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Man stelle sieh Times Square um 5 Uhr am Nachmittag vor, und man stelle sich weiter vor, jeder einzelne der 10 000 Menschen habe sich ein großes Klavier und einen Teekessel auf den Rücken geschnallt, dann hat man eine ungefähre Vorstellung von dem Wartesaal in Sverdlowsk. Dieser Wartesaal hätte einem amerikanischen Korrespondenten um ein Haar das Leben gekostet.
Die Gefahr lag darin, daß er dicht neben dem Durchgang stand, der die große Halle in zwei riesige Säle teilt. In jedem dieser Räume lagen vielleicht 500 Bauern auf dem rissigen Ziegelboden hingestreckt, die einzelnen Familien dicht aneinander gedrängt, einer mit dem Kopf in des anderen Schoß schlafend, die Füße auf des anderen Gesicht gelegt. Schnarchend, daß die Luft, dick wie Gulasch, wiederertönte. Die graue Masse dieser Menschen bedeckte die beiden Säle von einem Ende zum anderen, und nur ein schmaler Weg, gerade breit genug für einen dick mit Gepäck belasteten Menschen, führte zu dem Bahnsteig.
Plötzlich rasselte ein Zug in die Station. Ein russischer Zug kommt stets überraschend, denn nicht einmal der Stationsvorsteher ahnt, wann er eintreffen wird. Die Neuigkeit erzeugte einen Tumult unter den schlafenden Massen. Fünfhundert Männer, Frauen und Kinder sprangen empor, rafften ihren Krimskrams, Matratzen, Hühnerkörbe, Bettgestelle, Eimer, Leinen und andere Paraphernalen, die jeder russische Reisende mit sich führt, zusammen und eilten, um den Zug zu erwischen.
Im gleichen Augenblick verließen fünfhundert andere Personen mit der gleichen Menge von Kisten, Bettdecken, Geschirr, Ziehharmoniken, Stühlen, Teppichen und Lebensmitteln den Zug und betraten das Bahnhofsgebäude. An der Durchgangstür stießen die beiden Armeen aufeinander.
Einen Augenblick vermischten sie sich, dann, als der Strom von hinten die Anführer vorwärts trieb, erstarrte und kristallisierte das Ganze zu einer festen menschlichen Masse. Jede Vorwärtsbewegung stockte. Der Strom im Rücken breitete sich aus, überflutete die Station, und in einem Augenblick waren beide Wartesäle mit einer doppelten Lage Bauern angefüllt. Die untere Schicht bestand aus jenen, die den Zug nicht zu erreichen brauchten und immer noch auf dem Fußboden lagen.
Ein Brüllen erhob sich. »Kamerad!« kreischten alle gleichzeitig. »Kamerad, mach' Platz!«
»Kamerad!« kreischten die bisherigen Schläfer, »Kamerad, geh von meinem Gesicht herunter!«
Wahrscheinlich wäre Blut geflossen, hätte irgendeiner in der Menge seine Hände freigehabt, aber von den tausend Menschen kämpfte jeder einzelne mit seinem Gepäck.
Der Andrang wuchs. Ein riesenhafter Bauer, gut 6 Fuß 4 Zoll groß, der auf seinem Rücken einen so großen und so seltsam gestalteten Sack schleppte, daß er sehr wohl ein kleines Pferd hätte enthalten können, stand die ganze Zeit über, ohne sich zu rühren, ganz vorne. Seine mächtigen Schultern beugten sich unter der Last. Eine Frau schrie auf. Der riesige Bauer reckte sich und stürzte mit dem Gebrüll »Kameraden! Platz!« vorwärts.
Er diente als Sturmbock. Er zerbrach das Eis, und in einer halben Stunde war der Bahnhof bis auf seine üblichen tausend Schläfer geleert und so ruhig, daß die Mütter ihre Säuglinge mit Schwarzbrot von dem Familienlaib füttern konnten.
Niemand, der es nicht miterlebt hat, kann das Gedränge des Personenverkehrs auf den russischen Eisenbahnen heute würdigen. Irgendwo in Rußland einen Zug besteigen, ist eine Heldentat, die nur ein starker und entschlossener Mensch zu vollführen vermag. Reisen ist nicht eine Aufgabe, Reisen ist ein Jammer. Die Besorgung von Billetts nimmt eine Woche in Anspruch.
Dies bezieht sich nicht auf die internationalen Linien, auf die Routen mit Schlafwagen. Mit Hilfe des Sowjet-Reisebüros »Intourist« kann der 1.-Klasse-Reisende auf diesen Routen einen Schlafwagen erhalten, so bequem wie nur irgendwo in Europa. Es gilt für das übrige Rußland, und das bedeutet für nahezu das gesamte Rußland.
Die ungeheure, durch den Fünfjahresplan in Gang gesetzte Betriebsamkeit ist die erste Ursache dieses anormalen Verkehrs. Die zweite Ursache liegt in der Unzulänglichkeit der Eisenbahn. Und die Unzulänglichkeit der Eisenbahnen wiederum wird zum guten Teil für diesen anormalen Verkehr verantwortlich gemacht.
Hier auf der zugegebenermaßen schlechtesten Bahn in der Sowjetunion, ja, der voller Stolz als schlechtesten bezeichneten, auf einem Zug, der zweier Tage und dreier Nächte bedarf, um 1000 Meilen zu durchfahren, der hunderte von Meilen mit einem Tempo von 5 Meilen pro Stunde weiterschleicht und stundenlang inmitten der Steppe stehenbleibt, damit die Lokomotive sich ausruhen kann, scheint die Gelegenheit günstig, den Verkehrsplan des Fünfjahresplans zu erörtern.
Diese Bahn ist das einzige Verkehrsmittel zwischen der äußeren Welt und Magnetogorsk, dem riesigen, gegenwärtig im Bau befindlichen Stahlwerk im Herzen des Urals, 1000 Meilen südlich von Sverdlowsk und 180 Meilen im Inneren des Urals. Diese Fabrik ist eben erst begonnen worden, und diese Bahnlinie oder wenigstens der Abschnitt von Troitzk bis nach Magnetogorsk ist soeben erst gelegt worden.
Die erfolgreiche Vollendung und der erfolgreiche Betrieb der Magnetogorsker Fabrik hängt unmittelbar von der Leistungsfähigkeit dieser Bahn ab. Die Bahn von Kartali ist ohne Unterbau direkt über die Steppe gelegt worden. Als neue Verkehrsstraße darf man sie natürlich nicht mit der Pennsylvania vergleichen, aber auch an sich betrachtet ist die Qualität der Lokomotive entmutigend.
An einem Punkte inmitten der Steppe brach sie zusammen, und zwei Stunden lang arbeiteten der Lokomotivführer und der Heizer an einer Reparatur, die wahrscheinlich selten auf offener Strecke ausgeführt worden ist. Sie lösten den ganzen Vorderteil der Feuerung ab, und während die Passagiere auf freiem Felde herumlagen, mit Blechkannen Fußball spielten oder dastanden und das schwitzende Paar verspotteten, schaufelten sie die Asche heraus, die sich monatelang dort angesammelt haben mußte.
Die Lokomotive, eine russische Maschine, war 1908 gebaut. Daß das Sowjet-Eisenbahnsystem heute noch gezwungen ist, 22 Jahre alte Lokomotiven zu verwenden, gibt eine ungefähre Vorstellung von dem Zustande ihres fahrenden Materials. Es erinnert an die Tatsache, die gleichfalls für den Sowjetstandard kennzeichnend ist, daß von einer Zugbesatzung von 15 Mann auf dem berühmten transsibirischen Expreß von Moskau nach Sverdlowsk nur zwei Uhren besaßen, von denen eine dem Lokomotivführer, eine dem Oberkondukteur gehörte. Der Koch in dem Speisewagen erklärte, er könne nur harte Eier kochen, weil der Kondukteur ihm seine Uhr nicht leihen wollte und der Lokomotivführer zu weit weg wäre.
Unser Zug besteht aus 10 Personen- und 4 Güterwagen. Die Güterwagen sind gleichfalls mit Passagieren angefüllt, lauter für Magnetogorsk bestimmte Ingenieure und Arbeiter. Im ganzen handelt es sich um 30 Ingenieure und 200 Arbeiter. Infolge der Einbuße von 30 Stunden über die normale Reisezeit von Sverdlowsk nach Magnetogorsk hat das Sowjet-Wirtschaftssystem 900 Ingenieurstunden und 6000 Arbeiterstunden verloren, von denen ein erheblicher Teil der Arbeit hätte geweiht werden können, für welche die Leute angestellt worden waren. Dies ist nur ein kleines Beispiel. »Magnetostroy« hat ihnen ihre Löhne von dem Augenblick ihrer Anstellung an versprochen, in welchem Teile Rußlands das auch der Fall gewesen sein mag, und die verlorengegangene Zeit ist nicht ihre Zeit.
Nachdem der alte »Samovar« endlich wieder in Ordnung gebracht war, rumpelten wir mit einer Geschwindigkeit wieder weiter, daß man sich schon hätte in Trab setzen müssen, um gleichen Schritt zu halten.
In langen Zwischenräumen kamen wir auf der Steppe an einem Kirgisendorf vorüber mit vier oder fünf domförmigen, aus alter geflickter Leinwand errichteten Jurten. Ein einsamer Pferdehirt betrachtete zusammen mit seiner Pferdeherde unser lahmes Vorwärtskommen. Wir konnten unsere Geschwindigkeit noch besser würdigen, als wir einen Ochsenkarren überholten, das einzige Verkehrsmittel, das noch langsamer war als das unsrige.
Zwei Stunden hielten wir in Anninsk, einem winzigen Dörfchen, dessen Kirche es als russisch kennzeichnete. Langsam kletterten die Passagiere heraus und zerstreuten sich. Einige gingen nach dem »Kipyatok« wegen Tee, andere besahen sich einen braunen, an einen Holzpflock geketteten Bären, andere besuchten das Restaurant, um Essen zu kaufen. Anninsk erwies sich als restlos von allen Lebensmitteln entblößt, bis auf zwei Flaschen gegorener Stutenmilch, die eine zerlumpte Kirgisin feilbot.
Bei Dunkelheit erreichten wir das Bahnbaulager »Jabik«, das aus einem Dutzend von den Rädern heruntergenommenen und zu Wohnräumen für Arbeiter umgestalteten Güterwagen bestand. Auf einem Nebengeleise stand ein hübscher Waggon mit sauberen Fenstern, der durch seine Schmuckheit auffiel. Die Aufschrift lautete: »Klubwagen, geöffnet von 11 Uhr vormittags bis 7 Uhr nachmittags.« Es handelte sich um ein Wandertheater und einen Klub für Bahnarbeiter, finanziert von der Eisenbahngewerkschaft, der von Lager zu Lager geschickt wurde, um das Leben der Leute auf isolierten Posten erträglicher zu gestalten.
Jedes Lager erhielt durchschnittlich einmal im Monat einen Besuch von einem Klubwagen. Jeder Wagen führte 15 Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger und Rezitatoren und Kabarettisten mit, die im Durchschnitt 200 Vorstellungen im Jahre gaben. Ein Drittel des Waggons bietet diesen Leuten Unterkunft, die restlichen zwei Drittel sind am Tage ein Klubzimmer mit Schach, Damespiel, Phonograph und Radio; abends dient dieser Teil als Bühne und Zuschauerraum.
Der Klubwagen soll die Moral der Bahnarbeiter heben. Wie dringend sie moralischer Unterstützung bedürfen, kann man manchem der Kommentare über das Transportwesen in der Sowjetpresse entnehmen. Statistische Angaben über das Jahr 1929 stehen jetzt zur Verfügung und sie zeigen, daß während der letzten 12 Monate auf den 52 000 Meilen Bahnstrecke in der Sowjetunion 30 000 Unglücksfälle von so ernsthafter Natur vorkamen, daß 1000 Menschen getötet und 2000 für ihr Leben verstümmelt wurden. Die Anzahl der Zusammenstöße nahm im verflossenen Jahr um 50 Prozent zu, die Anzahl der Getöteten um 300 Prozent und die Anzahl der beschädigten Lokomotiven und Wagen um 100 Prozent. Allein im Monat August ereigneten sich 2249 ernste Unfälle, bei denen 133 Personen getötet, 254 schwer verletzt, 384 Lokomotiven und 1638 Waggons vollständig zerstört wurden. Ein Viertel sämtlicher Lokomotiven der Sowjetunion, gegenüber 11 Prozent im verflossenen Jahr, waren in diesem Jahr nicht mehr reparaturfähig. Während im ganzen verflossenen Jahr 1920 Lokomotiven beim Verkehr beschädigt wurden, gingen allein im Monat Februar 1930 1220 unterwegs entzwei. Am wichtigsten sind Gütertransporte. Dem Plan entsprechend sollten sie durchschnittlich täglich nicht weniger als 63 000 Waggons betragen, tatsächlich betragen sie aber nur rund 47 000. All dieses sind offizielle Sowjetangaben.
Am schlimmsten wirkt sich diese Schwäche der Eisenbahnen auf die Verteilung der Lebensnotwendigkeiten und auf die Erfordernisse des Fünfjahresplans aus. An einem Tage des September unternahm das Kommissariat des Verkehrswesens eine Revision und berichtete, daß 1120 mit Waren beladene Güterwagen und 1803 mit Getreide beladene Waggons auf den Bahnhöfen des Leningrader Hafens ständen, in Erwartung entladen zu werden und sich dort schon seit Wochen befunden hätten.
Die Überfüllung der Leningrader Bahnhöfe hatte es erforderlich gemacht, von Moskau nach Leningrad bestimmte Waggons auf Seitengeleise abzuschieben und sie manchmal tagelang auf Stationen hunderte von Meilen von ihrem Bestimmungsort entfernt stehen zu lassen.
Infolgedessen mangelt es den Städten auch an jenen Nahrungsmitteln, die auf dem Lande erhältlich sind. Infolgedessen kann die Sowjet-Industrie ihre Erzeugnisse nicht verwenden und auch nicht rechtzeitig die Rohmaterialien, das Brennmaterial und die Ausrüstungsgegenstände, deren sie bedarf, heranschaffen.
Trotz dieser betrübenden Tatsache ist es richtig, daß während des soeben beendeten Jahres das Sowjet-Bahnsystem im Durchschnitt 9500 Waggons mehr belud als 1928–29, das macht im Jahre ein Plus von 3 500 000 Waggons. Trotz aller Fehlschläge hat sich das Bahnsystem gegenüber den früheren Berichten gebessert, aber es konnte noch nicht mit dem Fünfjahresplan Schritt halten.
Früher war die Desorganisation des Eisenbahnsystems der Sowjetunion erheblich ärger als heutzutage. Während der großen Hungersnot von 1920/21 gab es im Lande genug Nahrungsmittel, aber es bestand keine Möglichkeit zu ihrer Verteilung. Lenin schrieb: »Bedingungslose Unterordnung unter einen einzelnen Willen ist für den Erfolg der Eisenbahnen wesentlich.« Zu spät, um die Hungersnot zu vermeiden. Felix Djerjinsky wurde zum Diktator des Eisenbahnwesens ernannt. Er schuf Ordnung aus dem Chaos und errichtete aus Rußlands rostendem Bahnmaterial ein neues System. Heute droht der Fünfjahresplan das System zu überschwemmen. Nicht der Hunger, sondern die Industrie fordert herrisch Verbesserungen. Djerjinsky ist tot. Haben die Sowjets einen Nachfolger für ihn?