlichen Waren ist die überwiegende Mehrzahl rationiert. Sie werden mittels eines Kartensystems zugeteilt, oder ihre Zuteilung wird wenigstens verheißen. Die offizielle Liste des Kommissariats, die, neben Nahrungsmitteln, alle Waren aufweist, an denen ein Mangel besteht, umfaßt Baumwolle, Wolle und fertige Kleider, Lederwaren, Metallwaren und Schuhzeug, Textilien, Leder und Metall.
Das bedeutet alles, was Menschen benutzen. Und zu diesen Gegenständen müssen Fette, Seife und Tabak hinzugefügt werden.
Die bloße Tatsache der Rationierung würde noch keine besondere Härte bedeuten, falls genügende Rationen zur Verteilung gelangen könnten. Das ist aber nicht der Fall. Die Folge ist, daß die verbreitetste Erscheinung im täglichen Sowjetleben das Queuestehen ist, das dem gegenwärtigen russischen Schauplatz eine überraschende Ähnlichkeit mit der Kriegszeit verleiht.
Man hat berechnet, daß jede Familie durchschnittlich täglich mindestens zwei Stunden mit Anstehen verbringt, um von den staatlichen Läden und Kooperativen sich genügend Nahrungsmittel und Vorräte zu verschaffen. In der Sowjetunion leben 30 Millionen Familien. Auf diese Weise werden täglich minimal 60 Millionen Arbeitsstunden verschwendet, das heißt, wenn man Stalins Schätzung zugrunde legt, der zufolge es in dem Lande 8 500 000 über 15 Jahre alte Handwerker gibt, daß die Bevölkerung der Sowjetunion genau so viel Zeit mit Anstehen verbringt, wie die Handarbeiter während eines sechs- oder achtstündigen Arbeitstages für ihre Tätigkeit verwenden.
Diese vorsichtige Schätzung zieht den weiteren Betrag an verlorener Zeit durch Anstehen für Straßenbahnen, Omnibusse und Eisenbahnbillette nicht in Betracht. In diesem Sommer und Herbst war der Andrang von Personen, die zu den Ferien nach Süden reisen wollten, so groß, daß man, um eine Fahrkarte nach dem Kaukasus zu kaufen, eine volle Woche vor Abfahrt des Zuges von Mitternacht bis 10 Uhr nächsten Morgen in Reih und Glied stehen mußte.
Selbst vor dem Fünfjahresplan konnte man herzlich wenig Fertigwaren in den staatlichen Läden und Kooperativen kaufen, aber damals gab es noch die Privatläden, in denen man Waren, freilich zu extravaganten Preisen, erhalten konnte. Heutzutage umfaßt, nach den Angaben der staatlichen Planwirtschaftskommission, der »sozialisierte« Sektor des einheimischen Handels mehr als 99 Prozent des Großhandels und mehr als 89 Prozent des Einzelhandels. Praktisch gesprochen gibt es überhaupt keine Privatgeschäfte mehr.
Freilich findet ein ziemlich beträchtliches Handelsgeschäft von Hand zu Hand statt. Wahrscheinlich hat deshalb die staatliche Planwirtschaftskommission den Betrag des privaten Einzelhandels mit weniger als 11 Prozent angesetzt. Nachdem die Trommeln vergangenes Frühjahr auf der Kollektivgüterfront zum Rückzug schlugen, erließ die Regierung ein Dekret mit der Anweisung an die Steuer- und anderen Behörden, nicht mehr in den bäuerlichen Handel einzugreifen. Jedem Bauer sollte es freistehen, ohne Steuer seine Ware zu verkaufen, wann, wo und zu welchem Preis es ihm beliebte.
Dies gab plötzlich den verschiedenartigsten Handwerkern und Bauern die Möglichkeit, mit Gartenerzeugnissen und Meiereierzeugnissen Handel zu treiben. Sofort entstanden überall in Moskau kleine Marktzentren, auf denen sich ein Dutzend oder mehr Bauern, jeder mit einem Eimer voll Eiern, einem Fäßchen Butter und guten Kartoffeln zusammenfanden.
Weit wichtiger als diese Märkte sind die großen Tauschmärkte Smolensky und Sukharevsky.
Die Geschichte des Sukharevsky-Marktes von den Tagen der Revolution bis heute würde vielleicht wahrheitsgemäßer als irgend etwas anderes den Verlauf der bolschewistischen Bemühungen, den Privathandel auszurotten, aufzeichnen. Von seiner ursprünglichen Stellung im Vorkriegs-Moskau als Handelsplatz für reiche Bauern, über die Tage des militärischen Kommunismus, der tiefsten Ebbe dieses Marktes, als die Strafe für Verkäufe Erschießen war, bis herauf zu dem bequemen Gefälle einer neuen Wirtschaftspolitik und heute wieder herab zu dem ärmlichen Schacher gequälter Bauern und eingeschüchterter Hausierer, hat der Sukharevsky-Markt soviel erduldet, wie nur irgendeine Einrichtung während dieser dreizehn aufrührerischen Jahre zu ertragen vermochte. Er hat allen Stürmen getrotzt, und manche erfahrenen Händler meinen hoffnungsvoll, daß heute nichts so schlimm sei, wie militärischer Kommunismus. Andere spüren den Unterschied in diesem argen Wetter und meinen, es handle sich nur um eine Pause, dann werde es vielleicht den letzten, einsamen Händler in den Kehrichteimer fegen.
Sei es wie es sei. Sukharevsky ist immer noch so stark besucht und erregt wie je. Ein riesiger offener Marktplatz, der das Gebiet von zwei großstädtischen Häuserblocks bedeckt. Um den Platz ziehen sich Reihen von Marktbuden, die ehemals von privaten kooperativen Kaufleuten besetzt waren. Heute sind alle Buden, bis auf ein paar mühsam um ihre Existenz kämpfenden, geschlossen. Niemand besitzt genügend Waren, um heute noch ein Ladenregal zu füllen; und jeder Händler trägt seine Güter in den Händen mit sich herum.
Je spärlicher die Waren, desto größer der Eifer der Käufer. Auf diesem engen Räume lehmigen Bodens sind nicht weniger als zehntausend Männer und Frauen aller Klassen dieser und der alten Gesellschaft versammelt, gleichförmig nur in ihrer Abgerissenheit, übereinstimmend nur in ihrem gemeinsamen Wunsch zu kaufen.
Denn dieses ist der hervorragendste Markt. Auf jedem anderen Markt dieser Art außerhalb Rußlands sind die Anstrengungen der Verkäufer, die Kunden anzulocken, die Ausrufe der Hausierer, die einem ihre Waren unter die Nase halten, die hervorstechenden Kennzeichen des Marktes. Hier jedoch sind ein Mann mit einem Paar geflickter Pantoffeln, die er zu verkaufen hat, eine Frau mit einem Bündel Tuch, der Besitzer einer abgenutzten Weckeruhr fürstliche Kaufleute und Herren des Marktes.
Ein gebrechlicher, alter Kerl in einem vermotteten Schafpelz hält ein Paar abgetragene Hausschuhe in der Hand. Um ihn drängt sich eine Schar von zehn oder mehr eifrigen Kunden. Ich bahne mir mit den Ellbogen meinen Weg.
»Wie teuer?«
»Nehmen Sie Ihre Hände fort!« ruft der Alte, die abgetragenen Pantoffel zärtlich an seinem Schafpelz reibend.
»Achtunddreißig Rubel.«
19 Dollar für ein Paar getragene Pantoffel ist selbst für Sukharevsky ein wenig viel. Ich stehe und schaue zu. Die Pantoffel werden schließlich auf 20 Rubel, gleich 10 Dollar, heruntergehandelt.
Eine laute Erörterung ist in einer Gruppe im Gange, die sich um einen Mann drängt, der Uhren in seiner Hand feilbietet.
»Aber sie taugen ja überhaupt nichts«, ruft ein junger Mensch, nachdem er in das leere Gehäuse einer altmodischen, vernickelten Weckuhr geblickt hat. »Das Werk fehlt ja.«
»Sie sind erheblich mehr wert als deine Papierrubel«, widerspricht der Besitzer verächtlich, während er das leere Uhrgehäuse zurückreißt.
»Hier, Bürger –«, – zu mir gewandt – »nur vier Rubel für eine schöne Uhr.«
Etwas weiter befindet sich ein großes Geschäft. Gebrauchte Fahrräder, in einer Reihe aufgestellt. Ich erkundige mich nach dem Preis. Sie kosten zwischen 700 bis 900 Rubel das Stück, 350 bis 400 Dollar für Maschinen schlechter Qualität.
In Deutschland würden sie neu 20 bis 25 Dollar pro Stück kosten. Heute fabriziert die Regierung Fahrräder zu etwa 200 Rubel pro Stück, aber wenn man ein Fahrrad kaufen will, muß man seinen Auftrag 18 Monate vorher aufgeben, und selbst dann ist die Lieferung nicht gewährleistet.
Ich wandere zurück, an vom Glück begünstigten Händlern vorüber, die aufmerksam neben Haufen alter Stiefelabsätze, Balleneinlagen, ausgebrochenen Kämmen und falschen Zähnen stehen und gelange zu einer Abteilung mit neuen Schuhen. Hier stehen Bauern, die mit selbstgefertigten Waren vom Lande hereingekommen sind. Der Normalpreis für ein Paar neue, hohe Stiefel beträgt 150 Rubel. Von diesem Preise kann man nur sehr wenig herunterhandeln. Das bedeutet 70 bis 75 Dollar für Schuhzeug, das jeder Russe benötigt. Filzschuhe kosten 50 bis 60 Rubel. In Wirklichkeit tragen die meisten Bauern Schuhe oder richtiger Pantoffel, die aus derbem Stoff hergestellt sind.
Nun zu der anderen Seite des Marktes. Hier befinden sich kleine Mengen von wenigen Pfund grober Waschseife zum Verkauf. 1 Rubel 50 Kopeken – 75 Cents – für ein Viertelpfund Seife.
An den Wänden eines mit Fensterläden versehenen kooperativen Warenlagers, das an den Ausgang grenzt, sind eine Reihe regenbogenfarbiger Lithographien eingeheftet. Szenen aus einem Bauernhause: ein kluger, junger Pionier (kommunistisches Äquivalent eines Pfadfinders) reißt das Heiligenbild von der Wand, während die Großmama empört auf ihn einschwatzt und die bäuerlichen Nachbarn, sämtlich gute Marxisten, lachen. Luftkrieg – ein Sowjetjagdflugzeug überschüttet ein britisches Bombenflugzeug mit tödlichem Feuer.
Eine Lithographie stammt aus der alten Zeit: ein Bauer ist an den Händen aufgehängt und wird geprügelt, während ein feister Gutsbesitzer voll sadistischer Freude zuschaut.
An diesen Dingen herrscht kein Mangel. Für sie gibt es aber auch keine Käufer.