Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Noch ein Tag und wieder ein Morgen. Wird's endlich?
Der Kutscher zeigt mit dem Peitschenstiel und sagt:
»Da drüben hinter der Böschung liegt die Stadt. Und dies da ist der Weißbuchenhain, in dem das Volk am Sonntag spazieren geht.«
Vor uns war in der Tat ein Hain zu sehen, hinter dem das rote Dach irgendeines amtlichen Gebäudes hervorlugte. Die Stadt lag in einem breiten Tal, und eine Nebel- und Dunstwolke lagerte über ihr in einiger Höhe. Das Gebäude mit dem roten Dach erwies sich als das städtische Gefängnis. Als wir daran vorbeifuhren, blickten aus den Fenstern der oberen Etage grünlich-fahle finstere Gesichter von Gefangenen, die sich an den eisernen Gitterstäben festhielten, um uns zu sehen. Dieses Bild aus der Kindheit tauchte nachmals oft in meiner Erinnerung auf, als ich, ein erwachsener Mann, selbst hinter solchen Gitterstäben auf die Landstraße hinausblickte. Und einmal geschah es, daß ich wirklich auf dem Kutschbock einer ebensolchen riesigen Familienkutsche einen kleinen Knaben sitzen sah, der mich mit demselben Ausdruck bangen Mitleids, unwillkürlicher Verdammung und unbestimmter Furcht anblickte, mit dem ich selbst die Insassen des Rownoer Gefängnisses betrachtet hatte.
Das Gefängnis stand dicht an der Böschung, und von hier aus war die Stadt schon deutlich zu sehen: Häuserdächer, Straßen, Gärten und große blitzende Spiegel der Teiche. Die schwere Kutsche rollte den Abhang rascher hinunter und blieb bei dem schwarzweiß gestreiften Schlagbaum stehen. Ein invalider Soldat trat an die Wagentür heran, nahm von der Mutter unseren Reisepaß in Empfang und trug ihn in ein kleines Gebäude, das linker Hand dicht an der Landstraße stand. Aus demselben trat alsbald ein hochgewachsener Herr in der Uniform der Verkehrsbeamten und mit langem Offizierschnurrbart. Er verneigte sich höflich vor meiner Mutter.
»Der Herr Richter erwarten Sie schon!« sagte er und dann an den Invaliden gewendet: »Zieh hoch!« kommandierte er.
Der gestreifte Balken des Schlagbaumes kreischte in seiner Basis und sein dünnes Ende hob sich hoch in die Luft. Unser Kutscher trieb an, und wir fuhren endlich in die Bannmeile der Kreisstadt Rowno.
Diese »Stadtbarrieren«, die jetzt, soviel ich weiß, überall verschwunden sind, bildeten damals eine charakteristische Eigentümlichkeit der russischen Landstraße, die charakteristische Eigentümlichkeit der Barriere aber bildeten die »Chaussee-Invaliden« des Nikolajschen Militärdienstes, die auf diesem Posten ihre mehr oder minder unseligen Tage zu beschließen pflegten. Übliche Charakterzüge dieser Invaliden waren: ein immerwährender Schlummerzustand und eine lässige Ungelenkigkeit der Bewegungen, von der schon Puschkin in jenem bekannten Gedicht spricht, in dem er zu erraten sucht, welches Ende ihm vom Schicksal beschieden sein möge:
Ob der Pest ich in die Arme sinke lebensmüde,
Ob mich wo der Frost zur Erde bettet,
Oder ob ein ungelenker Invalide
Mir den Schlagbaum auf den Schädel schmettert? . . .
Diese Chaussee-Invaliden stellten in der Tat eine Menschengattung dar, die in außerordentlichem Maße zur philosophischen Ruhe und Beschaulichkeit neigte. Und jetzt, wenn in meiner Erinnerung die Stadt Rowno auflebt, sehe ich jedes Mal gleichsam in der Vorhalle aller anderen Bilder den schwarzweiß gestreiften Balken des Schlagbaums und die Gestalt des Invaliden im staubbedeckten, verblichenen Militärrock aus der Zeit Nikolaus I. Der Alte sitzt unbedingt auf einem Klotz am Schlagbaum, den Rücken wie angeklebt an den schwarz-weißen Pfahl gelehnt. Auf dem Kopfe hat er eine Mütze mit einem dicken Schirm, die vor ehrwürdigem Alter eine unbestimmt rötliche Farbe angenommen hat, sein Mund steht offen, und zudringliche Fliegen entblöden sich nicht, hin und wieder in die Öffnung hineinzuspazieren. Späterhin machten wir Schulrangen uns ein Vergnügen daraus, den Schlummernden von rückwärts mit einem langen Strohhalm am Hals zu kitzeln, die verwegensten von den losen Bengeln steckten dem armen sebastopolischen Helden den Strohhalm sogar in die Nase. Der Invalide wehrte mit geschlossenen Augen die lästigen »Fliegen« ab, nieste, sprang zuweilen auf und blickte sich erschrocken um nach dem Gefängnis, nach der Seite hin, wo irgendein eiliger »Kurier« plötzlich auftauchen und in der Kibitka aufrecht stehend, die amtliche Papierrolle in der Luft schwenkend, sofortigen Durchlaß begehren konnte. War aber nur das staubige Band der Landstraße und sonst nichts Bedrohliches darauf zu sehen, dann setzte sich der Wächter der Stadtgrenze wieder hin und schlummerte friedlich ein. Und es lag etwas Symbolisches in dieser ewig schlummernden Gestalt – gleichsam das Sinnbild des beschaulichen Daseins einer kleinen Provinzstadt . . .
Allein damals, während unserer ersten Einfahrt nach Rowno, hatte jene Gestalt für mich noch nicht die symbolische Bedeutung, wie später und ich fing mit gierigen Augen das »Neue« auf, das sich hinter dem hochgezogenen schwarzweißen Balken enthüllte . . . Dies »Neue« bot sich übrigens nicht besonders großartig dar: was zu sehen war, waren kleine Hütten, öde Plätze, Zäune, die Perspektive einiger winzigen Seitengäßchen, dann das zweistöckige Amtsgebäude, davor ein Platz mit der steinernen Figur der Muttergottes in der Mitte und ringsherum Gasthöfe mit breiten Einfahrttoren, aus denen uns einige jüdische Faktoren anglotzten. Dann ein Flüßchen und eine Holzbrücke. Das Flüßchen und die Brücke mitten im Zentrum der Stadt brachten mich in Begeisterung.
Dicht vor der Brücke bog der Kutscher schroff ab, unsere Kalesche schwankte, kreischte, hielt einen Moment wie in Nachsinnen versunken in dem windschiefen Tor still und rollte endlich den grasbewachsenen Hof hinab. In diesem Hof standen unordentlich zerstreut mehrere Gebäude, eines davon trug das Schild: »Kreisgericht Rowno«. Auf einem andern, das höchst sinnlos aus der Reihe hervorgetanzt schien, war die Aufschrift zu lesen: »Das Archiv.« Das dritte im Hintergrunde des Hofes hatte gar keine Aufschrift: dies war eben unser neues Wohnhaus, das auf einer kleinen Landzunge, zwischen dem Teich und dem Flüßchen stand. Durch das offene Gittertürchen war das Wasser zu sehen, das dicht an den Gemüsegarten herankam, und ein hölzerner Steg mit einem angebundenen Kahn. Von der Brücke gafften auf unseren Einzug Gruppen von Schildbürgern, die in die zu ebener Erde gelegene Wohnung aufs bequemste hineinblicken konnten und für die die Ankunft »des Herrn Richters seiner Familie« ein bedeutsames Ereignis war.
Das Städtchen lag in einem breiten Tal, an den Ufern einiger großer Teiche, die durch winzige Flüßchen untereinander verbunden waren. Unser Haus befand sich an der Stadtseite. Uns gegenüber auf einer Insel, die der örtlichen Überlieferung nach einst zur Zeit der Unabhängigkeit Polens von türkischen Kriegsgefangenen aufgeworfen war, stand das halbzerfallene Schloß des Fürsten Lubomirski in altpolnischem, halbgotischem Stil. Es war von hohen Pyramidenpappeln umstanden und bot den wunderbarsten Anblick einer malerischen Altertümlichkeit. Am linken Ufer des Teiches stand das zweistöckige geräumige Gebäude des Gymnasiums, das mit seinem weißen Anstrich, dem Portikum und den Kolonnen einen sehr heiteren Eindruck machte. Sowohl das düstere Schloß wie die helle Kolonnade des Gymnasiums spiegelten sich klar und rein im Wasser des Teiches. In der Ferne, am anderen Ufer ruderten langsam, von der Bläue des Wassers und dem Grün der Gewächse deutlich abstechend, weiße Schwäne dahin, die ersten, die ich überhaupt zu sehen bekommen habe. Sie zogen in ihrem Kielwasser hellschimmernde Streifen nach, die auf dem schlummernden unbeweglichen Wasserspiegel noch lange ihre Bahn bezeichneten.
Jede neue Ortschaft hat gleichsam ihre eigene Physiognomie und prägt sich unserer Seele als ein eigentümliches Gesamtbild ein, zu dem alle Einzelheiten auf eine für uns selbst unbewußte Weise beitragen. Alles, was ich jetzt zum erstenmal in der Stadt Rowno sah, schien mir zauberhaft schön zu sein. Gewiß, die Ankunft in dieser Stadt eröffnete in der Tat ein ganz neues Blatt in meinem Leben. Und doch –, es mochte wohl ein Hauch von dem alten Schloß gewesen sein –, in meine knabenhaft gespannte Erwartung des Wunderbaren mischte sich gleich im Anfang wie ein Schatten ein seltsamer Anflug von Ermattung, von Schläfrigkeit, ein Hang zur Träumerei über Vergangenes und für immer Dahingeschwundenes . . .
Wie tot lag der Teich da, und darin spiegelte sich das tote Schloß mit den gähnenden leeren Fensteröffnungen, umgeben, gleichsam wie von eingeschlummerten Wachen, von den hohen Pyramidenpappeln. Die Teiche waren wie verschimmelt, an den Ufern von grüner Wasserlinse überzogen, dicht mit Schilf und Rohr bewachsen. Ihre unbewegliche Wasserfläche funkelte im Sonnenbrand und hauchte über das Städtchen Fäulnis und Wechselfieber aus. Und all dies war so eins mit den öden Plätzen, mit der schlummernden Gestalt des Invaliden am Schlagbaum, mit den gähnenden Fensteröffnungen des alten Schlosses! . . .
An einem der ersten Abende in Rowno, als wir in unserem Wohnzimmer beim Tee saßen, hörten wir von der Teichseite her ein seltsames dumpfes Rollen.
»Das sind die Pappeln am alten Schloß, die rauschen,« sagte die Mutter.
Das langgedehnte, tiefe, ein wenig unheimliche Rauschen tönte über dem Städtchen wie eine ernste Stimme der Vergangenheit, die der nichtigen, im grauen Alltag versinkenden Gegenwart von den einstigen stürmischen und großen Tagen ins Ohr zu raunen schien . . .
Jetzt liebe ich die Erinnerung an jenes kleine Städtchen, wie man zuweilen die Erinnerung an einen alten Feind liebt.
Aber o Gott, wie habe ich zum Schluß meines dortigen Aufenthaltes diese bleierne Alltäglichkeit hassen gelernt, die wie der Tang die Teiche langsam die Seele überzog, die, jeglicher lebendigen Eindrücke bar, alle Energie aus der Seele sog, alle Hochflüge des jungen Geistes durch ihre stumpfe Verständnislosigkeit ertötete und die Einbildungskraft in einer unfruchtbaren schläfrig-romantischen Betrachtung der toten Vergangenheit einhüllte! . . .