Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Herr Ulanizki und die »gekauften Knaben«.

Jeden Morgen spielte sich zu einer bestimmten Stunde im »Souterrain«, d. h. in der Kellerwohnung des Hauses uns gegenüber unveränderlich ein und dieselbe Szene ab. Erst kam der eiserne Riegel des Fensterladens in Bewegung und jemand drückte von innen den Bolzen heraus, mit dem der Laden bei Nacht geschlossen war; die Eisenstange schob sich auf die Seite als wäre sie lebendig und fiel mit Gepolter herunter, worauf eine Hand durch die Luftklappe langte und die Läden vollends öffnete. Alsdann wurde auch das Fenster selbst, das zu ebener Erde lag, aufgemacht, und darin erschien ein Kopf mit einer Schlafmütze.

Das war der Mieter Herr Ulanizki, ein alter Junggeselle. Er schob sein scharfes Profil vor, das mit dem Zwickelbärtchen und der Höckernase gleichsam das Bild Napoleons III. karikierte, dann warf er einen unruhigen Blick auf die Fenster unseres Flügels. Bei uns waren die Läden meist noch geschlossen. Dessen versichert, tauchte Herr Ulanizki wieder in seine Kammer zurück, und bald darauf erschien auf dem Fensterbrett seine ganze winzige magere Gestalt mit der Zipfelmütze, im bunten Schlafrock, unter dem das Unterzeug und bloße Füße in Pantoffeln hervorguckten. Nachdem er noch einen raschen Blick um sich geworfen hatte, huschte Herr Ulanizki, irgendeinen Gegenstand unter den Schößen seines Schlafrockes verbergend, um die Ecke und auf den Hinterhof, von wo er alsbald im gleichen Aufzug zurückkehrte.

Wir wußten, daß seine ängstlichen Blicke hauptsächlich unserem Hause galten: er wollte nicht, daß er im Morgenanzug von unserer Tante gesehen werde, die er manchmal zur Kirche begleitete. Man zog die Tante damit auf und gratulierte ihr zum Bräutigam. Über Herrn Ulanizki lachte man auch, nannte ihn einen »Hagestolz« und erzählte, daß er der Tante einmal ein ganzes Dutzend Fallbirnen in einem Papierdütchen und zwei Bonbons zu einem Pfennig verehrt hätte. Das Äußere des Herrn Ulanizki war in diesen Morgenstunden in der Tat sehr unansehnlich: der Schlafrock war schlampig und zerrissen, die Pantoffeln arg ausgetreten, die Wäsche schmutzig und der Schnurrbart zerzaust.

Nachdem Herr Ulanizki wieder in seinem Zimmer untergetaucht war, begann er seinen Adam in Ordnung zu bringen. Das war eine lange und schwierige Prozedur, besonders das Rasieren erinnerte entschieden an eine Art Hochamt. Wir genossen das durch Gewohnheit geheiligte Vorrecht, unterdessen draußen am offenen Fenster zu stehen, wobei zuweilen auch unser kleines Schwesterlein ihr Näslein zwischen uns hindurchschob. Herr Ulanizki hatte nichts dagegen. Wenn er sich ans Rasieren begab, pflegte er uns bloß einzuschärfen, daß wir uns mäuschenstill zu verhalten hätten, weil in diesem wichtigen Augenblick jedwede Ruhestörung durch uns für sein Leben gefahrbringend sein könnte.

Wir hielten diese Abmachung heilig, ja, in dem kritischen Augenblick, wo Herr Ulanizki seine Nase ergriff und, die Wange mit der Zunge herausdrückend, vorsichtig mit dem Rasiermesser um den Schnurrbart ging oder an der Gurgel von unten am Zwickelbärtchen schabte, suchten wir sogar den Atem anzuhalten, bis er das Rasiermesser zum letzten Mal abwischte und das Rasierzeug wegräumte. Darauf wusch sich Herr Ulanizki, rieb ingrimmig Hals und Wangen mit dem Handtuch, puderte das Gesicht, bestrich den Schnurrbart mit Brillantine und drehte dessen Enden fein spitz auf, zum Schluß verschwand er hinter dem Wandschirm. Nach Verlauf einer Viertelstunde erschien er bis zur Unkenntlichkeit verändert wieder: er hatte kurze fliederfarbene Höschen an, Lackstiefel, eine helle Weste und einen blauen Rock mit runden Fältchen. Auch sein Gesicht stak gleichsam in neuer Toilette: das Abgetragene und die Falten darin waren verschwunden. Sein Erscheinen in einem verjüngten Leibe machte auf uns stets den tiefsten Eindruck, und das bereitete wiederum Herrn Ulanizki viel Vergnügen. Manchmal warf er beim Zuknöpfen seines sauberen Röckchens mit sichtlicher Selbstzufriedenheit einen Blick auf uns und sagte:

»He? Nun? Was? Wie?«

Unsere Beziehungen zu Herrn Ulanizki waren dazumal die allerbesten. Wir wußten, daß er ein »alter Junggeselle«, ein »Hagestolz« sei, und daß alle Welt dies lächerlich finde. Wie die Fama ging, machte Herr Ulanizki jedem Fräulein, das er kennen lernte, den Hof und holte sich überall seinen Korb. Seine Gestalt mit dem Ziegenbärtchen und den dünnen Beinen, die in kurzen engen Höschen steckten, kam uns ebenfalls lächerlich vor. Doch war das alles harmlos, und vollends der alltägliche Prozeß seiner Verjüngung flößte uns nicht bloß eine begreifliche Neugier, sondern auch eine Art ehrfurchtsvoller Bewunderung ein. Jedesmal kam sie uns wie ein kleines Himmelswunder vor, und später, als ich zum ersten Mal von den Verwandlungen des Gottes Osiris las, tauchten in meiner Erinnerung sofort die morgendlichen Wandlungen des Herrn Ulanizki auf.

Indessen, mit der Zeit ging unsere Freundschaft mit dem alten Junggesellen gründlich in die Brüche.

Eines schönen Morgens hatte er es für seinen Ruf eines angehenden Bräutigams als unziemlich empfunden, ohne jeden dienstbaren Geist zu hausen. Bis dahin hatte er das Zimmer in eigener Person auskehren und sich jeden Tag mit einem geheimnisvollen Gegenstand unter den Schlafrockschößen auf die Wanderschaft begeben müssen.

Nunmehr stellte er zu seiner Bedienung den kleinen Petrus an, dessen Mutter bei den Hauswirtsleuten Köchin war. Die Köchin, »Pani Romaschowska«, gemeiniglich die »olle Romaschen« genannt, war ein sehr dickes und krakeelsüchtiges Frauenzimmer. Man sagte von ihr allgemein, daß sie ein rechter Satan sei. Ihr Sohn hingegen war ein stiller Junge mit blassem, pockennarbigem Gesicht, dazu vom Wechselfieber arg geplagt. Herr Ulanizki, der ein Geizkragen erster Güte war, einigte sich mit der Frau auf einen bescheidenen Lohn, und der Knabe trat seinen Dienst im »Souterrain« an.

Die Sache nahm ein böses Ende. Eines schönen Tages stellte sich die olle Romaschen auf den Hof, stemmte die Arme in die Hüften, beschimpfte Herrn Ulanizki nach Noten und schrie, daß sie ihr »Kindlein« nicht mißhandeln lasse, daß man die Kinder freilich zurechtweisen dürfe, aber nicht auf diese Weise . . .

»Da, schaut her, ihr lieben Leute, wie er dem Jungen den ganzen Rücken mit Striemen zugerichtet hat!«

Dabei riß sie dem kleinen Petrus mit solcher Wut das Hemd in die Höhe, daß er vor Schmerz aufheulte, als ob sie nicht ihren Jungen, sondern Herrn Ulanizki in Person unter den Händen hätte.

Der saß inzwischen in seiner Kammer, ohne sich durch das Geschrei des erbosten Weibes herauslocken zu lassen. Am anderen Morgen aber erschien er wieder über dem Fensterbrett mit dem geheimnisvollen Gegenstand unter dem Schlafrock. Während er sich ankleidete, erklärte er uns, daß der kleine Petrus ein »böser, böser, böser Junge« sei, seine Mutter aber ein »gemeines, ganz gemeines Weibsbild«. Auch sei sie erzdumm, er aber, Ulanizki, werde sich einen anderen Knaben, einen viel besseren, verschaffen. Der alte Junggeselle war offenbar geärgert, stotterte und sein Ziegenbärtchen zitterte höchst ausdrucksvoll.

Bald darauf verreiste er für einige Zeit aufs Land, wo sein alter Vater lebte. Als er wieder zurückkam, folgte ihm ein ganzer Wagen voll verschiedener ländlicher Erzeugnisse; auf dem Wagen aber saß ein zehn- bis elfjähriger Junge, im kurzen Jäckchen, mit bräunlichem Gesicht und runden Augen, die in der neuen Umgebung ängstlich dreinschauten. Seit jenem Tage wohnte der Knabe in der Kammer Ulanizkis, räumte auf, trug Wasser und ging mit dem Speisekorb ins Wirtshaus, um das Mittagessen zu holen. Er hieß Mamertus, oder einfach Mamerik, und es wurde bald auf dem Hofe bekannt, daß er eine Waise und dazu ein Leibeigener sei. Ulanizki habe ihn entweder von seinem Vater geschenkt erhalten oder von einem Gutsherrn gekauft.

Ich kann mich durchaus nicht erinnern, daß der Gedanke an die Möglichkeit, »einen Knaben zu kaufen«, in mir einen bewußten Widerspruch oder ein Gefühl der Empörung hervorgerufen hätte. Ich nahm dazumal die Eindrücke des Lebens ziemlich einfach in mich auf. Ich sah, daß es junge und alte Menschen gebe, gesunde und kranke, Reiche und Bettler, und all das schien mir, wie schon gesagt, »seit jeher« so gewesen zu sein. Das waren für mich einfach Tatsachen, gleichsam gegebene Naturerscheinungen. Als eine solche Tatsache erschien mir auch, daß es in der Welt Knaben gab, die man kaufen könne. Immerhin machte diese Tatsache den neuen Ankömmling zu einem interessanten Gegenstand, da wir schon allerhand Knaben kannten, einen gekauften jedoch noch nie gesehen hatten. Auch regte sich dabei doch etwas Unklares in unserer Seele.

Es war nicht leicht, mit dem gekauften Knaben Bekanntschaft anzuknüpfen. Selbst in der Tageszeit, wo Herr Ulanizki zum Dienst fort war, saß sein Knabe hinter Schloß und Riegel. Nur zu den dringendsten Geschäften verließ er das Haus, etwa um den Kehricht hinauszutragen, Wasser zu holen oder mit der Menage ins Wirtshaus zu gehen. Näherten wir uns ihm gelegentlich und redeten ihn an, dann blickte er scheu wie ein Wölflein um sich, schlug die runden schwarzen Augen ängstlich nieder und machte sich schleunigst davon, als wenn ihn die Unterhaltung mit einer Gefahr bedrohte. Nach und nach schmolz jedoch das Eis. Der Knabe hörte auf, seine Augen niederzuschlagen, blieb, von der Unterhaltung verlockt, stehen und lächelte, wenn er an uns vorbeiging. Schließlich einmal, als er uns hinter der Hausecke traf, stellte er seinen schmutzigen Eimer hin, und wir kamen ins Gespräch. Erst folgten natürlich die Fragen nach dem Namen, »wie alt bist du?«, »woher kommst du?« usw. Der Knabe fragte seinerseits, wie wir hießen, und bat um ein Stückchen Brot.

Bald waren wir Freunde. Herr Ulanizki kehrte pünktlich wie ein Uhrwerk zu einer bestimmten Stunde heim, wir konnten also selbst in sein Zimmer eintreten, ohne daß wir befürchten mußten, von ihm ertappt zu werden. Wir erfuhren dabei, daß unser sich jeden Morgen verjüngender Nachbar ein ganz gefährlicher Geizhals und Quälgeist sei, seinem Mamerik nichts zu essen gebe, ihn bloß das leere Geschirr auslecken lasse und ihm Brotrinden zum Beißen gebe, und daß er den Knaben schon zweimal ohne jedes Verschulden grausam verprügelt habe. Damit der Junge nicht müßig bleibe oder sich mit verschiedenen Taugenichtsen herumtreibe (wir ahnten, daß mit diesem Schmeichelnamen niemand anderes als wir gemeint seien), hinterließ ihm Ulanizki den Auftrag, Federn zu schleißen, die er alsdann an Judenweiber verkaufte. Wir brachten dem Mamerik gewöhnlich Brot mit, das er mit großer Gier verschlang.

Die angstvollen Blicke der traurigen schwarzen Augen, das Gedrückte in dem braunen Gesicht Mameriks, seine Erzählungen und die Gier, mit der er sich auf das von uns mitgebrachte Essen stürzte, alles dies flößte uns für den gekauften Knaben eine innige, heiße Teilnahme ein, die sich denn auch eines Morgens glücklich Luft machen sollte.

Der arme Kerl hatte sich irgend etwas zuschulden kommen lassen, und schon am Tage vor dem, was folgen sollte, beklemmte ihn die Ahnung, daß er von seinem Herrn unbedingt Prügel zu erwarten habe. Am Morgen trat Ulanizki nicht in dem üblichen Glanz von Selbstzufriedenheit hinter dem Wandschirm hervor, sondern mit einem rätselhaften Ausdruck im Gesicht. Er war ohne Rock und hielt die Hände auf dem Rücken. Er blieb vor dem Schirm stehen, rief Mamerik und ließ sich irgend etwas von ihm reichen. Kaum war aber der Knabe schüchtern herangetreten, als ihn Ulanizki mit raschem Katzengriff packte, ihm den Rücken beugte, den Kopf zwischen die Kniee klemmte, das Höschen herunterriß und ein Bündel Ruten in der Luft pfeifen ließ. Mamerik heulte auf und zappelte verzweifelt.

In unserem Hause herrschten im allgemeinen milde Sitten, und wir hatten bis dahin noch nie eine so grausame Handlung erlebt. Ich glaube, dem damaligen Eindruck auf mich könnte heute nur etwa die Wirkung eines Mordes gleichkommen, der plötzlich vor meinen Augen verübt würde. Wir, die wir vor dem Fenster standen, heulten gleichfalls laut, trampelten heftig mit den Füßen, beschimpften Herrn Ulanizki und riefen, er sollte Mamerik in Ruhe lassen. Ulanizki geriet jedoch nur noch mehr in Eifer; der Ausdruck seines Gesichts wurde ganz abstoßend, die Augen traten vor, der Schnurrbart sträubte sich, und die Rute sauste unermüdlich durch die Luft.

Wir hätten uns wahrscheinlich in einen Weinkrampf hineingeheult, wenn sich in diesem Augenblick nicht etwas ganz Unerwartetes ereignet hätte. Auf dem Fensterbrett des Herrn Ulanizki standen Blumentöpfe, die er mit großer Sorgfalt pflegte. Uns am nächsten stand sein geliebter Resedastock. In einer plötzlichen Eingebung packte unser kleines Schwesterlein die Reseda und warf sie mit samt dem Topf ins Zimmer. Der Topf ging in Scherben, die Erde mit der Blume fiel heraus. Herr Ulanizki war eine Sekunde lang starr, dann ließ er Mamerik fahren, und – ehe wir Zeit hatten, uns zu besinnen – erschien sein wütendes Gesicht über dem Fensterbrett. Wir packten unser Schwesterlein unter den Armen und liefen, so schnell wir konnten, unserer Treppe zu, auf die wir uns ruhig hinsetzten, in dem sicheren Gefühl, dort in unserem eigenen Reich zu sein. Herr Ulanizki blieb denn auch unweit seines Fensters stehen; die Hand mit der Rute auf dem Rücken, fing er an, uns mit flötender Stimme zu sich zu locken, indem er jedem von uns zur Versöhnung ein Bonbon versprach. Die Kriegslist war jedoch zu durchsichtig, wir blieben ruhig sitzen, sein kindisch schlaues Manöver gleichgültig beobachtend.

Am gleichen Tage oder bald darauf gingen wir mit Mutter und Tante auf der Straße – es war an einem Feiertage –, und Herr Ulanizki trat zu uns heran. Er war wie immer stutzerhaft gekleidet, seine Lackschuhe strahlten in blendendem Glanze, die Schnurrbartspitzen standen stocksteif, wie zwei Drahtenden, und im Knopfloch seines Rockes prangte eine Blume. Bei seinem Erscheinen empfand ich einen leichten Druck im Herzen, denn ich war überzeugt, daß er bei meiner Mutter über unsere Untat Klage führen werde. Zu unserer größten Verwunderung trug er indessen nicht nur keine Klagen vor, sondern faßte einen von uns unters Kinn und fing an, »die lieben Kinderchen«, mit denen er in der besten Freundschaft lebe, vor der Mutter mit falscher süßer Stimme über die Maßen zu loben.

Dieses verfehlte Manöver flößte uns erstens Verachtung ein, zweitens gab es uns die Gewißheit, daß Herr Ulanizki den Zusammenstoß mit uns aus irgendwelchen Gründen vor der Mutter zu verbergen suche. Wollte er ihn aber verbergen, nun, dann mußte er sich schuldig fühlen. Von dieser Seite her fühlten wir uns also völlig sicher, und nun begann zwischen uns und Ulanizki ein förmlicher Krieg.

Kinder haben manchmal eine erstaunliche Beobachtungsgabe und verstehen es wunderbar, sie sich zunutze zu machen. Herr Ulanizki hatte viele Seltsamkeiten: er war von einem unvergleichlichen Geiz, er konnte nicht vertragen, wenn in seinem Zimmer und auf dem Tische die Gegenstände umgestellt wurden, und er hatte Furcht vor scharfen Werkzeugen.

Einmal, als er sich ganz in die Arbeit des Rasierens vertieft hatte und, die Nasenspitze mit den Fingern haltend, mit der Zunge die geschabte Wange herausdrückte, schob mein älterer Bruder durch die Luftklappe den Fensterriegel zurück, ließ sich vorsichtig ins Zimmer hinab und öffnete die Eingangstür. Nachdem er sich so den Rückzug gesichert hatte, fing er an, mitten im Zimmer einen teuflischen Indianertanz aufzuführen: er machte Sprünge, schnitt Grimassen und schrie mit wilder Stimme: »Hoppapa, Bumtara, Schrumbum!«

Wir anderen am Fenster erwarteten mit Schrecken, was erfolgen würde. Zu unserem größten Erstaunen blieb jedoch der unselige Kavalier ruhig sitzen. Kein Muskel zuckte auf seinem Gesicht, achtsam wie gewöhnlich hielt er seine Nasenspitze mit den Fingern, während er mit dem Messer um den Schnurrbart ging und wie sonst seine Wange herausdrückte. Als wir sahen, daß das Werk des Rasierens erst in den Anfängen war, Herr Ulanizki aber nicht gesonnen schien, es zu unterbrechen, ließen wir – ich und der jüngere Bruder – uns gleichfalls ins Zimmer hinab und schlossen uns dem tollen Tanz an. Das war eine Art kindlicher Raserei: Stühle, Kleider von den Wandhaken, Bürsten und Bürstchen – alles flog auf den Fußboden. Der erschrockene Mamerik schaute mit blöde glotzenden Augen auf diesen Weltuntergang. Nur Herr Ulanizki bewahrte seine unerschütterliche Ruhe, die Serviette um den Hals, das Rasiermesser in der Hand, und mit den Augen nach einem kleinen Spiegelchen schielend. Erst als das Rasieren mit der gewohnten peinlichen Sorgfalt beendigt und das Rasiermesser ins Futteral gesteckt war, sprang er plötzlich auf und stürzte nach der Rute. Der ältere Bruder rettete sich durch die Eingangstür, wir beiden jüngeren aber schossen wie aufgescheuchte Katzen zum Fenster. Ich war schon auf dem Fensterbrett, als die Rute dicht über meinem Ohr sauste und ein wenig meinen Rücken streifte.

Seit diesem Streich schloß Herr Ulanizki sorgfältig das Fenster, bevor er ans Rasieren ging. Allein die Fensterrahmen waren alt, und die Riegel schlossen schlecht. Wenn wir sahen, daß der Kavalier bereits beim Rasieren war, traten wir kühn ans Fenster, rüttelten an der Luftklappe, steckten dünne Holzstäbchen durch die Spalte und schoben damit die Haken zurück. Wie Ulanizki es so weit kommen lassen konnte, weiß ich nicht: wahrscheinlich infolge seiner Angst vor scharfen Werkzeugen. Genug, wenn er einmal mit dem Rasieren begonnen hatte, vermochte er das schwierige Werk nie mehr zu unterbrechen, er mußte es zu Ende führen. Bei unseren räuberischen Versuchen, in sein Allerheiligstes einzudringen, schielte er nur ein wenig mit einem Auge nach uns, und in sein Gesicht trat ein Ausdruck ängstlicher Beklommenheit. Hatten wir mit unseren Versuchen Glück, dann flog das Fenster mit Gepolter auf, und in der Kammer des alten Junggesellen begann ein Indianertanz.

Eines Morgens erschien Herr Ulanizki wieder mit dem geheimnisvollen Gegenstand unter dem Schlafrock über dem Fensterbrett, dann trat er an unsere Treppe, blickte seltsam forschend in unsere Gesichter und begann zu versichern, daß er im Grunde genommen sowohl uns wie seinen lieben Mamerik sehr, sehr gern habe. Diesem wollte er sogar eine neue blaue Jacke mit blanken Knöpfen kaufen und bitte uns, den Jungen mit dieser Nachricht zu erfreuen, wenn wir ihm begegnen würden.

Es stellte sich heraus, daß der gekaufte Knabe verschwunden war.

Am gleichen Tage rief mich mein jüngerer Bruder abends geheimnisvoll aus dem Zimmer und führte mich in den Schuppen. Dort war es dunkel. Der Bruder schritt aber kühn vorwärts und stieß, in die Mitte gekommen, einen Pfiff aus. Zuerst blieb alles still. Dann raschelte etwas im Winkel zwischen dem Holz, und Mamerik trat zu uns. Es ergab sich, daß er sich zwischen der Holzbeuge und der Wand eine Art Lager bereitet hatte und schon zwei Tage hier hauste. Er erklärte uns, daß es ihm nicht übel gehe, nur Hunger habe er, und nachts habe er sich zuerst gefürchtet, jetzt aber sei er daran gewöhnt. Auf unsere Mitteilung von Ulanizkis Zuneigung und von der schönen neuen Jacke gab er voll Entschiedenheit zur Antwort: »Ich gehe nicht. Lieber springe ich ins Wasser.«

Seitdem waren wir im Besitz eines Geheimnisses. Jeden Abend brachten wir Mamerik zu essen und gingen zusammen in verborgenen Winkeln des Hofes spazieren. Wir hatten unsere verabredeten Signale und ein ganzes System der Verschwörung. Das dauerte noch einige Tage, bis die Mutter unser geheimnisvolles Getue bemerkte. Sie fragte uns über alles aus und erzählte dem Vater von der Sache. Die Erwachsenen nahmen sich des Knaben an, und Herr Ulanizki mußte »hinauf« zur Wirtin, Pani Kolanowska, um sich zu verantworten. In unserem Hofe herrschten ziemlich patriarchalische Sitten, und alle fanden es natürlich, daß die Hausbesitzerin einen Mieter vor sich zitierte, um von ihm Erklärungen über sein Tun zu fordern und ihn nötigenfalls zurechtzuweisen. Wir wahrten streng das Geheimnis des Verstecks, denn wir hatten hoch und heilig geschworen, daß wir es »niemandem in der Welt« verraten würden. Als daher »oben« die Bedingungen der Kapitulation mit Herrn Ulanizki ausgearbeitet waren, wurden die Verhandlungen durch uns geführt. Mamerik entschloß sich endlich zur Übergabe, die Macht Ulanizkis wurde aber durch die öffentliche Meinung eingeschränkt. Im ganzen Hofe wurde es bekannt, daß Pani Kolanowska dem Herrn Ulanizki gedroht hatte, ihn »aus dem Souterrain zu verjagen«.

Nach einiger Zeit verreiste jedoch der alte Kavalier. Der gekaufte Knabe verschwand für immer in der fernen fremden Welt, und seine weiteren Schicksale blieben uns unbekannt.

Nur einmal glaubten wir beinahe, daß wir, wenn nicht ihm selbst, so doch seinem Doppelgänger begegnet wären. An einem Sommertage tauchte in unserem Gäßchen eine neue Gestalt auf. Das war ein Knabe in Mameriks Alter mit einem ebenso braunen Gesicht und ebensolchen runden schwarzen Augen. Bei näherem Zusehen zeigte sich jedoch, daß weder sein Gang, noch sein sonstiges Benehmen im geringsten an unseren bescheidenen und schüchternen Freund erinnerten. Der Knabe trug eine nagelneue kurze Jacke mit zwei Reihen blanker metallener Kugelknöpfchen, enge blaue Hosen, unten mit Strippen, und große, tadellos gewichste Stiefel. Auf dem Kopfe hatte er ein rundes Mützchen ohne Schirm, das er nach Kosakenart ganz verwegen schief trug.

Als er bemerkte, daß wir ihn mit der größten Neugier betrachteten, das Gesicht zwischen die Zaunpfähle gedrückt, fing der Fremdling an, uns im Gehen merkwürdige Kunststücke vorzumachen. Er stellte die Beine so steif, als ob er sie in den Knien gar nicht biegen könnte, hielt die Arme rund wie zwei Henkel, den Kopf warf er in die Höhe und blickte mit der größten Verachtung über die Achsel auf uns, offenbar sehr stolz auf sein neues Kostüm: vielleicht, daß er einen älteren Livreebedienten nachahmte. Er strahlte über das ganze Gesicht und war höchst zufrieden mit sich selbst, überzeugt, daß wir von seiner Herrlichkeit ganz erdrückt waren und vor Neid barsten. Nachdem er irgendeinen Auftrag im Stall ausgeführt hatte, ging er wieder an uns vorüber, wobei er die Beine vor sich herwarf und sich in den Hüften wiegte, dann kehrte er um, als hätte er etwas vergessen, und tänzelte nochmals an uns vorüber. Alles das kam uns wie eine Kränkung vor, und einer von uns sagte: »Dummkopf!«

Der Knabe spuckte aus und antwortete: »Schwein!«

Mein Bruder hob den Ton des Dialogs um eine Stufe höher: »Gesindel!«

Doch der Knabe schien in allen Regeln des verfeinerten Umgangs wohl beschlagen zu sein und erwiderte auf der Stelle:

»Ich bin Gesindel, beim Zaren lieb Kindl, und du, Bruder, bist ein Luder.«

Wir fühlten, daß der Fremdling obsiegte. Im nämlichen Augenblick jedoch kam ein erwachsener Mann in einem Livreefrack mit breiten langen Schößen eiligen Schrittes auf den Knaben zu. Auch sein Gang war gespreizt und seltsam, und ich erriet, daß der fremde Knabe die Bewegungen eben dieses Mannes nachahmte: auch er hielt die Beine in den Knien steif und die Arme rund gebogen wie zwei Henkel. Er rief den Knaben an, kaum hatte sich der aber umgedreht, als ihm schon eine schallende Ohrfeige im Gesicht brannte. Er heulte vor Schmerz und fuhr sich an die Wange. Der Mann gab ihm noch eine auf die andere Backe und sagte:

»Marsch! Was hat man dir befohlen? . . .«

Und er versetzte dem Knaben noch einen kräftigen Stoß ins Genick.

Jedes unfreundliche Gefühl für den fremden Knaben war in unseren Herzen augenblicklich verflogen, um einem brennenden Mitleid Platz zu machen. Wir erzählten den Vorfall den Eltern, in der Erwartung, daß auch diesmal, wie in der Sache Mameriks, ihre Einmischung erfolgen würde. Doch der Vater erklärte uns, daß der kleine Diener fremden Leuten gehöre, die zu unseren Nachbarn zu Besuch gekommen seien, und daß da nichts zu machen wäre.

Wir lauerten darauf, ob sich der Knabe nicht wieder zeigen würde, bereit, ihm wie einem Freunde zu begegnen. Doch er zeigte sich nicht, und bald sahen wir ihn auf dem hohen Kutschbock der Kalesche, in der die Angehörigen der vornehmen Herrschaft Platz nahmen. Es stiegen auch Kinder ein, die sehr sauber und schön gekleidet waren, unser stärkstes Interesse gehörte jedoch unserem Fremdling.

Er trug dieselbe Jacke und dasselbe schief aufgesetzte Mützchen wie damals, als wir ihn zum erstenmal gesehen hatten, doch der frühere Stolz und die Herrlichkeit waren verschwunden. Der Knabe schien es zu vermeiden, uns anzublicken. Erst als sich das riesige Gefährt in Bewegung setzte, wendete er uns seine schwarzen Augen zu, die uns wieder erstaunlich an Mamerik erinnerten, und verstohlen nickte er uns freundlich zu.

Lange begleiteten unsere Blicke die abfahrende Kalesche auf der Chaussee, bis sie zum letzten Male auf der Anhöhe auftauchte. Die geputzten Kinder schienen uns, ich weiß nicht warum, unangenehm und kalt. Dem fremden kleinen Diener hingegen, mit dem wir doch nur Zeit gehabt hatten ein paar Schimpfworte zu wechseln, folgte das Gefühl unserer heißesten Teilnahme und innigen Zuneigung in die unbekannte Ferne . . .

Hier noch eine Erinnerung aus den Zeiten der Leibeigenschaft.

Eine Zeitlang hatten wir einen Kutscher, Jochen mit Namen. Das war ein Mann von zierlicher Gestalt mit hellem Bartwuchs in einem frischen gebräunten Gesicht und einem Paar gutmütiger blauer Augen mit tiefem Blick. Er hatte etwas äußerst Nettes an sich, konnte wunderschön auf der Rohrpfeife spielen und erfreute sich in unserem Hofe allgemeiner Beliebtheit. Wir Kinder gar klebten an dem Mann wie die Kletten, zumal in der Dämmerung, wenn er sich im Stall auf sein schlichtes Lager zu setzen und seine Rohrpfeife vorzunehmen pflegte.

Die Frau Kolanowska hatte damals eine Lieblingszofe, die Hörige Maria. Ich war damals ein schlechter Kenner der Frauenschönheit, erinnere mich aber noch, daß die Maria dichte schwarze, wie mit der Kohle gezeichnete Augenbrauen hatte und ebenso schwarze feurige Augen. Jochen verliebte sich in dieses Mädchen und es erwiderte seine Liebe. Als aber meine Mutter auf Jochens Bitte zur Frau Kolanowska ging, um für ihn um das Mädchen anzuhalten, geriet die hochmütige Dame in heftigen Zorn, brach beinahe in Tränen aus und rief, daß sowohl sie wie ihre Töchter dem Mädchen sehr zugetan wären, es vom Dorfe zu sich ins Haus genommen und mit jederart Wohltaten überschüttet hätten, um nun solchen empörenden Undank dafür zu ernten . . .

Diese Geschichte mochte sich über 2 oder 3 Monate hingezogen haben. Bei uns in der Küche wurde erzählt, daß Jochen mit dem Gedanken umgehe, sich selbst als Hörigen zu verschreiben, wenn man ihm bloß das geliebte Mädchen zur Frau geben wollte, von der Maria aber wurde berichtet, daß sie zusehends dahinsieche und am Ende Hand an sich legen werde.

Einmal war ich im Kolanowskischen Garten auf einen großen Birnbaum geklettert. Unter dem Baum stand in dichtem Schatten eine Ruhebank, und auf dieser saß gerade die Maria. Ich vernahm mit Verwunderung, daß sie weinte und etwas vor sich hinredete oder sang. Dann trat Jochen an sie und versuchte schüchtern und zärtlich seinen Arm um die Taille des Mädchens zu legen. Sie stieß ihn jedoch schroff von sich und weinte noch heftiger. Er suchte sie zu trösten, sagte, daß seine »Pani« (meine Mutter) die Kolanowska doch noch herumkriegen werde und meinte, alles würde sich noch zum Guten wenden. Doch Maria fuhr zu schluchzen fort, wobei sie bald Jochen stürmisch umarmte, bald wieder von sich stieß, mit Vorwürfen überhäufte und versicherte, sie wolle sterben, sich erhängen, sich den Hals abschneiden, in den Bach stürzen, überhaupt in jeglicher Weise ihrem Leben ein Ende machen. Ich belauschte aus meinem Versteck in dem dichten Gezweige mit naiver knabenhafter Neugier die Äußerungen dieser mir noch unbekannten stürmischen Leidenschaften.

Die Sache nahm übrigens einen völlig befriedigenden Ausgang.

Die Frau Kolanowska war zwar eine hochfahrende und heftige, aber im Grunde herzensgute Dame, und nachdem sie endlich eingewilligt hatte, ihre Lieblingsmagd abzutreten, gab sie ihr auch noch eine Aussteuer mit und richtete auf eigene Kosten die Hochzeit aus. An einem schönen Herbsttage kam das junge Paar mit Hochzeitsgeleite und Musik daher, und auf dem mit Sand bestreuten Hofe stampfte und wirbelte bald Jochen mit den Brautführern einen solchen »Kasatschok«, wie ich ihn nie mehr im Leben zu sehen bekam. Dann bezog das Paar eine eigene Hütte am Flusse Teterew, und wir Buben pflegten die Leutchen häufig zu besuchen, wenn wir zum Fluß baden gingen. Die kleine Hütte stand an der Böschung, ganz im Grün versunken, das mit leuchtenden Blüten der hohen Malven besprenkelt war, und die Erinnerung an jenen blühenden Winkel und an das glückliche Paar, das darin hauste, ist in meinem Herzen als ein lichtes Bild von eigenem poetischen Reiz lebendig geblieben.

Erst viel später ging mir der eigentliche Sinn des grausamen Unrechts auf, das den Hintergrund zu jener Leibeigenen-Idylle abgab, die doch auch einen ganz anderen Ausgang hätte nehmen können.


 << zurück weiter >>