Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

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Vater und Mutter.

Mein Vater hatte wohl seine Gründe für den verborgenen Kummer und die Reue, die sein ganzes, uns Kindern bekanntes Leben beschatteten.

Er war in seinen jungen Jahren ein schöner Mann gewesen und hatte enormen Erfolg bei Frauen gehabt. Den ganzen Überschuß seiner vielleicht über den Durchschnitt hervorragenden jungen Kräfte mag er in allerlei Unternehmungen und Abenteuern dieser Art verzettelt haben, und so trieb er es bis in seine dreißiger Jahre. Die eigene Lebenserfahrung hatte ihm tiefes Mißtrauen gegen weibliche Tugend eingeflößt, und als er zu heiraten beschloß, machte er sich einen eigenartigen Plan zurecht, um seine häusliche Ruhe auf sicheren Grund zu bauen . . .

Im Kreise Rowno des wolhynischen Gouvernements, wo er damals als Kreisrichter amtierte, lebte ein polnischer Schlachziz, der sich als Pächter mittlerer adeliger Güter durchschlug. Von diesem Manne war bekannt, daß er eine zeitlang rechtmäßiger Besitzer und faktischer Gebieter enormer Ländereien war, die dem Grafen W. gehörten. Der alte Graf lag einst auf den Tod krank, als sein Sohn, der in Polen in der Garde diente, wegen irgendeiner Sache vors Kriegsgericht kam. In der Befürchtung, daß der Sohn aller bürgerlichen Rechte verlustig gehen und die Güter der anderen Linie zufallen würden, ließ der Graf den ihm wohlbekannten Schlachziz rufen, nahm ihm ein bestimmtes Versprechen ab und setzte ihn zu seinem Universalerben ein. Darauf starb der alte Graf. Der junge wurde als gemeiner Soldat nach dem Kaukasus verschickt, und der Schlachziz trat den rechtmäßigen Besitz der enormen Güter an. Einige Jahre später, als der junge Graf, der sich in Kämpfen mit den eingeborenen Bergbewohnern des Kaukasus durch Tollkühnheit ausgezeichnet hatte, begnadigt und in die Heimat zurückgekehrt war, rief der Schlachziz die Nachbarn herbei, legte dem Grafen in ihrer Gegenwart, wie ein einfacher Gutsverwalter, genaueste Rechnung ab und übergab ihm große Geldsummen, die er in der Zeit seiner Verwaltung aufgespart hatte. Der junge Aristokrat umarmte den Schlachziz, nannte ihn seinen Wohltäter und schwur ewige Freundschaft. Sehr bald waren jedoch alle Schwüre vergessen, und das Herrchen machte sich irgendwelcher leichtsinnigen und unehrenhaften Übergriffe gegen die Familie seines Wohltäters schuldig. Der Alte ging zu ihm hin, züchtigte den Junker und verließ dessen Schwelle als Bettler, hatte er doch die ganze Zeit seiner Gutsverwaltung über nicht gewagt, sich »eigenmächtig« ein Gehalt zu bestimmen. Der Magnat seinerseits dachte daran nach dem Streite erst recht nicht . . .

Dies die Familienüberlieferung betreffend den Vater meiner Mutter. Er hatte eine zahlreiche Familie: vier Töchter und zwei Söhne. Eine von den Töchtern war erst dreizehn Jahr alt, noch ganz Kind, das kurze Röckchen trug und mit Puppen spielte. Dieses Kind eben traf die Wahl meines Vaters. Mit unbewußtem Egoismus setzte er offenbar in dieser Weise den Plan ins Werk, um seinen zukünftigen häuslichen Herd vor Unbilden zu bewahren: er wählte in einer Familie, in der Ehrenhaftigkeit als allgemein anerkannte Tradition herrschte, eine Braut, die noch ein Kind war und die er sich unter Umgehung der Periode der mädchenhaften Koketterie selbst zu erziehen gedachte. Der Großvater war gegen diese frühe Heirat, gab aber dem Drängen der Großmutter nach. Formale Hindernisse, die sich aus der Minderjährigkeit der Braut ergaben, wurden durch das Zeugnis von »fünfzehn Nachbarn« beseitigt; man nahm meiner künftigen Mutter das Spielzeug weg, zog ihr anstatt des kurzen Kleidchens das Brautkleid mit Schleppe an – und die Ehe war geschlossen.

Es ist stets eine schwierige Sache, das Fazit eines Menschenlebens zu ziehen. Glück und Freude sind derart mit Unglück und Kummer vermischt, daß ich jetzt nicht zu sagen wüßte, ob die Ehe meiner Eltern glücklich oder unglücklich war. Ihre erste Zeit war jedenfalls für meine Mutter recht schwer . . .

Zur Zeit ihrer Verheiratung war sie ein schwächlicher, noch nicht fertig entwickelter, zierlicher Backfisch mit einem schweren hellblonden Zopf und wundervollen, strahlenden grau-blauen Augen. Zwei Jahre nach der Hochzeit gebar sie ein Töchterlein, das jedoch schon nach Verlauf einer Woche starb. In dem noch kindlichen Herzen der Mutter ließ dieser Verlust eine tiefe Wunde zurück. Der Vater seinerseits war fürchterlich eifersüchtig, und seine Eifersucht äußerte sich ungestüm und brutal: jeder männliche Blick, der seine junge Gattin streifte, schien ihm unrein, und ihr kindliches Lachen über einen Scherz in der Gesellschaft sah er für unverzeihliche Koketterie an. Es ging so weit, daß er, wenn er fortging, seine Frau in der Wohnung einsperrte, und das junge Weib, eigentlich nach ein Kind, weinte hinter Schloß und Riegel bittere Tränen vor kindlichem Kummer und tief verletztem Frauenstolz . . .

Im dritten oder vierten Jahre der Ehe hatte mein Vater einmal dienstlich auf dem Lande zu tun, wo er in einer rauchigen Stube übernachtete. Am anderen Morgen trug man ihn bewußtlos hinaus und legte ihn im bloßen Hemd auf den Schnee. Er kam wieder zu sich, war aber zur Hälfte gelähmt. Als man ihn der Mutter zurückbrachte, war er fast völlig unbeweglich und er blieb, trotz aller ergriffenen Maßnahmen, für sein Leben ein Krüppel.

So war das Schicksal meiner Mutter gleich im Anfang an einen Mann gekettet, der mehr als doppelt so alt war wie sie, den sie noch nicht lieben konnte, weil sie ein völliges Kind war, der sie vom ersten Tage an quälte und kränkte und der endlich ein Krüppel wurde.

Und doch weiß ich nicht zu sagen, ob sie unglücklich war . . .

Schon zu meiner Zeit wurde einmal auf Grund irgendeiner Denunziation das Verfahren zwecks Ungültigkeitserklärung der Ehe meiner Eltern eingeleitet, und mein Vater war ernstlich in Sorge. In unserem Hause tauchten uns bis dahin unbekannte Gestalten in Uniformen mit Messingknöpfen auf, die der Vater empfing, zu Tisch lud, denen zu Ehren er Abendgesellschaften mit Kartenspiel veranstaltete. Aus dieser Kollektion von Konsistorialbeamten hat sich besonders ein Sekretär meinem Gedächtnis eingeprägt: ein kleines Kerlchen in langem Uniformrock, dessen Falten beinahe am Boden schleiften, mit unsauberem Gesicht, das wie ein rotes Löschblatt mit schwarzen Tintenklexen aussah und in dem zwei kleine funkelnde Äuglein in stetiger Bewegung waren. Dieser Herr hatte die Gepflogenheit, bevor er sich an den Mittagstisch bei uns setzte, im Wohnzimmer herumzuschnüffeln und die darin befindlichen Gegenstände zu betrachten und zu betasten. Ich merkte auch, daß diejenigen Sachen, auf denen seine stechenden Äuglein mit besonderer Aufmerksamkeit verweilten, bald darauf aus unserer Wohnung zu verschwinden pflegten. So verschwand unter anderem eine Familienkostbarkeit: ein großes Teleskop, durch das uns der Vater oft den Mond zeigte. Wir Kinder jammerten sehr um diesen Verlust, Vater aber sagte mit traurigem Humor: der Herr mit den langen Rockfalten könne so machen, daß er, Vater, und Mama nicht mehr miteinander verheiratet wären und daß sie ein Mönch und eine Nonne werden. Da aber unverheiratete Leute und obendrein Mönche keine Kinder haben dürfen, fügte der Vater hinzu, so werdet auch ihr zu existieren aufhören . . .

Wir wußten wohl, daß dies ein Scherz war, dennoch bemächtigte sich unser das Gefühl, daß nunmehr unser ganzes Familiendasein auf rätselhafte Weise von jenem Kerl mit den Metallknöpfen am Rock und mit dem Gesicht wie ein Tintenklex abhing.

Einmal, als ich zu jener Zeit aus irgendeinem Anlaß in das Schlafzimmer meiner Mutter lief, fand ich dort Vater und Mutter beide mit verweinten Gesichtern beieinander. Der Vater saß vorgebeugt und küßte ihre Hand, sie aber streichelte zärtlich seinen Kopf und tröstete ihn wie ein Kind. Ich hatte bis dahin zwischen meinen Eltern derartiges nicht gesehen, und mein Knabenherz zuckte in dunkler Ahnung zusammen. Offenbar war jenes Schreckliche, wovor sich Vater so fürchtete, schon losgebrochen . . . Es stellte sich jedoch heraus, daß das Gewitter sich glücklich verzogen hatte, und bald verschwanden auch die unheimlichen Konsistorialgestalten aus unserer Wohnung.

Mir ist aber jener Augenblick, als ich Vater und Mutter so erschüttert und voller Liebe und Mitleid für einander sah, unvergeßlich geblieben. Offenbar hatten sie sich zu jener Zeit bereits gefunden und waren einander in stiller aber inniger Liebe zugetan. Der Vater mochte endlich begriffen haben, welches Wesen ihm das Schicksal zufällig, unabhängig von seinen Plänen geschenkt hatte, und seine beleidigende Eifersucht machte ruhigem Vertrauen Platz. Eben dieser Ton gegenseitiger Achtung und Freundschaft zwischen meinen Eltern ist in meinem Gedächtnis mit jener Periode verbunden, in der mir die Welt unveränderlich und unbeweglich schien. Die Tragödie dieser Ehe und der Schicksalsschlag, der meinen Vater niedergestreckt hatte, waren für uns Kinder irgendwo in die graue Vorzeit unserer Familie entrückt, in jene Vorzeit, von der bei uns nicht einmal mehr gesprochen wurde . . . Auf meinen Vater hatten jedoch all jene Erlebnisse einen düsteren Schatten geworfen. Er war ein Mensch von inniger Religiosität und betrachtete sein Unglück, wie ich glaube, als die gerechte Strafe für seine Jugendsünden. Ja, er argwöhnte, daß seine verfehlte Jugend sich auch an seinen Kindern rächen möchte, daß wir unbedingt körperlich schwächlich geraten und daß er selbst es nicht mehr erleben würde, uns zum Kampfe ums Dasein gehörig auszurüsten.

Deshalb war es seine größte Sorge, an sich selbst und an uns beständig herumzukurieren. Ein Mensch von phantastischen Einfällen und von unerschütterlichem Glauben an wundertätige Universalmittel, ließ er uns nacheinander die wohltätige Wirkung der Pulswärmer erproben, der Fontanellen hinter den Ohren, des Lebertrans mit Brot und Salz, des blutreinigenden Syrups Matthäi, der Morissonschen Pillen, sogar des »Bohnscheidtschen Punktierapparats«, der durch tausend kleine Nadelstiche angeblich die Blutzirkulation wunderbar anregte.

Dann tauchte bei uns ein Homöopath Dr. Tscherwinski auf, ein rundes Männlein mit dickem Spazierstock in Gestalt des Merkurstabs mit einer Schlange. In jener Periode brach mein älterer Bruder, der ein großes Leckermaul war, einmal in Abwesenheit der Eltern in der homöopathischen Hausapotheke ein und schluckte den ganzen väterlichen Vorrat an Arsenpillen. Der Vater kriegte einen heftigen Schreck, als er aber sah, daß mein Bruder heil und munter blieb, stiegen ihm etwelche Zweifel in bezug auf die Homöopathie auf.

Nach diesem Vorfall verschwanden die tiefsinnigen Werke Hannemanns von Vaters Tische und an ihrer Stelle erschien ein neues Büchlein in schlichtem, schwarzem Einband. Auf dem Titelblatt war eine Vignette mit folgendem poetischen Spruch in polnischer Sprache angebracht:

Willst ein hohes Alter du erreichen und Muskel wie Stahl,
So trinke Wasser, bade, steh unter dem kalten Strahl!

Zur größeren Überzeugung waren auf der Vignette drei nackte Männer von achtunggebietendem Leibesumfang abgebildet, von denen der eine unter dem »kalten Strahl« stand, der andere in der Badewanne saß, der dritte aber mit sichtlichem Behagen aus einem gewaltigen Krug Wasser in seinen Schlund goß.

Wir Kinder betrachteten arglos die Vignette. Ihre eigentliche Bedeutung sollte uns erst am andern Morgen aufgehen, als der Vater uns aus den Betten holen und in sein Zimmer bringen ließ. Dort stand bereits ein großer Bottich mit kaltem Wasser. In diesen ließ uns der Vater, nachdem er die ganze Prozedur am eigenen Leibe vorgemacht hatte, der Reihe nach steigen, schöpfte dann mit einer Blechkanne Wasser und begoß uns von Kopf bis Fuß mit dem eisigen Naß. Das Verfahren war freilich etwas barbarisch, hat uns aber weiter keinen Schaden zugefügt, und bald waren wir derart »abgehärtet«, daß wir beide – ich und mein jüngerer Bruder – uns jeden Morgen barfuß im bloßen Hemde in einen alten Wagen im Hof retteten, wo wir zitternd vor Kälte (es war nämlich im Herbst und Rauhreif lag schon in der Frühe) warteten, bis der Vater zum Dienst ging. Die Mutter versprach ihm jedesmal, die Prozedur des Begießens nach der Rückkehr der Flüchtlinge gewissenhaft vorzunehmen, aber – der liebe Gott wird ihr's wohl nachsehen – manchmal täuschte sie sein Vertrauen. Und da wir uns ohnehin bei jeglichem Wetter den ganzen Tag draußen in frischer Luft und völliger Freiheit tummelten, so mußte angesichts unseres unveränderlich blühenden Äußeren und unserer Unversehrtheit selbst die ängstliche Sorge des Vaters endlich weichen.

Dieser heilige Glaube an »das Buch« und »die Wissenschaft« war überhaupt ein bemerkenswerter und rührender Zug im Wesen meines Vaters, obwohl er manchmal unerwartete Ergebnisse zeitigte. So hatte der Vater einmal, ich weiß nicht wo, eine Broschüre erstanden, deren Verfasser versicherte, man könne mit Borax, Salpeter und, ich glaube, Schwefel, unter Zusatz von ganz geringen Mengen des üblichen Pferdefutters die Pferde wunderbar aufzüchten. Wir hatten damals ein paar kräftige Wallachen, an denen Vater nun zu experimentieren anfing. Die armen Tiere magerten ab und verfielen zusehends, Vater jedoch war derart von der Unfehlbarkeit seines gelehrten Rezepts eingenommen, daß er nichts merkte und auf die besorgten Fragen der Mutter, ob die Tiere an der Wissenschaft am Ende nicht krepieren würden, bloß antwortete: »Belehre Kranker den Medikus! Die Tiere nehmen zu und du erzählst solchen Unsinn. Nicht wahr, Phillipp, sie nehmen doch zu?« »Na gewiß doch haben sie zugenommen,« bestätigte der schlaue Kutscher.

»Des Richters Mähren« wurden in der ganzen Stadt durch ihre erschreckende Magerkeit berühmt sowie durch die Gier, womit sie die Koppel und alle Zäune benagten. Der Vater jedoch sah nur die »Besserung«, bis eines schönen Morgens eines der Tiere ohne jeden ersichtlichen Grund das Zeitliche segnete. Ich sehe noch den Ausdruck schmerzlichen Staunens und der Reue, womit Vater an dem Leichnam des armen Dulders stand. Dem anderen Pferd ließ er sofort Hafer und Heu, diesmal ohne wissenschaftlichen Zusatz, aufschütten, und nach einiger Zeit hat er es, glaube ich, verkauft. Übrigens stellte sich später heraus, daß an jenem Fiasko nicht die Wissenschaft allein ihr Teil hatte, sondern auch der Kutscher, der auch das bißchen Hafer und Heu, das für die Pferde bestimmt war, zu vertrinken pflegte und die Tiere auf reinen Borax mit Salpeter setzte. Wie dem sein mochte, das Experiment wurde nicht wieder erneuert.

Meinem Vater gingen augenscheinlich irgendwelche früheren Pläne noch lange im Kopfe herum, und er suchte auf jede Weise aus den eisernen Fesseln der grauen Alltagsroutine zu entkommen. Bald verschaffte er sich ein Fernrohr und astronomische Werke, bald fing er an, Mathematik zu studieren, bald kam er mit italienischen Büchern beladen nach Hause und besorgte sich Wörterbücher. Abends, wenn er keine Schriftsätze und Urteile auszufertigen hatte, verwendete er seine Muße zum Lesen und wandelte mitunter in der Wohnung auf und ab, offenbar in tiefes Nachdenken über das Gelesene versunken. Manchmal teilte er seine Gedanken der Mutter mit, manchmal aber, wenn die Mutter nicht zugegen war, wandte er sich mit rührender Harmlosigkeit an eins von uns Kindern.

Ich erinnere mich, wie ich einmal allein mit ihm im Zimmer saß, als er sein Buch weglegte, nachdenklich das Zimmer durchmaß und dann vor mir stehen blieb.

»Die Philosophen behaupten, daß der Mensch ohne Worte gar nicht denken könne,« sagte er. »Sobald der Mensch anfängt zu denken, verstehst du, hat er auch schon Worte im Kopf . . . Hm, was sagst du dazu?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann er im Zimmer auf und ab zu wandern, wobei er mit dem Stock aufstieß und das linke Bein leicht nachschleppte, offenbar ganz in die Nachprüfung des psychologischen Problems vertieft. Dann hielt er wieder vor mir und sagte:

»Wenn dem so ist, dann kann ein Hund nicht denken, denn er kennt keine Worte.«

»Der Star versteht Worte,« antwortete ich mit Überzeugung.

»Nun was, das genügt nicht!«

Ich war damals noch ein ganz kleiner Junge und ging noch nicht einmal in die Schule, aber die harmlose Art, wie der Vater jene Frage an mich richtete und seine Nachdenklichkeit steckten mich an. Während er schweigend im Zimmer auf und ab wanderte, saß ich auch still und suchte meinem Denkprozeß nachzuspüren. Natürlich kam dabei nichts heraus, aber ich bemühte mich auch später mehr als einmal, jene verschwommenen Gedankenbilder und formlosen Ansätze zu Wortbildungen zu packen, die manchmal wie Schatten auf dem Hintergrund des Bewußtseins vorübergleiten, ohne feste Form anzunehmen.

»Da versprechen die Engländer viel Geld demjenigen, der ein neues Wort erfindet,« sagte mein Vater ein anderes Mal, als wir alle am Mittagstisch saßen.

»Ein großes Kunststück das!« rief naseweis mein ältester Bruder, »ich werde gleich eins erfinden.«

Und er sprudelte, ohne sich lang zu besinnen, irgendein ganz tolles Wort hervor. Wir anderen lachten.

»Äh, du Schafskopf!« sagte der Vater, sichtlich geärgert durch dies leichtsinnige Verhalten gegenüber der Preisaufgabe der gelehrten Engländer. Wir alle ergriffen jedoch für den Bruder Partei.

»Wieso denn Schafskopf, wenn er doch wirklich eines erfunden hat?«

»Erfunden, erfunden! Nun und was bedeutet denn dein Wort?«

»Was es bedeutet?« . . . Mein Bruder stutzte einen Moment, setzte aber rasch hinzu: »Gar nichts bedeutet es, aber neu ist es.«

»Da haben wir's eben, daß du ein Schafskopf bist! Das Wort soll etwas bedeuten und einen Sinn haben und kein anderes Wort von gleicher Bedeutung darf es geben . . . Denn so kann freilich manch einer was erfinden. Die Gelehrten sind nicht dümmer als ihr und werden nicht in den Tag hineinreden . . . Immerhin – fügte er dann hinzu – erfinden läßt sich das Wort, denk ich, wohl . . .«

»Einige Philosophen behaupten, es gebe keinen Gott,« sagte er ein anderes Mal bei Tisch.

»Ach Unsinn!« meinte die Mutter, »wozu wiederholst du solches Zeug?«

»Belehre Kranke den Medikus!«, erwiderte der Vater. »Das sagen nicht bloß dumme Leute, sondern sehr gelehrte Männer . . .«

»Nun, wer hat denn dann die Welt und die Menschen geschaffen?«

»Ein Engländer will wissen, daß der Mensch vom Affen abstammt.«

»Na und der Affe von wem?«

Wir alle, den Vater inbegriffen, mußten lachen.

»Das ist freilich eine Verirrung des menschlichen Geistes,« sagte der Vater und fügte dann mit Überzeugung und einiger Feierlichkeit hinzu:

»Es gibt freilich einen Gott, Kinder, der alles sieht . . . alles! Und er bestraft schwer die Sünden . . .«

Ich weiß nicht, war es bei dieser oder bei einer anderen Gelegenheit, daß er mit besonderem Nachdruck sagte:

»In der Schrift heißt es, daß die Eltern in ihren Nachkommen bis zum siebenundsiebzigsten Glied bestraft werden. Das mag schon ungerecht erscheinen, aber . . . vielleicht verstehen wir nicht . . . Gott ist dennoch barmherzig . . .«

Erst jetzt weiß ich, welche Bedeutung für ihn dieser Spruch der Bibel hatte . . . Er fürchtete, daß wir für seine Sünden zu büßen haben würden. Sein Gewissen bäumte sich gegen diese Ungerechtigkeit auf, während ihn der Glaube zur Demut mahnte und Hoffnung verhieß . . .

In der Konduitenliste meines Vaters steht der Vermerk, daß er seine Erziehung in einem »nichtprivilegierten Pensionat« der Stadt Kischinew genossen hatte. Offenbar lief diese Erziehung ungefähr auf die »häusliche« hinaus. Doch fast bis an sein Lebensende hatte der Vater geistige Interessen bewahrt und die ersten Vorstellungen, die über den Rahmen der uns damals vertrauten Welt hinausgingen, Vorstellungen von Gott und von einer Wissenschaft, welche die Menschenseele und die Weltordnung zu ergründen sucht, haben wir Kinder von diesem schlichten, halbgebildeten Manne empfangen. So naiv und einfach diese Vorstellungen waren, sie drangen, vielleicht gerade infolge ihrer beinahe kindlichen Einfalt, tief in unsere Seelen und blieben dort als erste Keime künftiger Gedanken haften . . .


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