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Längs der 1100 Meilen langen Strecke von Moskau nach Sverdlowsk gab es an den fünf Bahnhofsrestaurants nichts zu kaufen außer Schwarzbrot. Auf sechs Stationen sah man auf dem Büfett nur Küchenschaben.
In Viatka enthielten die Warenlager lediglich Fußdecken und Weihnachtskerzen. In dem Sowjet-Reiseführer wird Viatka mit einer Bevölkerung von 70 000 Einwohnern als »ein wichtiges Handelszentrum« bezeichnet.
Hier in Azbest, einer so unbekannten Stadt, daß das Fremdenbüro in Moskau nie etwas von ihrer Existenz gehört hatte, und so fern gelegen, daß sich noch nie ein russischer Reporter dorthin verirrte, lebt heute eine Bevölkerung von 55 000 Seelen, wo es vor zwei Jahren nur 10 000 gab, und diese Bevölkerung verfügt über mehr Nahrungsmittel als sämtliche Städte zwischen Moskau und Sverdlowsk und über mehr Warenvorräte als das »wichtige Handelszentrum« Viatka. Denn Azbest, so unbedeutend es ist und so fern es liegt, ist ein Industriezentrum, und während des Fünfjahresplans wandern sämtliche zur Verfügung stehenden russischen Lebensmittel, Kleider und Schuhe nach den industriellen Zentren, nach den Orten, wo das wichtige Werk des Planes vor sich geht.
Über die düsteren Aussichten in Moskau herrscht kein Streit. Beurteilt man den Fünfjahresplan nach der Hauptstadt, dann wäre man zu dem Schlusse geneigt, daß der Fehlschlag des Planes nicht nur besiegelt, sondern bereits Wahrheit geworden ist. Hier auf den Vorposten fängt man an, diesen Eindruck zu bezweifeln und die Moskauer Aussichten skeptisch zu betrachten.
Etwa 36 Meilen von Sverdlowsk und 20 Meilen nördlich von der transsibirischen Bahn gelegen, stellt Azbest, trotz seiner Unbekanntheit und Abgelegenheit, einen Ort dar, dessen Besuch sich für einen Untersucher des Fünfjahresplans lohnt, denn innerhalb seiner von Wald umgebenen Grenzen finden sich die meisten örtlichen Faktoren, die zugunsten und gegen den Plan arbeiten, die Faktoren, die Rußland unter dem Plane so widerspruchsvoll und so überraschend gestalten.
Von Bajenowa, wo die transsibirischen Expreßzüge gemächlich vorüberfahren, ohne ihre 30 Meilen Stundengeschwindigkeit zu mäßigen, führt der Weg über eine Schmalspurbahn mit einer winzigen Lokomotive, nicht größer als ein mittlerer Traktor, nach Azbest. Am späten Abend sprang ein Hirsch von den Schienen herunter und stand schnaubend, voll Erstaunen über unseren lächerlichen kleinen Zug, beladen mit mehreren hundert Arbeitern, deren Frauen und unzähligen Säuglingen, während die Lokomotive zwischen dunklen Mauern von Kiefern weiterdampfte und Funkengarben in den nächtlichen Himmel wirbelte.
Zwei Stunden ratterten wir weiter. In dem ganzen aus zehn Waggons bestehenden Zuge befand sich nur eine einzige Kerze. Die Sterne schienen so hell, daß man hinausblicken und den völligen Mangel menschlicher Behausung längs des Weges feststellen konnte. Der Wald, durch den wir fuhren, erstreckt sich 1000 Meilen nordwärts, bis die hohen Stämme am Polarkreis zu Krüppelholz werden. Man glaubt hier gern, daß die Russen Holz zu einem Preise ausführen können, der die empörten Proteste der Konkurrenten erweckt. Hier stehen die Holzreichtümer, die wir vor einem Jahrhundert besaßen. Jeder Puff unserer Lokomotive führte uns tiefer in die Wälder, die sich immer näher an die Bahnlinie heranschlichen, sich immer höher türmten und sich tiefer zu uns herabbeugten.
Plötzlich rollte der Zug ohne warnenden Schimmer in ein Lichtermeer. Der Wald verschwand am fernen Horizont, und die hellerleuchteten Fenster einer Stadt ließen die Sterne erbleichen. In dieser Stadt von 55 000 Seelen gab es kein einziges Automobil. Es gab dort ein einziges amerikanisches Haus. Ein tänzelndes Mongolenpony nahm uns auf und zog unseren federlosen Wagen in beängstigendem Tempo über die tiefausgefahrenen Wege.
Azbest nimmt unter den industriellen Anlagen des Fünfjahresplans insofern eine einzigartige Stellung ein, als es nur einen amerikanischen Ingenieur besitzt. Der »Ural-Azbest-Trust« erwählte jedoch eine Weltautorität, als er den jungen amerikanischen Asbest-Spezialisten, Walter A. Rukeyser, aus New York berief. Bei jedem Versuch, die Wahrscheinlichkeiten eines Erfolges des Fünfjahresplanes zu beurteilen, ist es erforderlich, sowohl die Qualität wie die Anzahl der amerikanischen Ingenieure in Betracht zu ziehen, die heute der Sowjetrepublik helfen.
In der Sowjetunion arbeiten gegenwärtig etwa tausend amerikanische Ingenieure und wenigstens weitere tausend Deutsche, Italiener, Tschechen, Schweden, Norweger und Briten. Die durchschnittliche Qualität der amerikanischen Quote ist fraglos beträchtlich höher als der allgemeine Durchschnitt der Ingenieure daheim, und unter ihnen befinden sich zahlreiche in ihrem Berufe leitende Köpfe. Nicht nur die ersten amerikanischen Firmen beteiligen sich mittels »technischer Beihilfsvertrage«, sondern die engagierten Persönlichkeiten sind gewöhnlich Männer ersten Ranges. Um diese Leute zu bekommen, hat die Sowjetunion nicht gezögert, Gehälter zu bezahlen, die selbst für Ingenieure, die daheim mehr als einen angemessenen Lebensunterhalt verdienen, ein Lockmittel darstellen.
Wenn es diesen Ingenieuren gelingt, sich den Besonderheiten des Sowjetsystems anzupassen und dessen Erfordernisse zu meistern, eine Fähigkeit, die nicht immer mit Ingenieurtalent verknüpft ist, dann erhalten sie seitens der Regierung bei ihrer Arbeit überraschende Förderung und jede persönliche Erleichterung. Für Ausländer, die in Rußland arbeiten, sind Selbstvertrauen und Mut noch wichtiger als technische Kenntnisse. Ein zugegebener Fehler, einer der schwerwiegendsten der Sowjetindustrie, ist der Mangel an Initiative seitens der Sowjet-Ingenieure, deren Furcht Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen.
Diese Furcht ist wohl begründet, denn während ein Fehler in einem »bourgeoisen« Lande einem Ingenieur vielleicht seine Stellung kostet, kostet er ihm in Rußland, von einem Russen begangen, bestimmt seine Stellung, wahrscheinlich seine Freiheit und vielleicht sein Leben. Von der Überzeugung getragen, daß Intellektuelle dem Proletariat feindlich gegenüberstehen müssen, ist das System der Überwachung, strenger Kontrolle und der Einschüchterung der intellektuellen Klasse, zu der alle nicht mit ihren Händen arbeitenden Menschen gezählt werden, in einem solchen Maße entwickelt worden, daß sehr wenige Sowjet-Ingenieure irgendeine wichtige Entscheidung zu treffen wagen. Um so wertvoller ist es für eine Sowjet-Industrie, Ausländer zu beschäftigen, die ohne Furcht vor persönlichen Konsequenzen und im Vertrauen auf die Richtigkeit ihres Urteils bereit sind, Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen und mit frischer Initiative an ihre Arbeit zu gehen. Dies war nicht der unwichtigste Grund für die ungeheure Zunahme der von der Sowjetregierung abgeschlossenen technischen Unterstützungsverträge. Die Regierung kauft nicht nur Köpfe, sondern auch Mut.
Rukeyser ist ein vortreffliches Beispiel des in Rußland erfolgreichen amerikanischen Ingenieurs. 1916 in Princeton und 1918 in Columbia graduiert und mit technischen Erfahrungen in fast allen Erdteilen ausgerüstet, spezialisierte sich Rukeyser auf Asbest-Bergbau, erfand ein besonderes System der Behandlung, wurde in den Ingenieurhandbüchern als Autorität angeführt und erhielt 1928 zu Beginn des Fünfjahresplans seitens der Sowjetregierung eine Einladung, nach dem Ural zu kommen, um festzustellen, was sich tun ließe, um die unbedeutende Sowjet-Produktion auf eine rationelle Grundlage zu stellen. Rationell bedeutete in diesem Falle, der ein typisches Beispiel für die Dimensionen des Planes bietet, eine Verzehnfachung der Produktion innerhalb von fünf Jahren.
Heute, zwei Jahre nach dem ersten Besuch des amerikanischen Ingenieurs, hat »Ural-Asbest« mehr als die doppelte Produktion von 1928, mehr als die vierfache Produktion von 1913. Bis 1933 wird die Gesamtproduktion des ganzen von dem Trust kontrollierten Gebietes, eines ungeheuren Lagers von mehr als 12 Millionen Tonnen erstklassigen Asbestgesteins in einem einzigen zusammenhängenden, 36 Meilen langen Bergwerk pro Jahr wahrscheinlich 250 000 Tonnen zu einem Werte von 25 Millionen Dollar erreichen, d. h. die anderthalbfache Tonnage und den doppelten Wert der gesamten Produktion der sieben größten Bergwerke in Kanada, die heute die Hauptquelle dieses unentbehrlichen Industrieproduktes für die Welt darstellen. 1913 betrug die Asbestproduktion in ganz Rußland 13762 Tonnen, 1927 26 000 Tonnen und in dem eben beendeten Jahr erzeugte »Ural-Asbest« 56000 Tonnen.
Diese Produktion muß immer noch verfünffacht werden, um die von dem Plane vorgesehene Ziffer zu erreichen, aber die Bedingungen für den Erfolg sind gegeben. Vor Rukeysers Ankunft wurden die Minen getrennt bearbeitet, einige als Tagebau, einige als Tiefbau. Der Plan des Amerikaners, der in hohem Maße die russische Vorliebe für das Gigantische reizte, bestand darin, den gesamten Zentralteil des Bezirks in einen riesigen, spiralförmig in die Tiefe gehenden Tagebau von zwei Meilen Durchmesser zu verwandeln. Es wird die bei weitem größte Tagebaumine für Asbest auf der Welt werden.
Die Russen sind begeistert. Das Projekt ist im Gange, und die Förderung steigt in einem Tempo, das verspricht, diese Waldstadt an die Spitze der Asbest-Produzenten der Welt zu bringen. 1923 erzeugte Kanada 273 865 Tonnen im Werte von 11 238 000 Dollar; Südafrika 23 584 Tonnen im Werte von 1 965 000 Dollar; Rhodesia 39 000 Tonnen im Werte von 970 000 Dollar; Cypern 16 000 Tonnen im Werte von 350 000 Dollar, abgesehen von Rußland eine Weltproduktion von 352 449 Tonnen im Werte von 14 523 030 Dollar. Sobald der Fünfjahresplan für »Ural-Asbest« verwirklicht ist, bedeutet das, daß 1933 diese Bergwerke eine Produktion von fast dem doppelten Werte haben werden als die gesamte Weltproduktion von 1928.
Derartige Zahlen klingen phantastisch. In Moskau ist es einfach, sie als »Sowjet-Statistiken« abzutun. Hier in Azbest glaubt man sie gerne. Eine eintägige Wanderung durch die Bergwerke zwingt einem fast die Überzeugung auf. 30 000 Mann fördern in 7 stündigen Schichten, die Uhr herum, 10000 Tonnen Gestein pro Tag. Klüfte, gleich den westamerikanischen Canyons, fressen sich tief in den Boden, und aus ihren Tiefen heben Dampfschaufeln Berge von Gestein. Drahtseilbahnen werfen unaufhörlich Ströme von Erz auf die Waggons. Die Fabriken gehen Tag und Nacht. 14 neue elektrische Bagger und 200 neue Zehntonnenwaggons sind unterwegs.
40 Millionen Rubel sollen in den nächsten 12 Monaten für die Fabrik und deren Einrichtung aufgewendet werden. Drei neue Fabriken, jede größer als irgendeine andere auf der Welt, sind geplant. Eine elektrische Kraftstation von 36 000 Kilowatt Leistungsfähigkeit befindet sich im Bau. Die Bahn wird auf Normalspur umgebaut. Eine Ziegelei erzeugt hier pro Jahr 5 Millionen Ziegelsteine für die neuen Bauten. Nach vollständiger Mechanisierung der Bergwerke und der Fabriken wird die halbe Anzahl von Arbeitern die fünffache Ausbeute liefern.
Nicht alles ist rosig. Der Kampf, die Qualität der Produktion zu heben, ist schwer. Die Arbeiter können nicht dazu veranlaßt werden, Holz aus den Minen und Fabriken fernzuhalten. Und Holzfaser mit Asbest gemischt vermindern dessen Wert erheblich.
Die erste neue Fabrik brannte nieder, ehe sie in Betrieb genommen wurde. In den Feuereimern fand man Benzin. Drei Sowjet-Ingenieure wurden erschossen. Eine neue, von einer deutschen, in der Technik der Asbestbehandlung unerfahrenen Firma gegen den Rat Rukeysers erbaute Fabrik ist unzulänglich und kostspielig und muß umgebaut werden. Der technische Direktor der Sowjets, der den Bau billigte, sowie eine Anzahl seiner Assistenten sitzen in einem G. P. U.-Zuchthaus.
Hier spielte sich eine Reihe der zahllosen Beispiele des Wettbewerbes ab, der seit Beginn des Fünfjahresplans in der ganzen Sowjetunion zwischen amerikanischen und deutschen Ingenieuren herrscht, und das Resultat ist, ähnlich dem Siege Oberst Coopers über die »Bauunion« für die Errichtung des großen Dnjeprostroy-Projekts, typisch. Die Sowjetregierung, die zunächst die deutschen Ingenieure begünstigte, zum Teil, weil so viele Russen an deutschen Universitäten studiert hatten, gibt heute fast ohne Ausnahme Amerikanern den Vorzug.
Infolge dieser Schwierigkeiten ist »Ural-Asbest« in diesem Jahre um einen Bruchteil, um 6000 Tonnen, hinter der vorgesehenen Produktion des Planes zurückgeblieben. Aber Rukeyser ist am Werk, rasch die Verluste auszugleichen.
Ich führe diese Tatsache als Beispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit des amerikanischen »technischen Assistenten« mit den Russen und als wichtigen Faktor bei Beurteilung der Erfolgchancen des Fünfjahresplans an. Wie steigende Produktion sich für den Amerikaner auswirkt, der zu dieser Steigerung beiträgt, beweisen Rukeysers Lebensbedingungen klarer als die irgendeines Amerikaners in Moskau. Kein Amerikaner besitzt dort ein eigenes Haus. Rukeyser verfügt über eine Villa mit sechs Zimmern, über zwei vorzügliche Reitpferde, über eine Küche, die mit Speisen in einer Menge und von einer Beschaffenheit beliefert wird, wie solche dem Diplomatischen Korps in der Hauptstadt nicht zur Verfügung stehen. Und das alles besorgt der Trust. Neun Monate im Jahr ist Rukeyser verpflichtet auf seinem Posten auszuharren, drei Monate stehen ihm für Amerika zur Verfügung. Während des Sommers lebt die bezaubernde Mrs. Charlotte Rukeyser bei ihm, im Winter jedoch, wenn sie sich in Amerika aufhält, ist der amerikanische Ingenieur der einzige englischsprechende Mensch im Umkreise von 100 Meilen. Die Unterstützung der Sowjets bei der Durchführung des Fünfjahresplans ist keine Aufgabe für Vergnügungshungrige.
Die Bevölkerung von Azbest hat nichts zu lachen, aber es geht ihr doch erheblich besser als den Bewohnern Moskaus. Wenn die »Azbester« von ihrer siebenstündigen Schicht nach Hause gehen, erwartet sie eine anständige Wohnung in den Reihen funkelnagelneuer Mietskasernen, die fächerförmig von dem See im Zentrum der Stadt ausstrahlen. Eine Azbester Familie besitzt mindestens einen Wohnraum. Die Moskauer schätzen sich schon glücklich, wenn nur zwei Familien in einem Zimmer zusammenwohnen.
Ein Krankenhaus mit 120 Betten und eine Poliklinik mit 60 Betten samt einem Stab von Ärzten steht den Leuten heute zur Verfügung, die früher bis nach Sverdlowsk zum Arzt fahren mußten.
Soeben ist ihr »Haus der Kultur« mit einem Kostenaufwand von 1 200 000 Rubel vollendet worden. In Azbest brauchen sich die Leute wegen Brennmaterial nicht den Kopf zu zerbrechen. Es ist genügend Holz für hundert Winter an ihren Hintertüren aufgestapelt, obgleich Moskau friert.
Wir besuchten den Konsumverein. Man konnte dort Schuhe, Stiefel, Gummischuhe, Tuch, Kleider und Hausrat kaufen. Ebenso konnte man dort Rindfleisch, Lammfleisch, Hammel und Schwein erhalten.
Das einzige Mittel zur Beurteilung einer Norm ist Vergleich. Verglichen mit amerikanischen Lebensbedingungen leben die Azbester Arbeiter jämmerlich und werden schlecht bezahlt. Die Männer erhalten durchschnittlich 90 Rubel, gleich 45,50 Dollar im Monat, die Frauen 35 bis 40 Rubel im Monat. Alle Arbeit ist Akkordarbeit. In Kanada wird die nämliche Arbeit mit 5 bis 7 Dollar pro Tag entlohnt.
Verglichen mit Moskau sind die Ernährungs- und Lebensbedingungen in Azbest um so viel besser, daß der in der Hauptstadt so häufig befürchtete »Verzweiflungspunkt« noch nicht einmal in Sicht ist. Verglichen mit der früheren industriellen Produktion hat sich die Ausbeute verdoppelt. Verglichen mit den »Kontrollziffern« ist die Produktionssteigerung um glatte 9 Prozent zurückgeblieben. In Azbest hat anscheinend der Fünfjahresplan einen vorzüglichen Start gehabt.