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In dem Speisesaal des Schiffes saßen eine Anzahl hübscher Frauen in Abendtoilette mit fast auf ihre Schultern herabhängenden Ohrgehängen und mit tiefrot geschminkten Lippen, lachend und scherzend mit drei jungen Offizieren bei Tisch. Es waren die ersten Seidenkleider, die ich in Rußland zu Gesicht bekam.
Von achtern ertönte der Klang einer Mandoline und durch die Bullaugen drang die Melodie einer Tanzweise. Es war die erste Tanzmusik, die ich nach einer 7000 Meilen langen Reise durch Rußland hörte.
Die Maschine stoppte, irgend jemand rief den Namen eines Hafens, und alle eilten an Deck. Vor uns dehnte sich ein Strand und auf ihm hoben sich, weiß gegen den dunklen Sand, die Körper von vielen tausend Badenden ab, die sich in dem Mondschein einer subtropischen Nacht wärmten. Es war die Rote Riviera oder ein Teil derselben, denn jene unvergleichliche Strecke einer sonnen- und mondgetränkten Küste beginnt bei Batum in dem südöstlichen Winkel des Schwarzen Meeres und erstreckt sich mit wenigen Unterbrechungen bis an die Westküste der Krim. Diese 300 Meilen lange Küste wird von den einzigen Russen bewohnt, die lächeln. Hier legen die roten Offiziere ihre Ehrenzeichen ab, hier benutzen die Frauen Kosmetika, ja selbst das »bourgeoise Laster« romantischer Liebe wirbt hier Anhänger, und der Kommunismus streckt die Waffen.
Denn dies ist unter dem Plan Rußlands Spielplatz. Hier ist der Sonnenschein nicht dem Fünfjahresplan unterstellt. Sonnenschein ist in Rußland rar genug, um rechtmäßigerweise auf die »Defizitliste« zu gehören, und wenn die Planschmiede ihn unter ihr sonst luftdicht abgeschlossenes Monopol auf alles, was Menschen und Tiere benutzen, zu bringen vermöchten, würde er – überall, außer im Kaukasus und auf der Krim – schon rationiert worden sein.
Hier scheint die Sonne noch hell, und wenn die unglücklichen Bewohner des düsteren Moskau im ersten Schnee des Winters zittern, sind die Ufer des Schwarzen Meeres immer noch mit Zehntausenden von Männern und Frauen besät, die es sich in der Wärme und in den stahlblauen Wassern des milden Binnenmeeres wohl sein lassen.
Kein Land besitzt einen von der Natur mehr begünstigten Spielplatz. Ohne jede Anstrengung seitens der eifrigen Planschmiede besitzt die Sowjetunion in ihrem Hauptbuch den Aktivposten eines Strandes, ausgedehnt genug, um der gesamten Bevölkerung des Landes Raum zu gewähren, falls sie sich gleichzeitig hier versammeln könnte und von einer Schönheit, die es überflüssig macht, in das Ausland zu reisen, um die Freuden der berühmteren Erholungsorte Europas zu genießen. Zugleich mit dem Wunsche, sich in wirtschaftlicher Hinsicht von dem Auslande unabhängig zu machen, hat die Natur Rußland in dieser Hinsicht Unabhängigkeit geschenkt. Das Schwarze Meer und die hohen Berge des Kaukasus bieten alle Szenerien und Klimata von Höhen gewaltiger als die Alpen und von wilderen Berggipfeln als das Engadin bis zu der weichen Wärme der weinumrankten Hügel und der strahlenden Hitze der Küste von Batum bis Sochi.
Das alte Rußland kannte den Reiz dieser östlichen Riviera genau so gut, wie das neue Rußland ihn kennt, und vom Zaren bis zum letzten Neureichen Moskaus besaßen die Wohlhabenden des Reiches hier ihre Landsitze. Auf einer Straße, die sich mit freiem Blick über das Meer hoch an den Berghängen hinzieht, fuhren wir längs des Ufers der Krim. Fast eine halbe Stunde lang führte der Weg an den Parkanlagen des Ruhesitzes des Zaren, Livadia, vorüber, dessen mächtiger weißer Bau marmorbleich aus dem dichten Grün der Föhren aufragte.
Heute werden Livadia, der Palast des Großfürsten Felix Youssoupoff, des reichsten Edelmannes und des Mörders Rasputins, die Schlösser all der Großfürsten und Großfürstinnen, die Hunderte kaum weniger prächtigen Sommersitze der reichen Bürger des alten Reiches, Paläste mit durchschnittlich hundert Räumen und mit Quadratmeilen von Parkanlagen, von Arbeitern bewohnt. Die übrigen sind Postämter, Klubs, Sanatorien, Kinderkrankenhäuser, Waisenhäuser. Nur Gewerkschaftsmitglieder genießen den Vorzug eines Zimmers oder eines Bettes in diesen palastartigen Sommerresidenzen. Auf Grund des Planes wird für jede Fabrik, für jede Werkstatt und für jedes Büro eine bestimmte Anzahl von Plätzen reserviert. Es sind nie genügend vorhanden und das Anerbieten einer freien Reise nach der Krim oder nach dem Kaukasus ist eine der verlockendsten Belohnungen für Extraarbeiten in Fabriken und Bergwerken.
Genau so eifrig wie die Russen unter den schweren Bedingungen des Planes arbeiten, genau so eifrig spielen sie, sobald die Ferien sie nach Süden führen. Eine fieberhafte Atmosphäre umgibt die Rote Riviera, genau wie das an der französischen oder italienischen der Fall ist; hier herrscht die gleiche Vergnügungssucht, und im Falle Rußlands, der gleiche Wunsch, zu vergessen, nicht die Langeweile des Zuviel, sondern das Elend des Zuwenig. Kleider für die Ferienzeit erhöhen in diesem Teile Rußlands die persönlichen Ausgaben nicht erheblich. Die gelegentlichen Seidenkleider, die vereinzelten Seidenstrümpfe, die man hier noch zu sehen bekommt, sind fast ausnahmslos gerettete Schätze aus den Zeiten vor dem Plan, die aufgespart wurden zur Benutzung fern von Moskaus Späheraugen.
Diese Bekleidungsgegenstände sind jedoch nur für die Promenade und die Kinos bestimmt, das volkstümlichste Kostüm für den Badestrand besteht für beide Geschlechter und für alle Klassen aus buchstäblich nichts. Die in Deutschland und anderen Ländern in beträchtlichem Maße entwickelte Nacktkultur ist hier bis zu ihrem Äußersten gesteigert. Ein Badeanzug ist eine Merkwürdigkeit; wer den Mut besitzt, einen zu tragen, setzt sich einem Kreuzfeuer spöttischer Blicke aus. In Batum, in Yalta und längs des ganzen Strandes erscheinen die Ferienreisenden fast ausnahmslos völlig unbekleidet. An Badeorten, an denen Badekabinen zur Verfügung stehen, baden die Geschlechter gewöhnlich getrennt, geschieden durch einen Draht, der den Strand teilt. Die große Menge des Volkes jedoch, die keine Lust hat, ein paar Kopeken für eine Badekabine aufzuwenden, besucht das Familienbad.
Selbstverständlich ist Nacktbaden keine Besonderheit Rußlands, diese Sitte ist schon lange in Deutschland und einigen skandinavischen Ländern sowie in Japan eingeführt. Während jedoch in Deutschland nur einige wenige tausend Anhänger dieses Kults darauf Gewicht legen, nackt zu gehen, und in Skandinavien diese Sitte nur in bestimmten Klassen der Bevölkerung vorherrscht, ist in Sowjetrußland selbst eine so private Angelegenheit, in welchem Kostüm man zu baden beliebt, zu einer Prinzipienfrage geworden. Der Vorwurf »bourgeoisen Vorurteils« genügte, das Badeanzuggewerbe zu vernichten. Der Marxismus, der von der Arithmetik bis zur Hygiene alles entscheidend beeinflußt, drückte auch hier seinen Stempel auf.
Ehemals waren die ernsthaftesten Propagandisten der Nacktkultur aggressiver. So bildete sich in Moskau die Gesellschaft derer »Fort mit dem Schamgefühl!«, deren Mitglieder durch die Straßen der Stadt marschierten und, nur mit Sandalen bekleidet, die Straßenbahn bestiegen, was die nüchterneren Kommunisten, von denen viele ein strenges puritanisches Leben führten, so aufbrachte, daß das Gesundheitskommissariat sich gezwungen sah, ein Manifest zu erlassen. Es lautete: »Kameraden sollen nicht daran behindert werden, ihre Körper der Luft preiszugeben. Aber die Kameraden sollten daran denken, daß der Straßenstaub der Haut schädlich ist. Daher ist es verboten, auf den Straßen nackt herumzulaufen.«
Der Sonnenschein Kaukasiens und der Krim ist jedoch das einzige Stimulanz, das selbst beim Spiel in der Sowjetunion ein Lächeln hervorruft. Ich beobachtete eine Anzahl Arbeiter, die auf den ehemals vorzüglichen Billards des Hotel National Billard spielten. Im Verlauf von 25 Minuten lächelte auch nicht ein einziger. Ich beobachtete eine Anzahl Tennisspieler am Ufer der Moskwa, nicht ein Mensch, weder von den Spielern noch von den Zuschauern, verzog während einer halben Stunde sein Gesicht zu einem Lächeln. Sport gilt vor dem Gesetz als ernste Pflicht und nicht als Vergnügen. Spiele werden zur geistigen Gesundung, nicht zur Unterhaltung, gefördert.
Diese Ernsthaftigkeit ist eines der grundlegendsten Kennzeichen der kommunistischen Einstellung dem Leben gegenüber. Seine höchste Blüte erlebte sie in der Lehre des Fünfjahresplans und zum zartesten Strauß entwickelte sie sich in dem Fünfjahresplan für Schach und Damespiel. Dies ist kein Witz, sondern eine tödlich ernste Angelegenheit. Diese beiden uralten Spiele, seit Jahrhunderten so frivol von leichtherzigen Generationen von Bürgern gespielt, mußten organisiert, proletarisiert, sozialisiert, leninisiert und in den Plan eingefügt werden.
Kein Geringerer als N. B. Krylenko, Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, ist für den Fünfjahresplan für Schach und Damespiel verantwortlich. Selber ein passionierter Schachspieler, veranstaltete er 1925 in Moskau das internationale Schachturnier, das erste internationale Treffen in der Sowjetunion. Schach hat hier eine gesunde Tradition, spielte doch Lenin in seiner Jugend Schach.
Unter diesen günstigen Auspizien trat die Union der Schach- und Damespieler-Konferenz zusammen, um mit anzuhören, wie der Generalbevollmächtigte den Fünfjahresplan für ihre Spiele auslegte. Die Leute kamen in dem Glauben, es handle sich um Spiele, sie gingen fort in der Überzeugung, Schach und Dame wären Aufgaben.
»Fort«, rief Krylenko, »fort mit dem Schach um des Schachs willen. Turniere und Wettstreit jeder Art müssen dem schöpferischen Geist der Masse dienen, sind aber nicht Selbstzweck. Wir müssen mit der Neutralität der Schach- und Damebewegung aufräumen, ein für allemal, dem Schlagwort Schach um des Schachs willen, Dame um der Dame willen ein Ende bereiten, genau wie wir das mit dem Schlagwort Part pour Part getan haben.
»Das Planelement muß zur Geltung gelangen. Wir müssen Brigaden von Schach- und Dame-Stoßtruppen organisieren, die Durchführung des Fünfjahresplans für Schach und Dame ist unsere vordringlichste Aufgabe.«
In diesem Moment erhob sich Kamerad Yarimaeyeff und verlas die für Schach und Damespiel aufgestellten Produktionsziffern. 1929 gab es, so sagte er, 380 000 Schach- und Damespieler. Bis 1. Oktober 1932 bzw. 1933 müßte diese Anzahl auf 4 000 000 erhöht werden. Dies bedeute eine Verzehnfachung des gesamten schach- und damespielenden Personenstandes Rußlands, oder eine jährliche Vermehrung von usw., usw. »Der Standard des Schach- und Damespielens müsse gehoben werden«, schloß der Redner.
Kaum weniger bemerkenswert ist der Plan für die Kunst. Auf Grund des Planes sollen sämtliche Maler und Bildhauer in der Sowjetunion katalogisiert werden, und nur wenigen wird die Aufgabe, Originalgemälde zu schaffen, zugebilligt. Die Gemälde werden von einer Kommission geprüft und dann als Norm für Massenproduktion bestimmt. Die anderen Künstler von geringerer Qualifikation nehmen diese Normalkunstwerker als Vorbilder und vervielfältigen sie in Massen in Ateliers, die vermutlich mit laufenden Bändern ausgerüstet werden.
Normung des Lebens und der Persönlichkeiten, die häufig als einer der großen Fehler unserer industriellen Zivilisation den Vereinigten Staaten vorgeworfen werden, scheint bestimmt zu sein, in der Sowjetunion auf ein neues und eindrucksvolles Niveau gehoben zu werden.