Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

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»Es kommt was! . . .«

Ich schreibe nicht die Geschichte meiner Zeit.

Ich versenke einfach meinen Blick in den Nebel der eigenen Vergangenheit und nehme die Bilderreigen auf, die von selbst ins Licht treten, wobei sie andere nahe und verwandte Erinnerungen, mit denen sie verflochten sind, mit an den Tag ziehen. Ich bemühe mich nur darum, diesen unmittelbaren Stoff, den mir mein Gedächtnis liefert, klar und deutlich in Worte zu fassen, und die verräterische Mitarbeit der Einbildung streng zu überwachen.

Im Oktober des Jahres 1858, als ich fünf Jahre alt war, kam der junge Zar Alexander II. nach Schitomir. Die Stadt hatte zu seinem Empfang ein festliches Gepräge entfaltet. Auf dem Platz an der katholischen Bernhardinerkirche wurde eine gewaltige Triumphpforte errichtet. Wir hatten sie uns am Vorabend der Feierlichkeit angesehen, und ich war betroffen von der Riesengröße dieses hölzernen Baues, der sich mitten im leeren Platz gar seltsam ausnahm, und über seine eigene Überflüssigkeit verwundert schien.

Dann erinnere ich mich dunkel an ein beängstigendes Gedränge, ein betäubendes Getöse menschlicher Stimmen und etwas Unsichtbares, das irgendwo in der Tiefe dieser Menschenwogen blitzschnell vorüberzog, worauf das Volk, plötzlich wie von Sinnen, gegen das Zentrum der Stadt nachstürzte. Alle sagten, eben sei der Zar vorbeigefahren.

Viel deutlicher ist mir die abendliche Illumination im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich an die langen Ketten lichterloh brennender Töpfe, die, im Rinnstein zu beiden Seiten der Straßen in gleichen Abständen aufgestellt, eine Doppelreihe bildeten. Diese Feuerketten zogen sich zu jenem Platz hin, auf dem der enorme Triumphbogen wie ein Scheiterhaufen loderte. Zu seinen Füßen wogten Menschenmassen hin und her, die sich auf dem blendenden Hintergrund wie schwarze Ströme ausnahmen, und über alledem hing ein noch schwärzerer Nachthimmel.

Von Zeit zu Zeit erhob sich irgendwo ein »Hurra«, das, sofort von vielen Stimmen aufgegriffen, fortlaufend erstarkte und sich wie ein Donnerrollen durch die Straßen wälzte. Dann weiß ich nur, daß ich mich an irgendeinen Frauenrock geklammert habe, daß ich hinübergestoßen wurde, und daß unsere Dienstmädchen uns nur mit Mühe aus dem Gedränge hinausführten. Die Mutter empfing uns in großen Ängsten und schalt die Dienstmädchen. Dann fuhren Vater und Mutter – er in Uniform mit Degen, sie in Gesellschaftstoilette – irgendwohin in die Stadt.

Uns ward befohlen schlafen zu gehen, aber wir konnten nicht einschlafen. Wir wohnten zwar in einem stillen Seitengäßchen, dennoch drang der gedämpfte Lärm und die Aufregung der Stadt bis in unser Schlafzimmer. Als unsere alte Amme uns wie allabendlich die Kerze fortgenommen und ins Nebenzimmer getragen hatte, glaubten wir durch den Spalt im Fensterladen den Schein einer Feuersbrunst zu sehen. Wir schoben ein Bett dicht an das Fenster, sprangen alle drei hinauf und drückten unsere Nasen an den Scheiben platt, um durch den Spalt des Ladens hinauszuspähen, dem fernen Lärm zu lauschen und unsere Eindrücke vom Tage zu besprechen, die alle, gleichsam wie die Menschenmassen um den Triumphbogen, um das eine bedeutsame Wort kreisten: der Zar!

Unser ältester Bruder wußte natürlich am meisten von uns Bescheid. Er wußte vor allem das auf das Ereignis bezügliche Lied, das folgendermaßen anfing:

Einst zog wie ein weißer Aar
Der rechtgläubige Reußenzar
Fern aus seinem Land dahin,
Ruhm zu holen und Gewinn . . .

Das Lied gefiel uns recht gut, machte uns indes nicht klüger. Der Bruder fügte noch hinzu, der Zar gehe ganz in Gold gekleidet, esse mit goldenen Löffeln von goldenen Schüsseln und – was das Wichtigste – »er dürfe alles«. Er dürfe zu uns ins Zimmer kommen, und an sich nehmen, was ihm gefalle, und keiner würde ihm ein Wort zu sagen wagen. Nicht genug: er dürfe einen beliebigen Menschen zum General machen und einem anderen den Kopf mit eigenem Säbel abhauen oder auch abhauen lassen, und der Befehl werde augenblicklich vollzogen. Der Zar habe eben »das Recht« . . .

Der Zarenbesuch ging vorüber, aber seine Nachklänge bildeten noch eine geraume Zeit den Hauptinhalt unseres Lebens.

Wir hatten einen entfernten Verwandten, den wir Onkel Peter nannten. Das war ein Mann schon von Jahren, groß und stark, mit lebensprühenden Augen, glattrasiertem Kinn und einem kleinen, spitz aufgedrehten Schnurrbärtchen. Wenn Onkel Peter mit lustigem Augenzwinkern seine Schnurrbartspitzen bewegte, dann konnten wir Kinder bis zu Tränen lachen, wenn er aber etwas erzählte, weckte er auch oft bei den Erwachsenen schallende Heiterkeit. Onkel Peter hatte nämlich den Ruf eines ausgemachten Witzboldes.

Auch nach dem Zarenbesuch gab er bei uns einige Anekdoten zum besten. An eine kann ich mich noch erinnern. Knapp vor dem Augenblick, wo die Zarenequipage passieren sollte, hatten die Polizisten in einer Seitengasse eine ledig einherlaufende Kuh bemerkt und wollten sie in Sicherheit bringen. Als die Kuh die beiden Uniformierten auf sich zulaufen sah, kriegte sie einen tödlichen Schreck, nun aber erst das »Hurra«-Geschrei machte das Tier vollends rasend. Es stürzte in das Menschengewühl und fing an, die Menge mit den Hörnern auseinanderzustoßen. Auf diese Weise hatte sich die Kuh bis zu dem Raum durchgearbeitet, der für die Zarenequipage freigehalten wurde und sprang dort just in dem Moment vor, als der kaiserliche Wagen vorbeisauste.

Sie setzte sich hinter dem Wagen in Galopp und langte richtig zusammen mit Seiner Majestät vor dem Hause des Gouverneurs an, hinter ihr zwei atemlose und auf den Tod erschreckte Polizisten.

Ich wußte nicht, was ich aus der Geschichte machen sollte: der Zar und plötzlich – eine Kuh . . . Am Abend besprachen wir das Ereignis in unserem Bubenzimmer und rieten über das Schicksal der unglückseligen Schutzleute sowie des Eigentümers der Kuh. Die Mutmaßung, daß man alle drei köpfen würde, schien uns ziemlich wahrscheinlich. Ob das gerecht, ob es nicht doch zu grausam war, diese Fragen kamen uns nicht in den Sinn. Etwas Gewaltiges war über der Stadt wie eine Gewitterwolke vorbeigerauscht, und inmitten desselben der Zar, der »alles darf« . . . Was hat daneben das Schicksal zweier Polizisten zu bedeuten? Freilich, ein wenig taten sie uns leid . . .

Wahrscheinlich wurde schon damals von der bevorstehenden Bauernbefreiung gesprochen. Onkel Peter und noch ein Bekannter äußerten einmal Zweifel, ob »der Zar selbst« alles durchsetzen könne, was er wolle.

»Was für ein Herrscher war doch z. B. Nikolaus,« alles zitterte vor ihm. Und doch »welches Ende hat er genommen!« . . .

Mein Vater antwortete mit seiner üblichen Redensart:

»Belehre Kranker den Medikus! Wenn er nur will, wird er's schon schaffen.«

Seitdem verging ein Jahr, dann noch ein Jahr. Die Gerüchte traten immer hartnäckiger auf. In unser stilles Provinzleben hatte sich gleichsam ein fremder Splitter gebohrt, der ein dunkles Unbehagen erregte, und alte Ereignisse schienen damit in einem eigentümlichen Zusammenhang zu stehen. Da geschah plötzlich ein Zeichen: in die »alte Figur« schlug der Blitz ein.

Ich habe schon von dieser »Figur« gesprochen. Das war ein großes Kruzifix, das im Garten unseres Nachbars, Pan Dobrowolski, an der Kreuzung unseres Gäßchens mit zwei anderen Straßen, zwischen üppigen Akazien, Holunder- und Ebereschensträuchern in die Höhe ragte. Man erzählte sich, der ehemalige Eigentümer des Grundstücks habe von den Toten, die fast täglich auf den evangelischen Friedhof gebracht wurden, früher viel auszustehen gehabt; um sich vor ihnen Ruhe zu verschaffen, soll er das Kruzifix aufgestellt haben.

Das war einst, in alter Zeit. Seitdem war auch der Grundbesitzer selbst den sandigen Weg hinausgefahren, das Kruzifix aber verwitterte, wurde rissig, überzog sich ganz mit bunten Flechten und nahm überhaupt das Aussehen eines würdigen Greisenalters an. Wer einmal einen Freund oder Verwandten zur letzten Ruhe zu geleiten hatte, behielt die melancholische »Figur«, die an der Straßenbiegung zum Friedhof feierlich in die Höhe ragte und der ganzen Gegend als Wahrzeichen diente, sicher für immer im Gedächtnis. Von uns z. B. pflegte man nicht anders zu sagen, als daß wir in Kolanowskis Hause »neben der alten Figur« wohnten.

Eines Nachts brach ein starkes Gewitter aus. Schon am Abend kamen von allen Seiten dunkle Wolken zusammengezogen, die sich unheimlich umeinanderschoben, im Kreise drehten und aufblitzten. Als es Nacht wurde, folgten sich die Blitze fast ununterbrochen und beleuchteten die Häuser, das verblaßte Grün des Gartens und die schwarze »Figur« mit Tageshelle. Irregeführt durch diese Helligkeit erwachten die Sperlinge und steigerten durch ihr verstörtes Gezwitscher die gleichsam in der Luft liegende Angst und Beklemmung. Die Mauern unseres Hauses erbebten einmal über das andere von Donnerschlägen und die Fensterscheiben klirrten dazu in leiser Klage.

Man hatte uns ins Bett gebracht, wir schliefen jedoch nicht, sondern lauschten beklommen den lärmenden Schreien des Gewitters, dem ängstlichen Gezwitscher der Sperlinge und spähten durch den Spalt im Fensterladen ins Freie, durch den immerfort violettes Licht aufzuckte. Endlich spät in der Nacht legte sich das Gewitter. Das Rollen des Donners entfernte sich allmählich, und nur ein gleichmäßiger heftiger Regen peitschte die Dächer. Auf einmal krachte irgendwo in nächster Nähe ein einziger Donnerschlag, von dem die Erde in den Grundfesten erzitterte . . . In unserem Hause wurde Alarm geschlagen. Die Mutter stand auf. Hinter dem Heiligenbild holte man eine große Wachskerze, die »Gewitterkerze«, hervor und zündete sie an, und lange noch blieb alles im Hause wach in der ängstlichen Erwartung eines besonderen Zeichens von dem erzürnten Himmel.

Am anderen Morgen standen wir Kinder spät auf und das erste, was wir hörten, war, daß jener letzte furchtbare Donnerschlag in der Nacht die »alte Figur« getroffen hatte.

Unser ganzer Hof und die Küche schwirrten natürlich von Berichten über das große Ereignis. Dessen Augenzeuge war nur der alte Wächter mit der Hellebarde, der in dem Schilderhäuschen dicht neben dem Kruzifix wohnte. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, wie vom Himmel plötzlich eine feurige Schlange herniederfuhr und sich gerade auf das Kreuz setzte, das von oben bis unten aufflammte. Dann erfolgte ein furchtbares Getöse, die Schlange flog auf einen alten Baumstamm hinüber, das Kruzifix aber neigte sich langsam zur Erde.

Als mein Bruder und ich an die Ecke unseres Gäßchens liefen, war dort schon ein ganzer Haufen Menschen versammelt. Das Kruzifix war geborsten. Sein zerschmetterter Stumpf ragte immer noch in ansehnlicher Höhe in die Luft, während der obere Teil mit den verkohlten Armen und der Figur des Gekreuzigten im zerwühlten Grün der Sträucher am Boden lag. Der Anblick war eigentümlich ergreifend. Allmählich gab das Grün unter der Last nach, irgendein Zweig knisterte, der Kopf der Figur schwankte wie lebendig und versank noch tiefer. Dann verstummten wir, Kinder wie Erwachsene, für einen Augenblick in abergläubischem Schrecken . . .

Um jene Zeit diente bei uns als Kutscher ein alter Mann mit Namen Petrus, der Sommers und Winters im Schafpelz ging. Er hatte ein runzliges Gesicht und dünne Lippen, die unter dem spärlichen Bartwuchs stets den Ausdruck einer unerklärlichen Bitterkeit bewahrten. Er war äußerst schweigsam, beteiligte sich nie an dem Tratsch und Klatsch des Gesindes und ließ sein Tonpfeifchen, in dem er zuweilen den glimmenden Tabak einfach mit dem Daumen umrührte, nicht aus dem Munde. Ich glaube, dieser Mann war es, der beim Anblick des geborstenen Kruzifixes sagte:

»Hm . . . Es kommt wohl was . . .«

Seitdem war dieser Satz für einige Zeit zum Grundton meiner Eindrücke geworden, vielleicht auch deshalb, weil dem Zusammenbruch der alten »Figur« noch ähnliche bedeutungsvolle Ereignisse folgten. In einem Dorfe in der Nachbarschaft fing es nämlich an zu spuken . . .

Etwa vierzig Werst von unserer Stadt lag hinter einem dichtbewaldeten, fast ununterbrochenen Forstgebiet, von dem übrigens heute nur kümmerliche Reste übrig geblieben sein mögen, das Städtchen Tschudnoff. Im Forst waren Wachthäuschen und Hütten von Waldhütern zerstreut, hie und da gab es sogar, dem Waldflüßchen entlang, ganz bewohnte Dorfflecken.

Ich entsinne mich nicht mehr, wer von unseren Dienstboten – vielleicht war es sogar derselbe Petrus – in jener Gegend Verwandte hatte, die hin und wieder in unsere Stadt kamen. Diese werden es wohl gewesen sein, die die Kunde mitgebracht hatten, daß in einem der Waldflecken bei Tschudnoff seit einiger Zeit ein Gespenst umgehe.

Es war eine große weiße Gestalt, die, selbstverständlich bei Nacht, auf dem gegenüberliegenden Flußufer zu erscheinen pflegte. In dem riesengroßen Kopf leuchteten zwei glühende Augen, aus dem Rachen schlugen feurige Flammen. Das Gespenst pflegte sich plötzlich in der Finsternis auf der Böschung, gerade dem Dörflein gegenüber, aufzupflanzen und mit schauerlicher Grabesstimme zu heulen:

»Ach, es kommt was! Ach – ach – ach . . .«

Dann erloschen die Augen, und der Spuk löste sich in der Luft auf. Das wiederholte sich zum Entsetzen der Dorfbewohner Abend für Abend.

Nachmals hat uns der Vater, der zu jener Zeit, wenn ich nicht irre, Untersuchungsrichter war und häufig im Kreise zu tun hatte, von einer seiner Fahrten heimgekehrt, das Ende jener Geschichte erzählt.

Dem Vater zufolge passierte gerade ein beurlaubter oder verabschiedeter Soldat den Flecken, hörte von der Sache und beschloß für eine verhältnismäßig bescheidene Entlohnung in Schnaps, das Volk von dem Spuk zu erlösen. Nach Eintritt der Dunkelheit setzte er über das Flüßchen und kauerte sich unter dem Uferabhang nieder. Als zur gewohnten Stunde das lange Gespenst mit den feurigen Augen sich an der üblichen Stelle einfand, gaben die Dörfler den tollkühnen Soldaten natürlich verloren. Allein bei den ersten Lauten des unheimlichen Geheuls spielte sich drüben in der Dunkelheit eine seltsame Balgerei ab, aus dem Kopfe des Gespenstes stürzte eine Garbe Funken, und das Gespenst selbst verschwand. Der Soldat aber rief nach einiger Zeit, als wäre nichts geschehen, man solle ihn im Kahne überholen. Übrigens wollte er den geängstigten Einwohnern Näheres nicht berichten, versicherte sie bloß, daß es mit dem Spuk »aus« wäre.

Der Vater hatte für den geheimnisvollen Vorgang eine eigene Erklärung. Wie er behauptete, handelte es sich einfach um einen Schabernack, einen üblen Spaß, den sich ein dortiger Taugenichts, nämlich des Popen Neffe, mit den dummen Leuten leistete. Der Spaßvogel stellte sich abends auf Stelzen, drapierte sich in Bettlaken und setzte sich einen Topf mit glühenden Kohlen auf den Kopf, in den Topf aber hatte er Löcher gemacht, die Mund und Augen darstellen sollten. Als der Soldat den Burschen unvermutet bei den Stelzen packte, purzelte »das Gespenst« auf den Boden, der Topf ging in Scherben, und die Kohlen wurden verschüttet. Der also Entlarvte gab dem Soldaten ein gutes Trinkgeld, damit dieser das Geheimnis des Spuks nicht verrate.

Uns Kindern gefiel die lustige Erklärung, welche die grausige Vorstellung von dem heulenden Gespenst zerstreute, ausnehmend gut, und der Vater mußte uns die Geschichte noch oft erzählen. Sie wurde jedesmal unter allgemeiner Heiterkeit beschlossen.

Allein in der Küche hatte diese nüchterne Erklärung nicht den geringsten Eindruck gemacht. Pani Budzynska, die Köchin, und mit ihr andere wußten die Sache noch viel einfacher zu deuten: der Soldat war eben selbst mit Geistern im Einvernehmen, er hatte sich schiedlich-friedlich mit dem Gespenst verständigt und der Böse war auf einen anderen Ort verzogen. Daher blieb die Moral der ganzen Episode in voller Kraft:

»Es kommt halt was« . . .

Kurz darauf tauchte ein neues Gerücht auf: man fing an, von sogenannten »goldenen Freibriefen« zu raunen, die weiß Gott woher auf Landwege, in Felder, auf Zäune hinweggeweht lagen . . . Diese geheimnisvollen Urkunden, die den Bauern Freiheit verhießen oder gar verliehen, sollten »vom Zaren selbst« herrühren und bei dem Bauernvolk natürlich Glauben gefunden haben, während die Herren ihnen keine Beachtung schenken wollten, wobei die Bauern – wie es hieß – immer trotziger, die Herrschaften aber immer verzagter wurden . . .

Endlich schlug um dieselbe Zeit in unserer Gegend wie eine Bombe die unglaubliche Geschichte vom »gehörnten Popen« ein . . . Mit dieser Geschichte hatte es folgende Bewandtnis. Ein Bauer grub beim Pflügen auf seinem Acker einen eisernen Kessel mit Dukaten aus. Er trug den Fund nach Hause und vergrub ihn, ohne einem Menschen ein Wort davon zu sagen, im Garten. Dann hielt er es aber nicht aus und vertraute das Geheimnis seinem Weib an, indessen er sie vorher schwören ließ, daß sie es niemandem verraten werde. Die Bäuerin versprach hoch und heilig zu schweigen, es litt sie aber doch nicht lange. Sie lief zum Popen, und nachdem dieser sie von dem geleisteten Eid freigesprochen hatte, plapperte das dumme Weib alles von A bis Z aus.

Der Pope war ein ebenso habgieriger wie listiger und verschlagener Mensch. Er tötete und enthäutete ein junges Rind, zog selbst dessen Haut mitsamt den Hörnern an, wobei ihm die Popin die Verkleidung hier und da mit Nadel und Zwirn befestigen mußte, dann begab er sich um Mitternacht zur Hütte des Bauern, und klopfte mit dem Horn an das kleine Fenster. Der Bauer schaute hinaus und erstarrte. Die Nacht darauf wiederholte sich dasselbe, nur daß der Teufel diesmal die kategorische Forderung stellte: »Gib meine Batzen heraus!«

Der Bauer erschrak tödlich, grub am nächsten Tag den Kessel aus und trug ihn in die Hütte. Als sich der Teufel in der dritten Nacht wieder mit seiner Forderung meldete, öffnete der Bauer das Fenster und hing dem unheimlichen Gast den Kessel mitsamt den Dukaten um die Hörner.

Der erfreute Pope lief stracks zu seiner Popin, neigte die Hörner und befahl ihr: »Nimm die Batzen herunter.« Als aber die Popin den Befehl ausführen wollte, zeigte sich, daß der Kessel an den Hörnern wie angewachsen hing und sich nicht abnehmen ließ. »Nun, dann schneide die Naht auf und nimm ihn mit der Haut herunter,« befahl der Pope. Kaum begann aber die Popin die Naht mit der Schere aufzutrennen, als der Pope mit gräßlicher Stimme schrie, sie schneide ihm die Adern durch. Es stellte sich heraus, daß die Dukaten an den Kessel festgewachsen waren, der Kessel an die Hörner und die Rindshaut an den Popen.

Die Sache kam natürlich, wie alles Wichtige, vor den Zaren. Dieser hielt mit seinen Ältesten Rat und sie beschlossen, daß man den Popen über die ganze Erde, über Städte und Dörfer führen und auf Marktplätzen ausstellen solle, damit alle Leute herantreten und ihm den Kessel abzunehmen versuchen. Das Geld rührte nämlich – so urteilte der weise Zarenrat klüglich – entweder von einem Menschen her, den Räuber erschlagen hatten, oder von einem Zauberer, der seinen Schatz vergraben und verwunschen hatte. Findet sich nun der Erbe desjenigen Mannes, dem das Geld nach Recht und Billigkeit gehörte, so wird der Kessel sich von eines solchen Hand, und nur von ihm, abnehmen lassen, alsdann, aber nicht eher, wird auch der Pope seiner Rindshaut ledig . . .

Der Vater erzählte uns lachend diese Geschichte und fügte hinzu, daß nur dumme Leute auf dieses Gerücht hereinfallen könnten, da es sich einfach um ein uraltes Volksmärchen handele, das, man weiß nicht wie, plötzlich wieder in Schwung gekommen sei. Doch das einfache Volk glaubte fest daran, und hie und da mußte schon die Polizei einschreiten, um Menschenaufläufe zu zerstreuen, die auf das Gerücht hin, daß man den »gehörnten Popen« bringe, da und dort entstanden. In unserer Küche wurde die Marschroute des unseligen Popen aufmerksam verfolgt: es wurde genau angegeben, er sei bereits in Petersburg, in Moskau, in Kijew, ja selbst in Berditschew gewesen und nächstens solle er zu uns nach Schitomir gebracht werden.

Mein jüngerer Bruder und ich schwankten zwischen Glauben und Zweifel, jedenfalls hatten wir jetzt eine neue Beschäftigung. Wir kletterten auf Zaunpfähle an der Ecke unseres Gäßchens und hielten Ausschau in die Fernsicht der Chaussee. Wir pflegten so regungslos stundenlang zu hocken, manchmal mit Brotstullen versehen, und spähten unverwandt in die staubige Ferne, in der wir jeden auftauchenden Fleck verfolgten. Eine unwiderstehliche beharrliche Erwartung hielt uns in dieser unbequemen Lage unter sengenden Sonnenstrahlen gebannt, bis uns der Schädel schmerzte.

Manchmal waren wir schon nah dran, den Posten zu verlassen, aber am Horizont tauchten fortwährend in dem schmalen Durchblick der Chaussee am Friedhof neue Umrisse auf, die herunterrollten, wuchsen und sich schließlich als die prosaischsten Dinge herausstellten, hinter denen aber wieder andere auftauchten, und die Hoffnung neu erweckten: wie, wenn gerade jetzt dasjenige käme, worauf alle warten! . . .

Einmal rief jemand im Hof: »Man bringt ihn her!« Sofort entstand ein unbeschreibliches Durcheinander: Dienstboten rannten aus der Küche, Zimmermädchen rannten, Stallknechte rannten, Nachbarn aus dem Gäßchen rannten, und von der Straßenkreuzung her waren Trommelwirbel und unbestimmtes Getöse zu hören. Mein Bruder und ich rannten natürlich gleichfalls. Es stellte sich heraus, daß ein Sträfling auf erhöhtem Wagensitz zur Hinrichtung transportiert wurde.

Dieses dumme Märchen verflocht sich nun mit dem Sturz des Kruzifixes, mit dem Gespensterspuk von Tschudnoff und fiel in die ohnehin mit Erwartung geschwängerte Atmosphäre: »Es kommt was . . .« Was eigentlich kommen sollte, wußte niemand. Goldene Freibriefe, Bauernrevolten, Mordanschläge, der gehörnte Pope, alles fügte sich zu einer beklemmenden, irritierenden Spannung. Die einen glaubten dies, die anderen das, alle hatten das Gefühl, daß es mit dem gesunden Pflanzenschlaf der früheren Zeiten vorüber war, daß etwas Neues auf uns alle zuschritt, und das unbedeutendste Symptom wurde mit wachsamer Unruhe aufgenommen.

Von meinem einstigen kindlichen Glauben an die Unveränderlichkeit alles Bestehenden war zu jener Zeit auch nicht eine Spur mehr übrig geblieben. Ich hatte im Gegenteil die deutliche Empfindung, daß nicht bloß meine winzige Welt, sondern auch die große Welt, daß auch jenseits unseres Hofes und jenseits der Stadt, irgendwo fern »in Moskau und Petersburg,« alles auf etwas warte und durch die Erwartung in peinigende Unruhe versetzt werde . . .

Die Zeitung war damals in unserer stillen Provinz eine Seltenheit. Die hinterwäldlerische Öffentlichkeit war auf Gerüchte, Mutmaßungen, überhaupt auf das »unmaßgebliche Raisonnieren« des beschränkten Untertanenverstandes angewiesen. Irgendwo in den oberen Regionen wurde die große Reform vorbereitet, und die Zukunft warf ihre Schatten voraus. Im Schatten tauchten Gespenster auf, die Unsicherheit wurde zum Grundton des Lebens. Die großen Züge des Kommenden waren unbekannt, und Lappalien wuchsen sich zu großen Ereignissen aus.

Um jene Zeit ist die erste Telegraphenlinie durch unsere Stadt gelegt worden. Zuerst wurden frischbehauene Pfähle in Menge gebracht und in gleichen Abständen in den Straßen abgeladen. Dann grub man Löcher in das Pflaster, und eines davon kam just an der Ecke unseres Gäßchens und der vom Verkehr belebten Wilnaer Straße zu liegen. Sodann wurden die Pfähle eingerammt und gewaltige Knäuel Draht auf Handkarren angefahren. Ein Beamter in nagelneuer Telegraphistenuniform beaufsichtigte die Arbeit. Auf jeden Pfahl kletterte ein Arbeiter, hielt sich mit beiden Füßen sowie mit einer Hand an den aus den Pfählen ragenden Haken fest und zog oben den Draht durch. War ein Pfahl derart erledigt, dann rollten sie eilig den Handkarren zum nächsten, so daß gegen Abend schon drei oder vier Drähte über der Stadt in Parallellinien schwebten, und die Pfähle sie die Chaussee entlang mit fort in die Ferne trugen. Die Arbeiter wurden lebhaft angespornt und schafften auch die ganze Nacht hindurch. Am nächsten Morgen waren sie schon weit draußen, hinter dem städtischen Schlagbaum, und einige Tage später sagte man, daß der Draht bis nach Brody gelegt und mit dem Auslande verbunden wäre. Auch ein Toter blieb bei dieser Gelegenheit in unserer Stadt zurück. Einer von den Arbeitern war von der Telegraphenstange abgestürzt, geriet im Fall mit der Kinnlade auf einen Haken und blieb mit zerschmettertem Schädel hängen . . .

Ich entsinne mich nicht, je in der Folgezeit ein so lautes Dröhnen der Telegraphendrähte gehört zu haben, wie damals in den ersten Tagen. Besonders erinnere ich mich an einen hellen Abend; in unserem Gäßchen war es ungewöhnlich still, das Wagengerassel der Stadt verstummte auch allmählich und das ungewohnte Dröhnen trat desto deutlicher hervor. Mich beschlich bei diesem eintönigen unverständlichen Schrei des toten Metalls, das wer weiß woher aus der fernen Hauptstadt, »wo der Zar wohnt,« durch die Luft gezogen kam, eine seltsame Bangigkeit . . .

Die Sonne war untergegangen, nur zwischen fernen Dächern nach der Seite des polnischen Friedhofs hin glühte noch am Himmel ein purpurroter Streifen. Der erkaltende Draht schrie immer lauter und erfüllte die Luft mit seiner schrillen Klage. Später wurden die Drähte wahrscheinlich fester angezogen, und das Klingen legte sich allmählich. An gewöhnlichen windstillen Tagen pflegte der Telegraph nur leise zu summen, wie wenn sein anfänglicher Schrei nun zur dumpfen Rede herabgestimmt wäre.

In jenen ersten Tagen konnte man vielfach Neugierige ihr Ohr an die Pfähle legen und aufmerksam lauschen sehen. Der Volksglaube überholte hier bei weitem den Fortschritt der Technik: es wurde behauptet, daß man vermittels des Drahts in die Ferne sprechen könne, da aber unser Draht zur Grenze führte, so tauchte begreiflicherweise die Mutmaßung auf, es sei niemand anderes als der Zar selbst, der sich eben mit ausländischen Kaisern über Regierungsgeschäfte unterhalte.

Mein Bruder und ich verbrachten auch viele Stunden an den Telegraphenstangen. Als ich zum erstenmal mein Ohr an das Holz drückte, war ich durch die Mannigfaltigkeit der flüssigen Laute frappiert. Das war nicht mehr der einzelne hohle metallische Klang, sondern ein ganzes Rinnsal von Tönen, das durch den hölzernen Pfahl strömte, ein verworrenes, spannendes Gemisch von Lauten. Und manchmal wollte meine erregte Einbildung entschieden etwas wie ein fernes Gespräch aufgefangen haben.

Eines schönen Morgens wurden diese dunklen Gespräche endlich in klare menschliche Sprache übersetzt. Jemand brachte nämlich in unsere Küche die Kunde, daß der verabschiedete Beamte Popkoff »das Gespräch durch den Telegraph« glücklich entziffert habe.

Der Beamte Popkoff galt für einen außerordentlich wohlinformierten Mann. Er war vor langer Zeit aus unbekannten Gründen vom Dienst verjagt worden, trug aber noch zum Zeichen seiner vergangenen Herrlichkeit einen alten Uniformmantel mit Metallknöpfen und zum Zeichen seiner gegenwärtigen Drangsale manchmal Bastschuhe an bloßen Füßen. Das war ein kleiner Kautz mit ungeheuerlich großem Kopf und einer wahrhaft außerordentlichen vorstehenden Stirn, der sich mit dem Aufsetzen von Bittschriften und Klagen für kleine Leute schlecht und recht durchschlug. Solches war ihm zwar als einem »notorischen Verleumder und Ränkeschmied« in aller Form verboten, diesem Umstand hatte er es jedoch zu danken, daß seine »Handschriften« sich desto größeren Zuspruchs beim einfachen Volke erfreuten. Nahm man doch an, daß dem Exbeamten gerade deshalb verboten ward, seine Schriftstücke anzufertigen, weil denselben eine Kraft innewohnte, gegen die auch die mächtigste Obrigkeit nicht aufzukommen vermochte. Bei alledem führte er im ganzen ein recht kümmerliches Dasein und versuchte sich in bösen Stunden, wenn alle Stricke rissen, als Hanswurst und Taschenspieler. Eines seiner Paradestücke bestand darin, daß er Walnüsse mit bloßer Stirn aufschlug.

Eben dieser Mensch, der eigentlich aus keinem anderen Grunde einst vom Amte verjagt war, als weil ihm – wer wollte daran zweifeln! – zu viel von Regierungsgeheimnissen bekannt war, hatte es fertig gebracht, auch die geheimen Gespräche unseres Zaren mit den ausländischen Kaisern, namentlich mit dem französischen Napoleon, zu belauschen. Nun war es heraus: die ausländischen Kaiser forderten von dem unsrigen, er solle . . . alle leibeigenen Bauern freilassen. Dabei soll Napoleon laut und barsch, der unsrige aber freundlich und leise gesprochen haben.Die Legende von der Einmischung fremder Mächte in die Sache der Bauernbefreiung in Rußland ist mir noch mehrere Jahre später im Kreise Arsamaß des Gouv. Nischni Nowgorod zu Ohren gekommen. Anm. d. Verf.

Dies war, wie ich glaube, die erste ganz deutliche Form, in der ich von der bevorstehenden Bauernbefreiung zu hören bekam. Die dunkle Prophezeiung des Gespenstes von Tschudnoff: »es kommt was! . . .« nahm feste Gestalt an: der Zar wollte den Gutsherren ihre Bauern nehmen und sie freilassen . . .

War das gut oder schlecht?

Würde ich einen Roman schreiben, dann wäre es sicher verlockend, diese Frage mit den Schicksalen der beiden oben beschriebenen »gekauften Knaben« zu verknüpfen. Es würde sich ohne weiteres ergeben, daß ich noch als Kind, aus zartem Mitleid mit meinem in der Sklaverei bei Herrn Ulanizki schmachtenden Freunde, von ganzem Herzen die Bauernreform herbeisehnte, und für den guten Zaren, der alle gekauften Knaben von den bösen Ulanizkis befreien wollte, heiß zu Gott betete. Das würde eine artige Empfehlung für mein jugendliches Herz und obendrein ein recht effektvolles Motiv abgeben: irgendwo in einem kleinen Provinzstädtchen glüht ein unverdorbenes Knabenherz für den guten Zaren und die Volksfreiheit . . . Leider sehe ich mich gezwungen, wenn ich die Bilder betrachte, die jetzt aus dem Nebel der Vergangenheit vor mir aufsteigen, auf dieses rührende Motiv zu verzichten. Ich weiß wirklich nicht zu sagen, wie das kam: sei es, weil Kinder zu sehr von den unmittelbaren Eindrücken des Augenblicks leben, als daß sie das Erlebte zu allgemeineren Schlüssen verknüpfen können, sei es aus einem anderen Grunde, genug, ich kann mich absolut nicht entsinnen, die Absichten des Zaren in bezug auf alle Bauern und alle Grundbesitzer etwa mit den persönlichen Schicksalen, sagen wir, Mameriks oder des anderen Knaben, dem wir begegnet waren, in irgendeinen Zusammenhang gebracht zu haben. Ich konnte daher auch zu jener Zeit nicht finden, daß die herannahende Bauernbefreiung etwas Gutes sei.

Auch waren meine Eindrücke von den kommenden Dingen ziemlich vage und unsichere. Bei uns in der Küche erwartete man, soviel ich mich erinnere, von der Sache nichts Gutes – vielleicht deshalb, weil hier gewissermaßen das aristokratische Volkselement überwog. Unsere Köchin war »Pani« Budzynska; das Stubenmädchen, ein Frauenzimmer mit feinen und anmutigen Gesichtszügen, das stets nur polnisch sprach, hieß »Pani« Chumowa; auch der Diener Handylo würde sich äußerst beleidigt gefühlt haben, wollte man ihn zu den Bauern zählen. Von allen unseren Dienstboten hatte nur die alte Amme und die Budzynska die Dorftracht beibehalten und beide trugen noch ein Tuch um den Kopf, aber auch sie sahen nicht mehr bäurisch aus. Nur der Kutscher Petrus in seinem ewigen Schafpelz und den schweren Bauernstiefeln, deren Schäfte er nach außen umgekrempelt trug, mutete wie ein echter Muschik an. Dies war aber ein äußerst schweigsamer Geselle, der immer nur zu rauchen und von Zeit zu Zeit auszuspucken pflegte, ohne irgendwelche allgemeinen Urteile abzugeben. Sein Ausdruck blieb stets gleich hart, verschlossen und finster.

Menschen messen überhaupt die eigenen Geschicke gern am Schicksal anderer, mit denen sie sich vergleichen. Dieser ganze Kreis von Dienstboten lebte unter dem milden Regime meiner Mutter nicht übel, und in den Abendstunden pflegte sich in unserer Küche, die tüchtig eingeheizt und deren Luft mit kräftigem Geruch fetter Kohlsuppe und warmen Brotes gesättigt war, eine kleine Gesellschaft von Leuten zu versammeln, die im großen ganzen mit ihrem Los zufrieden waren. Das Heimchen zirpte, ein Stümpfchen Talglicht flackerte auf dem Ofensims, die Spindel surrte, spannende Erzählungen rissen nicht ab, bis irgend jemand, vom Gefühl der Sättigung und der molligen Hitze übermannt, sich von der Bank erhob und die Glieder behaglich dehnend bemerkte:

»Schau, wie es doch schon spät geworden ist! Allmählich wird's wohl Zeit, in die Federn zu kriechen . . .«

Unter den abendlichen Erzählungen kamen mitunter auch Episoden vor, die von der Grausamkeit der Gutsherren Zeugnis ablegten, doch wurden sie nicht zu Verallgemeinerungen verwendet. Es gibt in der Welt halt gute Herrschaften und böse Herrschaften. Diese letzteren werden vom lieben Gott, zuweilen sogar sehr nachdrücklich, bestraft. Aber auch der Bauer muß wissen, was sich für ihn geziemt, denn so will es die vom Herrgott bestimmte Weltordnung. Den Leutchen in unserer Küche hatte der Herrgott eine verhältnismäßig leichte Arbeitslast, volle Sättigung und nicht zu knappe Mußezeit zugemessen. Daher schien ihnen jenes Unbekannte, das herrannahte, zum Teil beängstigend. »Es kommt was . . .« Ob aber was Gutes oder Schlimmes – wer weiß! Auf jeden Fall war es mit der lieben Ruhe vorbei . . .

Derart war die Stimmung nicht bloß in unserer Küche.

Eines Morgens erschien in aller Frühe in unserem Hofe ein großer Haufen Bauern in Kitteln und Schafpelzmützen. Sie kamen geradenwegs vom Lande hergestapft, viele trugen Körbe aus Birkenrinde auf dem Rücken und leinene Säcke über die Schulter gehängt. Der Haufe drängte sich mit gedämpftem Stimmengewirr vor der großen Freitreppe des steinernen Hauses und der herbe Bauerngeruch von Schweiß, Theer und Schafpelz war aus ziemlicher Entfernung zu spüren. Bald traten zwei Greise – offenbar Wortführer der anderen – barhäuptig aus dem Haufe und warfen den ängstlich Aufhorchenden einige Worte hin. Unter den Bauern erhob sich lebhaftes, anscheinend freudiges Gemurmel und im nächsten Augenblick fiel der ganze Haufe auf die Knie: oben auf der Freitreppe erschien auf ihre Kammerfrauen gestützt Pani Kolanowska. Das war eine wohlbeleibte imposante Dame mit sehr lebhaften schwarzen Augen, einer Adlernase und einem ziemlich deutlichen dunklen Flaum auf der Oberlippe, wie sie oben auf der Treppe über der knieenden Menge stand, erschien sie wie eine Königin unter ihren Untertanen. Sie sagte ihnen ein paar huldreiche Worte, die der Haufe mit freudigem und ergebenem Gemurmel beantwortete. Zur Mittagszeit wurden im Hofe mehrere lange Tafeln zusammengestellt, an denen die Bauern vor dem Heimweg einen Imbiß vorgesetzt bekamen.

Aus Gesprächen Erwachsener erfuhr ich, daß dies Leibeigene der Frau Kolanowska aus dem fernen Dorfe Skoluboff waren, die darum baten, daß man sie im alten Dienstverhältnis belassen möge: »Wir gehören halt zu euch, und ihr gehört zu uns.« Die Kolanowska war eine gutherzige Frau. Ihre Bauern hatten genügend Land, überdies pflegten fast alle tüchtigen Arbeitskräfte von Skoluboff über die Winterzeit zu Zimmerarbeiten abzuwandern, was tüchtigen Nebenverdienst eintrug. Den Leuten ging es offenbar besser als manchen ihrer Nachbarn, und die Kunde: »es komme was« hatte in ihnen die Befürchtung geweckt, die unbekannte »Zukunft« könnte sie den anderen am Ende noch »gleichmachen« . . .

Im selben Sommer nahmen mich die Kolanowskis mit auf ihr Landgut. Jener Landaufenthalt ist in meinem Gedächtnis wie ein zauberhaftes Traumbild haften geblieben. Ein großes und prunkvolles Herrenhaus und nicht weit davon eine Reihe kleiner Bauernhütten, die hinter der Böschung mit ihren Strohdächern und weißgetünchten Wänden hervorlugten . . . Abends leuchtete das herrschaftliche Haus aus großen Fenstern hell auf, während die Bauernhütten mit ihren trüben zerstreuten Lichtlein sanft und demütig in der Dunkelheit blinkten. Und all dies schien so friedfertig, anheimelnd und einträchtig . . . In den Hütten wohnten dieselben Bauern, die einst unsere Haustreppe auseinandergenommen und eine neue gezimmert hatten – kluges und kräftiges Volk. In dem großen Hause hingegen wohnte die Herrschaft, – milde und freundliche Menschen. Am Tische der Frau Kolanowska pflegten sich entfernte Verwandte und Gutsbeamte zu versammeln, – lauter ruhige und gefällige Leute. Über allem lag ein eigenes Gepräge sicherer und fest gefügter Daseinsformen, ohne Widersprüche und ohne Mißtöne.

Ich erinnere mich, daß einmal ein durchreisender Herr in stutzerhaftem Rock, gestreiftem Vorhemd und einem goldenen Zwicker auf der Nase zum Abendtisch erschien, – eine Gestalt, die von dem allgemeinen ländlichen Ton des Hauses schroff genug abstach. Dieser Herr führte unter anderem aus, daß die Bauern samt und sonders Faulenzer, Trunkenbolde, Taugenichtse, kurz »Vieh« seien. Frau Kolanowska erwiderte ruhig: das Haus, in dem wir saßen und alles, was sich darin befand, bis zum letzten Stuhl, sei von ihren Bauern verfertigt. Ihr Stadthaus sei gleichfalls von denselben Bauern gebaut, und alles unter der Leitung eines alten klugen Bauern ausgeführt worden. Es fragte sich: welcher ausländische Baumeister dies alles solider und praktischer zustande gebracht hätte? Die sanftmütige Verwandtschaft der Hausherrin und die Offizialisten stimmten ihren Äußerungen eifrig zu, und die Ansichten des Fremdlings prallten an dieser geschlossenen und unerschütterlichen Weltanschauung glatt ab.

Ich fühlte gleichfalls, daß Frau Kolanowska recht hatte. Das Dorf, die mir nur aus der Ferne bekannte Welt der Starken, Tüchtigen und Demütigen erschien mir in ihrer Demut gut und schön. In den Abendstunden pflegten an dem herrschaftlichen Hause vorbei Knechte und Mägde von der Arbeit heimzukehren, mit Rechen und Sensen über der Schulter, mit Kornblumenkränzen auf dem Kopf, mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen. Wenn die erste Garbe im Feld gebunden war, wurde sie feierlich ins herrschaftliche Haus gebracht. Die Garbe schwankte über den Schafpelzmützen der Knechte und den Kornblumenkränzen der Mädchen hoch in der Luft und schien an dieser allgemeinen Arbeitsfreude mit ernstem Nicken selbst teilzunehmen. Man hieß das den »Vorschnitt«.

Mit noch größerer Feierlichkeit wurde die letzte Garbe zum Erntedankfest heimgebracht. Vor dem herrschaftlichen Hause standen alsdann auf dem Platz Tische mit Imbiß, Knechte und Mägde tanzten miteinander bis in die späte Nacht, während die ganze herrschaftliche Familie im Vorhof saß und der Lustbarkeit heiter und freundlich zuschaute. Dann zog die Menge von dem hellerleuchteten herrschaftlichen Hause wieder zu den demütig hinter der Böschung blinkenden Hütten mit Gesang heimwärts, und in dem Maße, wie die Sänger, einer nach dem anderen, sich von der Gruppe lösten und in ihren Hütten verschwanden, erscholl das Lied immer schwächer, verhallte und erstarb schließlich in der linden Abendluft irgendwo am anderen Ende der Dorfstraße . . .

All dies erschien mir wieder so friedlich und schön, so geschlossen und unerschütterlich . . . In meiner Erinnerung lebt jener idyllische Winkel aus der Zeit der Leibeigenschaft wie von den letzten rosigen Strahlen einer untergehenden Sonne beschienen . . .

Unterdessen wurden die Schicksale der Leibeigenschaft schon in den hohen Regierungskreisen erwogen, und in unserer Provinz herrschte bange Erwartung. »Es kommt was! . . .« heulte das Gespenst von Tschudnoff. Das alte Kruzifix, das seit undenklichen Zeiten gestanden hat, barst plötzlich und stürzte zur Erde. Der gehörnte Pope geht von Stadt zu Stadt um, – ein offenbares Zeichen des bevorstehenden Weltendes. »Es kommt was« schreit bange der Telegraphendraht. In der Küche werden statt der Gespenstermärchen Nachrichten über »goldene Freibriefe« verbreitet, es wird erzählt, daß die Bauern nicht mehr fronen und robotten wollen, daß der Karmeluk aus Sibirien zurückgekehrt sei, alle Gutsherren niedermachen und die Muschiks gegen die Stadt führen wolle . . .

Das unbekannte platte Land jenseits der Stadtmauern erschien mir nach diesen Erzählungen finster, drohend, vom düsteren Widerschein der Feuersbrünste beleuchtet. In meiner Knabenseele zuckte mitunter, wie unheilverkündendes fernes Wetterleuchten, ein unbestimmtes Angstgefühl auf, das übrigens vor den Eindrücken des nächsten hellen Tages rasch wieder zu verschwinden pflegte . . .


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