Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nimm einen Globus und suche das unzugänglichste Gebiet auf dem Antlitz der Erde. Du wirst sehen, daß es auf sämtlichen Kontinenten keinen Ort gibt, der so sicher geschützt daliegt wie die Talsteppe des Urals. 2000 Meilen liegt sie von der nächsten europäischen Grenze entfernt; im Norden schützen sie Tausende von Meilen Wald und die Polarregion, und im Süden die Wüsten Zentralasiens, die gewaltigen Höhen des Hindukush. Eingekreist von den eigenen Bergen, durch riesige Entfernungen von der Außenwelt getrennt, stellt die Talsteppe des Urals eine Festung ohnegleichen dar.
Als weiße Armeen an die Pforten des roten Moskaus klopften, erklärte Lenin: »Falls sie die Stadt einnehmen, wird sich die Sowjetregierung nach dem Ural zurückziehen.« Zu jener Zeit bedeutete Rückzug nach dem Ural lediglich Zuflucht hinter Meilen.
Heute würde es bedeuten Zuflucht auf den Schauplatz riesiger industrieller Entwicklung, morgen würde es bedeuten Zuflucht in das Bollwerk eines militärischen, industriellen Werkes, fähig, ein Heer von Millionen mit der gesamten Kriegsmunition, vom Roherz an bis zu dem verarbeiteten Stahl, den Tanks und Geschützen und Chemikalien künftigen Kampfes zu versorgen.
Wenn man hier in Cheliabinsk in der Mitte der rasch in die Höhe schießenden Mauern der größten Traktorenfabrik der Welt steht, wird man unwillkürlich an die Bemerkung der Isvestija, des offiziellen Organs der Sowjetregierung, erinnert, daß »die Herstellung eines Tanks und eines Traktors sehr vieles miteinander gemeinsam haben. Selbst Artillerie, Maschinengewehre und Gewehre ließen sich erfolgreich in kommerziellen Industrien herstellen.«
Nationale Verteidigung hat nicht für den Beginn, sondern auch bei den geographischen Anordnungen des Fünfjahresplans eine sehr große Rolle gespielt. Es mußte jedem Kenner des Planes auffallen, daß einige der bedeutendsten Projekte an Orte verlegt wurden, wo früher keine Industrie existierte, wo keine Bevölkerung lebte, um die Industrieprodukte aufzunehmen. Zum Teil zielte diese Verlegung auf eine rationellere Verteilung der Bevölkerung ab, zum Teil lag der Grund in natürlichen Hilfsquellen und zum Teil spielten dabei militärische Erwägungen eine Rolle.
Der Ural-Sibirische Industriekomplex ist wahrscheinlich durch diese letzteren Erwägungen stärker beeinflußt worden als irgendein anderer geographischer Teil des Planes. Magnetogorsk, Cheliabinsk, Kuznetz, Kizil, Nishnij Tagil, Bereznikow, Bakal, Chasavaya, Karagadar, diese seltsamen Namen werden vielleicht eines Tages dem fremden Ohr vertrauter klingen. Heute zaubern sie Kohle, Eisen, Kupfer, Stahl, elektrische Energie, Traktoren und Chemikalien hervor.
Der Ural hat innerhalb des Fünfjahresplans seinen eigenen Plan. In diesem Jahr erzeugte er 800 000 Tonnen Eisen und Stahl, und im nächsten Jahr wird er 1 100 000 Tonnen erzeugen.
Das mehrere Male nach oben revidierte Ziel des Plans sind 6-7 000 000 Tonnen Stahl und 8 000 000 Tonnen Gußeisen im Jahre 1933. Magnetogorsk wird an der Spitze marschieren, aber die Fabriken in Nishnij Tagil und Bakal werden dazu beitragen, den Anteil des Urals an der Sowjet-Eisen- und Stahlerzeugung auf fünfzig Prozent der Ausbeute des ganzen Reiches zu heben. Kohlen aus dem Kuznetzbecken, von Kizil, Chasavaya, Karagadar; Kupfer aus den Schmelzöfen von Bogomolow; Aluminium von Alapaewesk; salpetersaure Salze, Schwefelsäure, Kali, Phosphate von Bereznikow, Saldinsk, Solikamsk und Traktoren von Cheliabinsk sind alles Bestandteile des Uralplans. Sie alle fallen unter die Bemerkung der Isvestija: »Wir müssen sämtliche Metallindustrien in einer Weise ausbauen, daß die Herstellung der erforderlichen Mengen an Waffen und Munition gewährleistet ist.«
Nach dem festen Glauben bolschewistischer Schwarzseher ließe sich die gegenwärtig in Cheliabinsk im Bau befindliche Traktorenfabrik fast momentan zu militärischen Zwecken gegen den erwarteten Angriff der kapitalistischen Welt umwandeln. Ihre Produktion von 50 000 zehntönnigen, 60 PS starken Raupenschleppern pro Jahr ist Tanks so ähnlich, daß man tatsächlich von einem Tanktyp spricht. Trotz seiner Größe und seiner Bedeutung ist das Cheliabinsker Werk noch nie von einem ausländischen Korrespondenten besucht worden.
Die Ausmaße der Fabrik sind eindrucksvoll. Das Montagewerk ist auf diesem Gebiet der größte Bau auf der Welt. 644 Meter lang und 196 Meter breit nimmt es eine Fläche von sechseinhalb Hektar ein. Die Montagehalle könnte 21 amerikanische Fußballplätze fassen und es bliebe noch genügend Platz für Ankleideräume für die Spieler. Die 336 Meter lange und 276 Meter breite Gießerei würde für 14 Fußballplätze ausreichen, während die Schmiede mit 295 Meter Länge und 184 Meter Breite für neun Platz böte.
Noch eindrucksvoller als diese Ziffern wirkt es, wenn man an einem Ende der Montagefabrik steht und über eine lückenlose Reihe von dreiviertel Meilen langen Betonfundamenten blickt.
»Dort«, erklärte der Chefkonstrukteur in Cheliabinsk, John K. K. Calder aus Detroit, »wo das Pferd und der Wagen gerade die Straße kreuzen, ist das Ende des Gebäudes.« Pferd und Wagen hoben sich als winzige Pünktchen gegen die ausgeschachtete, braune Erde ab.
Es ist schwierig, einen Gesamtüberblick über die Cheliabinsker Fabrik zu erhalten, ist sie doch zu groß, um mit einem einzigen Blick überschaut werden zu können, und außerdem gibt es dort keine Erhebungen, von denen aus man sie richtig zu überblicken vermag. Um den vollen Eindruck zu haben, muß man eine Stunde lang den ganzen Bauplatz umschreiten, wie ich es mit Calder im Gespräch über den Fortschritt der Arbeit, über die weiteren Aussichten und über seine Erfahrung in der Sowjetunion tat.
Hochgewachsen, einen Schnurrbart über dem energischen Mund und schön, ist Calder der Typus eines Amerikaners, wie man ihn sich unwillkürlich vorstellt, wenn man an die phantastischen Ingenieur arbeiten in den fernsten Winkeln der Erde denkt. Als er als einer der ersten amerikanischen Ingenieure nach der Sowjetunion kam, um unter dem Fünfjahresplan zu arbeiten, verfügte er bereits über eine reiche Erfahrung auf dem Gebiete des Industriebaus in Amerika. Seine erste Aufgabe war die Stalingrader Traktorenfabrik. Er vollendete sie in sechs und einem halben Monat, viel rascher als der Plan es vorsah. Dieser Erfolg, sein Eifer und seine Furchtlosigkeit brachten ihm die Auszeichnung, die mit ihm unter den Amerikanern nur noch Oberst H. L. Cooper teilt, einer der ganz wenigen Ausländer zu sein, der zu persönlichen Besprechungen mit dem unnahbaren Joseph Stalin hinzugezogen wird. Calders Persönlichkeit ist wert, als Beispiel für jenen Typ amerikanischer Ingenieure zu dienen, die bei der Durchführung des Fünfjahresplans mithelfen.
Neben Calder wirken in Cheliabinsk Henry Hendrickson aus Cleveland, J. K. Mc Elroy und R. D. Spencer aus Detroit. Diese drei bilden mit der Familie Calder zusammen hier die ganze amerikanische Kolonie.
Der erste Spaten Erde wurde am 20. Juli 1930 auf dem Cheliabinsker Fabrikgelände mit einer Feier ausgehoben, bei der Calder als Redner, von einer roten, mit revolutionären Sprüchen gezierten Plattform, zwischen Mitgliedern der jungen kommunistischen Internationale mit gezogenen Säbeln, als Symbol für den Kampf um die Industrialisierung, stehend, eine Ansprache hielt.
Wenige Monate nach dem ersten Spatenstich sind 600 000 Kubikmeter Erde ausgehoben, 12 000 Kubikmeter Beton hineingeschüttet und die Fundamente fertiggestellt worden. Die Stahlkonstruktionen könnten auch bereits stehen, wäre das Material zur Verfügung gewesen. Knappheit an Stahl, von dem 32 000 Tonnen zur Fertigstellung der Fabrik benötigt werden, bildet in Cheliabinsk den Hauptklagegrund. Die Magnetogorsker Fabrik soll den Stahl für die Herstellung der Traktoren liefern, aber Magnetogorsk wird planmäßig nicht rechtzeitig fertig, um schon den Baustahl für Cheliabinsk zu liefern.
Auch Arbeitermangel stand dem Fortschritt hemmend im Wege. Gegenwärtig sind an dem Gesamtprojekt einschließlich der Errichtung der Arbeiterstadt 12 000 Mann am Werk, von denen 2000 an den Fabrikbauten arbeiten. Mindestens 7000 werden aber noch benötigt. Die Cheliabinsker Traktoren-Baugesellschaft benutzt die gleichen Rekrutierungsmethoden, die in Magnetogorsk zur Anwerbung angewandt werden. Sie entsendet Agenten, um in ganz Rußland Arbeiter aufzutreiben, aber der Zustrom hält noch immer nicht mit der Nachfrage Schritt.
Die Leistungsfähigkeit der Arbeiter soll in Cheliabinsk auch nicht so groß sein wie in Magnetogorsk, da Magnetogorsk trocken, Cheliabinsk dagegen sehr feucht ist. Die Behörden konnten in Magnetogorsk Prohibition erzwingen, da der Ort sehr abgelegen ist. In Cheliabinsk, einer Stadt, die bereits vor Beginn der Traktorenfabrik eine Bevölkerung von 90 000 Köpfen besaß, war Prohibition technisch unmöglich. Heute erschienen auf einem Abschnitt der Fabrik 40 Arbeiter nicht, weil sie ihren gestrigen Ruhetag mit Wodka gefeiert hatten.
Nach Angaben von V. V. Borisoff, dem Vizepräsidenten der Cheliabinsker Traktorstroy, beläuft sich der Durchschnittslohn der Arbeiter auf 3-4 Rubel, aber zahlreiche Arbeiter verdienen bis zu zwölf Rubel pro Tag. Die Folge hiervon war, erklärte Borisoff, daß »der gesamte Champagner in Cheliabinsk schon längst ausgesoffen ist«.
Diese Überschrift könnte Zweifel erregen, aber tatsächlich machte man hier in Cheliabinsk wieder die gleiche Beobachtung, daß die Ernährungsverhältnisse und die materiellen Bedingungen für die Arbeiter an der industriellen Front spürbar besser sind als die ihrer Kameraden und der gesamten Bevölkerung in Moskau.
Die Uralkälte zwang mich, eine wollene Decke zu kaufen. Mit einer Anweisung auf die Magazine der Gesellschaft versehen, besuchte ich die Warenlager. Jedes Warenlager war etwa 50 Meter lang, 25 Meter breit und vom Boden bis zum Dach 10 Meter hoch. Das Innere eines dieser Warenlager war schon fast die Reise nach Cheliabinsk wert. Vom Boden bis zum Dache mit Waren angefüllt, enthielt es Tausende von Decken, Stiefeln, Schuhen, Überschuhen, dicken Schaffellstiefeln und Tuch, genügend um wenigstens 2000 Menschen reichlich zu versorgen. Im ganzen gab es sieben derartige Warenhäuser. Sie enthielten sicherlich größere Mengen von Vorräten als sämtliche Detailgeschäfte in Moskau zusammen. Der Besuch warf von neuem Licht auf die Frage, wo sich in Rußland Waren befinden und bestätigte die Annahme, daß die Regierung ihre Hilfsquellen an den Orten konzentriert, wo wichtige Arbeiten im Gange sind.
Weit hinter dem Fabrikbau zurückgeblieben ist der Bau der Wohnhäuser und anderer Gebäude in der Arbeiterstadt. Im ganzen sollen 256 Mietskasernen für eine Bevölkerung von 60 000 Köpfen errichtet werden, aber bis heute sind erst vier erbaut, und von dem gesamten Stadtbauprogramm in diesem Jahre nur 30 Prozent bewältigt worden.
Die Inneneinrichtung für die Hauptfabrik, die nicht vor dem 1. Mai 1932 ihren Betrieb eröffnen wird, ist noch nicht gekauft worden, wohl aber wurde bereits die Bestellung für die Einrichtung einer Versuchsfabrik zur Herstellung von 100 Versuchstraktoren pro Jahr aufgegeben. Sobald die Ausrüstung für die Hauptfabrik, die zum größten Teil aus Amerika bezogen werden soll, zur Vergebung gelangt, können die amerikanischen Maschinenfabrikanten aus dieser Quelle Aufträge im Betrage von 12 bis 15 Millionen Dollar erwarten. In die gesamte Anlage werden etwa 170 Millionen Rubel investiert werden.
Die Versuchsfabrik bietet ein interessantes Beispiel für die industriellen Praktiken der Sowjets. In der Sowjetunion gibt es hinsichtlich der Bezahlung für ausländische Patente keine gleichmäßige Regel. Im Falle der Ford-Fabrik in Nishnij Nowgorod leistete die Sowjetregierung für die Patente Zahlung. Nach den Angaben Borisoffs sind hier in Cheliabinsk keine Vereinbarungen über eine Bezahlung für die Verwendung der Patente getroffen worden, obwohl sich die herzustellenden Traktoren sehr eng an die Konstruktionspläne der seitens der Caterpillar Company hergestellten Maschinen anschließen werden.
In der Versuchsfabrik werden Traktoren aller bekannten Marken aus der ganzen Welt auseinandergenommen und untersucht und die zweckmäßigen Konstruktionen für die Sowjetregierung verwendet werden. Unabhängigkeit von bourgeoisen Vorurteilen in bezug auf privates Patenteigentum verleiht der Sowjetindustrie eine einzigartige Vorzugsstellung.
Das Problem der Beschaffung geschulter Arbeiter für die Traktorenfabrik, sobald diese mit ihren Arbeiten beginnt, beabsichtigen die Sowjetbehörden, genau wie in Stalingrad, mit Hilfe Amerikas zu lösen. Zunächst wird die Versuchsfabrik, die im Januar 1931 ihren ersten Traktor herausbringen soll, 4000 Arbeiter im Verlaufe des Jahres zu Fabrikarbeitern heranbilden und diese Anzahl an die Haupttraktorenfabrik abgeben, sobald diese für deren Aufnahme bereitsteht. Wichtiger jedoch wird die Einfuhr von 350 bis 400 erstklassigen amerikanischen Arbeitern sein, unter ähnlichen Bedingungen wie jene, unter denen die amerikanische Kolonie in Stalingrad nach Rußland berufen wurde. Nach Borisoff sollen diese Leute im kommenden Jahr in Detroit angeworben werden.
Es war mir interessant, von Borisoff zu erfahren, daß trotz der gelegentlichen unglücklichen Zwischenfälle in der Stalingrader Fabrik die Sowjetregierung immer noch die Überzeugung hegt, daß es die beste Methode sei, eine russische Fabrik in Gang zu setzen, sie mit amerikanischen Vorarbeitern zu bemannen. Man muß sich auch dringend die Frage vorlegen, weshalb die Fabrik, die unter amerikanischer Aufsicht erbaut, mit amerikanischen Maschinen ausgestattet und ein ganzes Jahr lang mit Hilfe einer großen Belegschaft amerikanischer Vorarbeiter in Gang gesetzt wird, nicht an Menge und Qualität eine Produktion fördern sollte, die zum mindesten dem Ergebnis einer ähnlichen Fabrik in Amerika sehr nahekommt? Zahlreiche amerikanische Ingenieure, die in der Sowjetunion tätig sind, erwiderten auf diese Frage: »Es bestünde kein Grund anzunehmen, weshalb die Produktion nicht dem vorgesehenen Plane entsprechen sollte.« Sie wären überzeugt davon. Diese Erwägung gilt nicht nur für Cheliabinsk, sondern für eine ganze Reihe wichtiger Unternehmungen unter dem Fünfjahresplan.