Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

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Das Gymnasium in Schitomir.

Mein älterer Bruder, der bereits das Gymnasium besuchte, blieb einmal ungewöhnlich lange fort. Der Vater fuhr, um sich nach ihm zu erkundigen, selbst nach dem Gymnasium hin und nahm mich zufällig mit. Bei dieser Gelegenheit war es, daß ich unseren staatlichen Tempel der Wissenschaft zum ersten Mal zu sehen bekam, und ich muß sagen, daß er auf mich einen äußerst deprimierenden Eindruck gemacht hat. Es war ein finsteres zweistöckiges Gebäude in der Kleinen Berditschewer Straße, das Muffigkeit, Trübsal und Gesetzesstrenge ausströmte. Mein Bruder haßte es aufrichtig und wohl nicht ohne triftigen Grund: mehr als einmal hatte er dort erzieherische Methoden auszukosten bekommen, von denen die Kunde zu uns nur auf Umwegen drang. Er selbst liebte es nicht, sich darüber zu verbreiten. Gerade um jene Zeit vollzog sich bekanntlich in Rußland ein radikaler Umschwung in dem gesamten Erziehungssystem. In der Gesellschaft und in der Literatur wurden lebhafte Erörterungen über das Empfehlenswerte oder Bedenkliche der Rute als Erziehungsmittel, über den Nutzen oder Schaden der Elementarbildung für die Volksmasse und dergleichen mehr gepflogen. Kurator unseres Kijewer Schulbezirks war damals der berühmte Pirogow. Kurz zuvor, im Jahre 1859, hatte er eine Reihe glänzender Aufsätze über die Erziehung veröffentlicht, worin er sich entschieden gegen die Prügelpädagogik aussprach. Dobroljubow begrüßte diese Aufsätze mit Begeisterung, um so mehr als sie aus der Feder eines Praktikers auf dem Gebiete des Erziehungswesens stammten, und zog aus ihnen natürlich den Schluß, daß im Kijewer Bezirk die Rute offenbar zu den verstaubten Requisiten einer längst vergessenen Vergangenheit gehörte. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß diese Schlußfolgerung ein wenig voreilig war.

Im folgenden Jahre 1859 berief Pirogow eine Konferenz ein, an der außer ihm und dem Vize-Kurator einige Universitätsprofessoren, Gymnasialdirektoren und -Inspektoren sowie hervorragende Gymnasiallehrer des Bezirks teilnahmen. Die Konferenz sprach sich nur für »allmähliche Reform« aus, und das bedeutete, daß die Rute beibehalten und nur ihre Anwendung einem strengen Reglement unterworfen werden sollte. Pirogow selbst hatte nun nicht bloß unterlassen, auf der Konferenz eine abweichende Meinung zu vertreten, sondern übernahm es auch noch, die Begründung zu dem berüchtigten »Reglement« auszuarbeiten, in dem alle möglichen Arten der Pennälerverbrechen aufs peinlichste registriert, rubriziert, taxiert und mit entsprechenden Dosen der handfesten Vergeltung geahndet wurden. Die Tafel mit diesen Rubriken mußte in jedem Gymnasium an der Wand hängen, und der Schüler, der sich ein Vergehen hatte zuschulden kommen lassen, wurde angehalten, selbst die ihn betreffende Rubrik herauszusuchen. Dies sollte – hieß es – »das Gefühl für Gesetzlichkeit« in der Schuljugend entwickeln. Unter den Vergehen, die unbedingt körperliche Züchtigung nach sich zogen, zählte in diesen Gesetzestafeln unter anderem auch »religiöser Fanatismus« . . .

So war ein Kompromiß geschaffen, der zwischen der Theorie und der Praxis geschlossen werden sollte, – ein wahrhaft mißglückter Kompromiß. Das so sorgfältig ausgearbeitete »Reglement« vermochte sich auch nicht einmal für die Dauer von wenigen Jahren zu halten. »Der Geist der Zeit« räumte mit dem Prügelsystem in einer Schulanstalt nach der andern unaufhaltsam auf, wo sich aber die starre Routine in der Pädagogik noch verschanzt hielt, kam ihr die grundsätzliche Anerkennung der körperlichen Züchtigung durch die Pirogowsche »allmähliche Reform« gerade sehr gelegen.

Dobroljubow beantwortete denn auch die Veröffentlichung des famosen »Reglements« sofort mit einem scharfen Aufsatz, in dem er die volle Schale seines bittersten Sarkasmus über Pirogows Haupt entleerte. Jetzt entbrannte der Streit auf der ganzen Linie. Die gesamte Journalistik spaltete sich in zwei Lager: für und wider Dobroljubow, wobei der »gemäßigte« Liberalismus jener Zeit für den Kurator und die »Allmählichkeit« gegen den Journalisten und seine radikalen Forderungen Partei ergriff.

In dieser Kontroverse nun hatte sich auch unser Gymnasium von Schitomir eine eigentümliche Berühmtheit erworben. Es stellte sich nämlich heraus, daß es nach der Häufigkeit der verhängten körperlichen Strafen alle anderen Lehranstalten übertraf: so wurden im Jahre 1858 von seinen 600 Schülern nicht weniger als 290 der Züchtigung unterzogen. Das war siebenmal mehr als z. B. im zweiten, und 35mal mehr als im ersten Gymnasium in Kijew. Unsere biederen Schitomirer Pädagogen mit ihrem Direktor Kitschenko an der Spitze, Männer von altem Schrot und Korn, setzten in ihre Antwort auf die Pirogowsche Enquête diese beredte Zahl ruhig hinein, ohne zu ahnen, welchen Effekt sie in ganz Rußland hervorrufen sollte.

Ich war damals noch ganz klein und erinnere mich nicht, in welchem Maße das Echo jener journalistischen Fehde in das Milieu unserer Schuljugend drang. Diese hatte jedenfalls ihre eigene Geheimliteratur, die auswendig gelernt wurde, und sich in Abschriften und Albums verbreitete. Die Pennälermuse war dabei unabänderlich auf die satirische Note gestimmt. Ich entsinne mich eines langen Gedichts, das übrigens, wie ich glaube, gar nicht übel war, und in dem es unter anderem hieß, daß in Schitomir »Kathedermenschen« sich unmöglich unter »Kathederbestien« behaupten könnten. Durch irgendein Fatum werden die »Menschen« unweigerlich über kurz oder lang vom Teufel geholt;

Den Trophimow holt schon der Geier,
Bald kommt Dobraschew an die Reihe,

sang der unbekannte Dichter, der seinen Farbentopf nicht sparte, um die im pädagogischen Tiergarten obsiegenden Typen recht kraß zu schildern.

Schon nach dem Ton dieser Erzeugnisse, die in Haß und Erbitterung getränkt waren, war es leicht zu urteilen, welche dankbaren Gefühle die damalige Schule bei ihren Zöglingen weckte und in welcher Stimmung sie sie ins Leben entließ.

Noch deutlicher haftet in meiner Erinnerung ein anderes »illegales« Scherzgedicht, in dem die Streitfrage der damaligen pädagogischen Literatur behandelt war. Ich meine »die Legende vom Mina«. Es lebte einmal ein Mann und Knecht Gottes – hieß es dort in freier Nachahmung der altslavischen Bibelsprache – mit Namen Prometheus alias Schüler Bujwid. Dieser stahl einmal vom Himmel das Feuer, richtiger Bücher aus dem Klassenzimmer. Und Gott Zeus, alias Direktor Kitschenko, schmiedete ihn an den Kolchischen Felsen, das heißt an die Bank im Karzer. Und der wütende Adler, will sagen, der Pedell Mina, hackte seine Leber, will sagen den H . . . . . n mit eisernem Schnabel, will sagen mit der Birkenrute. Und sein Wehgeschrei drang zu den Ohren des Herakles, das heißt des Vaters Bujwid« . . . Weiter war in demselben Ton die Schlacht beschrieben, die sich tatsächlich zwischen dem Vater des gezüchtigten Schülers und der Gymnasialobrigkeit abgespielt hatte, welch letztere durch den Prügelpädagogen Kitschenko, den Inspektor Schurawski und den Pedell Mina vertreten war. Mit viel Schadenfreude waren die Heldentaten und der endliche Sieg des Herakles geschildert, der den Prometheus schließlich befreite, was mit großen Verlusten für Zeus selbst verbunden war.

Im Pensionat Rychlinski wohnten mehrere Gymnasiasten, wir lernten daher alle frühzeitig diese Pennälererzeugnisse kennen. In einem Schüleralbum fand ich ein anonymes Gedicht, das ich auswendig lernte und das mit den Worten anfing: »Sinnend wandle ich aus der Schule . . .«Parodie auf eine bekannte Elegie von Lermontoff. D. Ü. Das waren die berühmten »Betrachtungen eines Gymnasiasten evangelischer Konfession aus einem nicht zu Kijew gehörigen Schulbezirk« von Dobroljubow. Der unglückliche Held des Poems hatte sich über die Frage »ob Luther ein Genie oder ein Spitzbube war« zu allzu freien Äußerungen hinreißen lassen. Vor lauter »Gesetzlichkeitsgefühl« fordert er selbst die Obrigkeit auf, ihm die Rute zu geben: »Aber nicht die gewöhnliche, ordinäre Rute, wie sie sonst noch in den Schulen üblich, nein, die besondere, reglementsmäßige Rute, die Rute im Geiste des Nikolaj Iwanytsch Pirogow . . .«

Wir alle im Pensionat träumten natürlich davon, aufs Gymnasium zu gehen, und griffen daher frühzeitig alles mit lebhaftem Interesse auf, was die Gymnasiasten über ihre Schule zu berichten wußten. So waren uns aus diesen Erzählungen die Hauptgestalten des Gymnasiums alle schon wohl vertraut: der gefürchtete Kitschenko, die alten Lehrer, der Inspektor Schurawski, der Pedell Mina, dessen Frau den Schülern in der Pause mit vorzüglichen Kringeln zu anderthalb Kopeken das Stück aufwartete, während ihr Gatte dieselben Schüler im Karzer mit Birkenruten bediente. Wenn uns trotzdem die Gymnasiastenuniform als der Gipfel ehrgeiziger Träume erschien, so war das eine Art Verzweiflungsmut junger Krieger, die es nicht abwarten können, sich in ein lebensgefährliches Treffen mit dem Feinde zu stürzen . . .

Endlich war der Tag gekommen, und im Juli 1863 begab ich mich in Uniform mit rotem Kragen und Messingknöpfen zum ersten Mal in das Gymnasialgebäude.

Ich ging diesmal bei weitem nicht so siegesgewiß wie einst zum Rychlinskischen Pensionat hin. Nach dem Antrittsexamen war ich am Wechselfieber erkrankt und mußte das ganze erste Quartal zu Hause bleiben. Inzwischen war das geregelte Leben der enormen offiziellen Institution mit Volldampf vorwärtsgegangen, und ich fühlte mich als vereinsamter Nachzügler hilflos, verlassen und von vornherein schuldbeladen. Ich fühlte mich schuldig, weil ich krank gewesen, weil ich nichts wußte, und endlich weil ich so klein war und einem richtigen Gymnasiasten so gar nicht ähnlich sah. Und nun ging ich wehrloser dem Kitschenko, dem Mina, den strengen Sitten und Strafen entgegen . . .

In dem großen lärmerfüllten Klassenzimmer kam mir zunächst alles fremd vor. Besonders verwirrte mich jedoch im ersten Moment die mir wohlbekannte Figur eines älteren Schülers, eines gewissen Schumowitsch, den ich im Hintergrund erblickte. Das war ein stämmiger breitschultriger Bursche von 18 Jahren, mit dem Gang eines jungen Bären und einem unerschütterlich ernsten, fast finsteren Blick. Seit zwei oder drei Jahren führte ihn sein Weg nach dem Gymnasium fast täglich an unserem Hof vorbei. Wenn ich oder mein jüngerer Bruder ihm dabei zufällig in den Weg lief, pflegte er uns mit seinen Bärentatzen wie eine Fliege einzufangen, dann knuffte und puffte er uns Unglückliche, drückte uns die Nase platt, klapste uns auf die Ohren, hielt endlich sein Opfer vor sich hin und ließ es mit einem wohlgezielten Stoß des Knies in die Gegend unterhalb des Rückens schließlich los. Darauf ging er ohne sich zu übereilen weiter.

Wir pflegten uns, kaum daß wir seiner von weitem ansichtig wurden, hinter den Zaun zu retten. War er aber vorbei, so zog es uns unwiderstehlich hinter ihm her. Wir liefen ihm nach und riefen: »Schumowitsch, Schumowitsch!« Er drehte sich darauf um und maß mit ernsten Blicken die Distanz.

Nun stellte sich heraus, daß die Reform, die es verbot, länger als zwei Jahre in einer Klasse zu sitzen, seine weitläufige Gymnasiastenlaufbahn erst auf der zweiten Sprosse überrascht hatte. Der Hüne erwies sich als mein Klassenkollege, und ich ging ängstlich bei mir zu Rate, was er wohl in der nächsten Pause mit mir unternehmen möchte. Allein er verriet mit keiner Miene, daß er sich unserer auswärtigen Beziehungen entsinne. Diese Erinnerungen mochten ihm wohl selbst geringe Freude bereiten.

Ich fühlte mich wie in einem fremden Wald, und als in der ersten Stunde der junge Lehrer der Naturwissenschaften plötzlich meinen Namen rief, erstarrte ich vor Schreck. Mein Herz schlug heftig, und ich blickte mich ratlos um. Mein Nebenmann stieß mich mit dem Ellbogen an: »Geh, geh vor zum Katheder,« sagte er leise und fügte gleich laut hinzu:

»Er hat nicht präpariert. Er war krank.«

»War krank, war krank . . . nicht präpariert« . . . summte die ganze Klasse. Ich faßte mir ein Herz, nun ich fühlte, daß hinter mir eine freundliche und kompakte Macht steht. An das Katheder getreten, blieb ich stehen und schlug die Augen nieder.

»War krank, war krank, war krank . . . Nicht präpariert« . . . summten hinter mir weiter fünfzig Stimmen.

Es zeigte sich, daß der Lehrer Prelin gar nicht so schrecklich war. Der hübsche junge Mensch mit dem blonden Haar und den blauen Augen frug mich, was ich wußte, und als er hörte, daß ich noch nichts wußte, lud er mich ein, ihn in seiner Wohnung zu besuchen. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, ermuntert und erobert durch seinen freundlichen ernsten Blick.

»Der geht an . . . ein netter Kerl,« sagte mein Nachbar, der Kryschtanowitsch hieß. In diesem Augenblick flog die Tür weit auf. Ins Klassenzimmer trat mit einem energischen, fast militärischen Schritt ein großer korpulenter Mann. »Direktor Geraszimenko,« flüsterte mir ängstlich der Nachbar zu. Nach einer flüchtigen Begrüßung mit dem Lehrer entfaltete der Direktor ein Journal und rief mit abgehackter, fast bellender Stimme:

»Quartalsnoten . . . Aufgepaßt! Abramowitsch . . . Balandowitsch . . . Bujalskij . . . Warschauer . . . Warschawskij« . . .Im russischen Alphabet ist die Reihenfolge der Buchstaben: A B W G D usw.

Er schleuderte Namen, Fächer und Noten wie aus einem Sack hervor. Von Zeit zu Zeit fielen dazwischen kurze Sentenzen, wie: »löblich«, »pädagogischer Rat spricht Tadel aus«, »Rute in Aussicht gestellt«, »der Schuft kriegt Prügel« . . . Als er an meinen Namen kam, fügte er hinzu: »Viel versäumt . . ., soll sich Mühe geben« . . . Nachdem die letzte Sentenz losgebellt war, klappte er das Journal zusammen und verließ eilig das Klassenzimmer.

Sofort erhob sich ein lebhaftes Stimmengewirr. Im Hintergrund fing jemand an zu weinen. Prelin, der rot und anscheinend verlegen war, beugte sich über das Journal. Mein Nachbar, ein blauäugiger, sehr hübscher Junge in enganliegendem Uniformröcklein, stieß mich mit dem Ellbogen an und fragte ruhig, wenn auch mit etwas besorgtem Gesicht:

»Du, was hat er von mir gesagt: ›Rute in Aussicht gestellt‹ oder ›der Schuft kriegt Prügel‹?«

»Ich habe nicht aufgepaßt« . . .

»Schwein . . . Tut dir denn dein Kollege nicht leid?«

»Du hast doch selbst nicht aufgepaßt« . . .

»Ja, weiß der Teufel . . . Der Kerl bellt ja wie ein Hund.«

»Was kriegt Kryschtanowitsch? Wer hat aufgepaßt?« summte es um uns. Ich glaube: »in Aussicht gestellt« . . .

»Nein, ›der Schuft kriegt Prügel‹ . . . Ich hab's wohl gehört,« sagte einer hinter uns.

»Ach was?« wandte sich Kryschtanowitsch um.

»Doch, doch, mein Lieber, stimmt.«

Ich blickte ihn teilnahmsvoll an, doch er warf sorglos seinen goldblonden Schopf zurück und sagte:

«Schwamm drüber! Und du . . . hast du vor zu lernen?«

»Was denn sonst?« fragte ich naiv.

»Nun, du hast viel versäumt. Wirst es ja doch nicht einholen. Kommst dann auch unter die Rute . . . Ich für mein Teil lerne gar nicht mehr. Ich will Telegraphist werden.«

Hier klopfte Prelin mit dem Bleistift. Die Unterhaltungen verstummten.

In der folgenden Pause ging ich nicht hinaus, sondern wurde wie von einem starken Strom hinausgetragen. Und draußen geriet ich sofort wie ein Strohhalm in den Strudel. Ich war ein Neuling, was mir wohl anzusehen war, und alsbald regneten auf mich von allen Seiten Knüffe, Püffe und Klapse auf die Ohren. Eins aufs Ohr versetzen, daß es einen Knall gab, hieß im Schülerjargon einem einen »Fatz« aufsetzen, und einige ältere Schüler hatten in dieser Kunst eine bedeutende Fertigkeit erlangt. Ich hatte noch dazu kurz geschorenes Haar und etwas abstehende Ohren. Es entwickelte sich denn auch um meinen Kopf, während ich mich noch hilflos umblickte, ein Geknatter wie von einem Maschinengewehr. Die Kanonade wurde erst durch die energische Intervention meines Bekannten Olschanski unterbrochen.

Das war ein dicker, sehr lebensfreudiger Junge. Er stürzte sich mit ungestümer Bravour in die Schlacht und hatte mich bald aus dem Knäuel herausgeschlagen. Freilich kam er auch selbst nicht ohne Verlust davon und rollte sich sogar ein paar Mal mit den Gegnern im Grase, schließlich sprang er aber flink auf die Beine und rief mir zu:

»Schnell mir nach!«

Wir liefen in den anderen Hof. Auf der Flucht vor einem langen Knaben, der mich beinahe eingeholt hatte, klammerte ich mich unversehens an ein Bäumchen, das im Hofe stand. Es bog sich und krachte leicht. Mein Verfolger blieb stehen, ein anderer aus der Menge rief aber sogleich:

»Hast den Baum gebrochen! Hast den Baum gebrochen! Ich sag's dem Schurawski!«

Unterdessen tönte von der Treppe her die Glocke, und alle Schüler stürzten sofort ins Gebäude. Mein Freund Olschanski, der sich nun einmal in der Rolle des Beschützers fühlte, schleppte mich bei der Hand. Auf der Treppe, wo ein kleiner Kerl mit aller Kraft eine große Glocke schwang, blieb er stehen, stach nach dem Glöckner mit dem Zeigefinger und sagte laut zu mir:

»Dies da ist der Mina!«

Der berühmte Mina präsentierte sich als ein untersetzter stämmiger Mensch mit langen Armen, wie bei einem Affen und einem tiefdunkel gebräunten Gesicht, in dem ein sehr heller Haarwuchs sich merkwürdig ausnahm. Die lange gerade Nase versank gleichsam in dem wie zwei Holzscheite in die Luft ragenden strohgelben Schnurrbart. Fertig mit dem Läuten, blickte er meinen lebensfreudigen Gönner an und sagte:

»Was lachst du? Nimm dich in acht, Olschanski, bald kommt der Sonnabend . . . Hast deine Aufgabe wohl wieder nicht geochst?«

Olschanski streckte dem gefürchteten Mann leichtfertig die Zunge heraus und verschwand im Korridor. Vor dem Beginn des Unterrichts, als alle bereits an ihren Plätzen waren, trat der Inspektor Schurawski ins Klassenzimmer, und nachdem er eine Weile mit den Augen umhergesucht hatte, ließ er sie auf mir ruhen.

»Du, Neuling, bleib mal nach dem Unterricht hier.«

Ich wunderte mich, was das zu bedeuten hatte. Auch die Kollegen waren gespannt. Kryschtanowitsch schlug mich auf die Schulter:

»Bravo, Fuchs!« sagte er. Kommst gleich am ersten Tag unter die Rute. So ist's recht!«

Ich war mir so wenig einer Schuld bewußt, daß ich nicht einmal Angst hatte. Es zeigte sich jedoch, daß ich bereits schuldbeladen war.

»Du hast einen Baum gebrochen?« fragte mich ein Schüler aus der hintersten Bank.

»Nein, aber . . . ich habe ihn gebogen.«

»Das ist es eben. Ich habe selbst gehört, wie Dombrowski beim Inspektor petzte.«

»Für einen Baum kann es schon Prügel setzen,« mutmaßte wieder Kryschtanowitsch.

Ein lebhafter Meinungsaustausch entspann sich um diese Frage. Obgleich das Brechen von Bäumen kaum in der pirogowschen Tafel vorgesehen war, so waren doch die Pflanzungen in dem neuen Gymnasium eben frisch gesetzt, und ihre Beschädigung galt als eine arge Verfehlung. Trotzdem neigte sich die Mehrheit der Stimmen zu meinen Gunsten.

»Ohne Einwilligung der Eltern wird man ihn nicht prügeln.«

Das war nämlich auch eine Frucht des Kompromisses im Sinne der »Allmählichkeit«: man stellte den Eltern des Zöglings anheim, zu entscheiden, ob er gezüchtigt werden sollte oder nicht. In bezug auf Olschanski, Kryschtanowitsch und einige andere hatte man eine Generalvollmacht erhalten, und die Sache vollzog sich ohne weitere Förmlichkeiten.

»Dem Dombrowski einen Denkzettel zu geben wäre immerhin an der Zeit,« meinte Kryschtanowitsch, »das passiert ja nicht zum ersten Mal« . . .

»Hm, ja« . . . erwiderte einer bedeutsam.

Nach Schluß des Unterrichts begab ich mich mit einigen anderen Schülern zu Schurawski. Die Sache lief ziemlich glimpflich ab. Meine Kameraden bezeugten einmütig, daß ich ein Neuling, dazu erst kürzlich krank gewesen sei, und daß ich den Baum nicht gebrochen hätte. Gegen Schluß dieser Unterredung gesellte sich uns unmerklich noch eine Gruppe von Schülern zu, die sich besonders auffällig mit dem Inspektor unterhielten. Schurawski sprach mir einen Tadel aus und entließ mich in Frieden.

Als wir den Korridor entlang gingen, stürzte Dombrowski aus dem leeren Klassenzimmer. Er war hochrot im Gesicht und hatte Tränen in den Augen. Kryschtanowitsch erzählte mir nachher lächelnd, daß an dem »Petzer« eben eine Exekution vollzogen worden war. Nach Schluß des Unterrichts, als er seine Bücher packte, schlich sich von hinten einer der »Alten«, ich glaube Schumowitsch, an ihn heran und warf ihm seine eigene Kapuze über den Kopf. Dann wurde der Delinquent auf die Bank gestreckt, Kryschtanowitsch schnallte seinen Hosenriemen los, und man verabfolgte dem Sünder ein Dutzend »Riemen«. Nach Beendigung der Operation stürzten die Vollstrecker des Fehmgerichts aus dem Klassenzimmer und suchten sich, während ihr Opfer sich noch aus der Kapuze herauswickelte, dem Inspektor bemerkbar zu machen, um für alle Fälle ein Alibi nachweisen zu können.

So bestrafte die Schülersolidarität den »Verräter« an der Gemeinschaft. Nachmals konnte ich dieselbe Art Volksjustiz in den Gefängnissen beobachten; die Formen waren hier freilich grausamer, aber der Kern der Sache derselbe . . .

Dieser Zwischenfall führte mich, den »Fuchs«, gleich als rechtmäßiges Mitglied in die neue Gemeinschaft ein. Ich ging nach Hause mit dem stolzen Bewußtsein, daß ich bereits ein richtiger Gymnasiast sei, daß mich die ganze Klasse kenne, und daß um meinetwegen sogar bereits ein wichtiger Akt der öffentlichen Rechtsprechung vollzogen worden sei.

»Du bist ein patenter Kerl,« ermunterte mich herablassend Kryschtanowitsch, »führst dich gar nicht übel ein« . . .

Nach seiner Meinung fehlte mir offenbar nur noch der Karzer und die Prügel.

Am darauffolgenden Sonnabend schien mir mein lebenslustiger Freund und Gönner Olschanski einigermaßen besorgt zu sein. Auf meine Fragen, was er denn habe, gab er keine Antwort, an dem Pedell Mina aber schlich er in der Pause auffallend schamhaft und unmerklich vorüber.

Kryschtanowitsch, der jetzt jeden Tag mit mir zusammen den Heimweg anzutreten pflegte, war gleichfalls nicht in rosiger Stimmung.

»Nun,« sagte er zu mir vor der letzten Stunde, »mir wird man heute, weißt du . . . in der Tat Prügel verabfolgen . . . Warte auf mich also.« Und dann seinen Schopf keck aus der Stirn zurückwerfend:

»Das wird nicht lang dauern. Ich werde bitten, daß ich als erster drankomme.«

»Macht dir das nichts aus?« fragte ich teilnahmsvoll.

»Ich pfeife drauf . . . Bei uns in Bielaja Zerkow, mein Lieber, wurde noch ganz anders geprügelt: die Schüler kriegten schier Würmer im Leib. Mein Alter, das Aas, kann auch nicht übel dreschen« . . .

Nach dem Unterricht, als die lärmende Menge der Schüler abgeflutet war, stand in dem verödeten und jetzt von banger Stille erfüllten Korridor nur die finstere Gruppe der Verurteilten. Schurawski kam mit dem Journal heraus, ihm folgte Mina mit seinem watschelnden Gang. Als mich der Inspektor erblickte, blieb er stehen:

»Ah, Neuling!« sagte er, »bist du auch schon hereingefallen? Hab ich's dir nicht vorausgesagt, was?«

»Nein,« antwortete ich, »ich bin nur mit ihm.«

»Soso, mit Kryschtanowitsch! Eine nette Gesellschaft, du wirst weit kommen, mein Bürschlein. Und du Kryschtanowitsch, hast heute fünfzehn zu kriegen.«

»Ich wollte Sie bitten, Herr Inspektor . . .«

»Nichts zu machen. An den pädagogischen Rat hättest du dich wenden sollen.«

»Nein, nicht darum . . . Ich möchte nur als erster dran. Zu uns ist eine Tante auf Besuch gekommen, Herr Inspektor, eine Tante . . . aus Kijew.«

»So! Und da willst du ihr schleunigst die Freude bereiten. Schön, schön, können wir machen.«

Und nachdem er den Namenaufruf erledigt und die Nachsitzenden in getrennten Klassenzimmern eingesperrt hatte:

»Nun, Herr Kryschtanowitsch, alsdann gehen wir. Das Tantchen wartet ja.«

Und sie gingen selbdritt: der Mina, der Schurawski und mein Freund, in den Karzer, wie Leute, die sich zu einer geschäftlichen Unterredung begeben. Als die Tür des Karzers aufging, sah ich drin eine breite Bank, zwei Bund Ruten und den Gehilfen des Mina stehen. Dann schlug die Tür wieder zu, als hätte sie das hübsche Figürchen Kryschtanowitschs mit der kurzen Taille im anliegenden Röcklein mit Haut und Haar verschluckt.

Die Stille im Korridor wurde noch banger. Ich erwartete mit Herzklopfen, daß hinter der Tür des Karzers eine Balgerei, ein Flehen und Schreien zu hören sein würde. Aber nichts dergleichen erfolgte. Es herrschte nach wie vor eine gespannte Stille, in der nur etwas gleichmäßig mit eigentümlichem Pfeifen tickte. Ehe ich begriffen hatte, was das für ein Ticken wäre, hörte es auch schon auf, und in der Tür erschien wieder Mina. Mit seinem bärenartigen Gang begab er sich in eines der Klassenzimmer, drehte den Schlüssel um und im selben Moment ertönte von dorther ein markerschütterndes Gebrüll: Mina schleppte den widerstrebenden Olschanski am Arm herbei. Mein lebensfreudiger Kollege sperrte den Mund breit auf, seine dicken Backen waren mit Tränen und Kreide beschmiert, er heulte aus Leibeskräften, klammerte sich an die Türpfosten, dann suchte er sich sogar an der glatten Wand festzuhalten. Mina jedoch zog ihn, gleichmütig wie das Schicksal, ohne jede sichtbare Anstrengung nach dem Karzer, aus dem bereits Kryschtanowitsch trat, indem er sich unter dem Uniformrock die Hosenträger festschnallte. Sein Gesicht war nur leicht gerötet, das war alles. Er blickte neugierig auf den strampelnden Olschanski und sagte zu mir:

»Dieser Schafskopf! Was er bloß damit erreicht?«

Seine Augen blitzten spöttisch.

»Nun wird ihm der Mina erst recht hinten draufpfeffern! . . . Paß auf,« fügte er hinzu, wobei er mich festhielt und aufhorchte.

Mina verschwand mit seinem Opfer hinter der Tür. Nach einigen Minuten ertönte von dort ein scharfer pfeifender Hieb und ein gellender Schrei . . .

Wir waren schon draußen am Ausgangstor, als Olschanski wie eine Bombe aus dem Korridor stürzte. Er ließ seine Bücher auf die Erde fallen, blickte sich verstört um und beendigte im Laufen seine Toilette . . . Übrigens war er am nächsten Montag wieder lebensfreudig und sorglos für eine ganze Woche.

An dem bestimmten Tage ging ich zu Prelin. Schüchtern, mit Beklemmung im Herzen, suchte ich und fand endlich das kleine Häuschen mit Balkon und einem Vorgarten am Sennaja-Platz. Prelin stand gerade in hellem Sommeranzug und weißem Strohhut im Garten und machte sich an den Blumen zu schaffen. Er begrüßte mich einfach und freundlich und unterhielt mich noch eine Weile draußen, indem er mir seine Rabatten zeigte, dann führte er mich ins Zimmer. Hier nahm er mein Lehrbuch vor, strich darin an, was schon in der Klasse vorgenommen war, teilte es in Kapitel ein, setzte mir die schwierigeren Stellen auseinander und erklärte, wie ich die Klasse einholen sollte.

Ich verließ meinen jungen Lehrer fast verliebt und stürzte mich, kaum daß ich zu Hause war, auf die im Lehrbuch vermerkten Seiten. Bald hatte ich meine Mitschüler in allen Fächern eingeholt, und im nächsten Quartal bellte Gerassimenko bei meinem Namen die Sentenz: »löblich«. So gingen die Erwartungen meines Freundes Kryschtanowitsch nicht in Erfüllung: die Gymnasialrute habe ich nicht zu kosten bekommen.

Übrigens war das Schicksal der Rute in der russischen Mittelschule bereits unwiderruflich besiegelt, und man kam auch in Schitomir vom Prügeln immer mehr ab. Immerhin habe ich noch aus dem folgenden Jahr einen Fall ihrer Anwendung in der Erinnerung. Zwei Kollegen hatten sich eines schönen Morgens aus dem Elternhause nach den jungfräulichen Wäldern Amerikas aufgemacht, um daselbst ein ungebundenes Abenteurerleben zu genießen. Die Schulroutine vermochte seit jeher für diese jedenfalls bemerkenswerten Flüge jugendlicher Seelen in das Reich des Ungewöhnlichen, Unbekannten und Lockenden kein Verständnis aufzubringen. Jene Flucht hatte das ganze Gymnasium in Aufregung versetzt, und wir Schüler tauschten während des Unterrichts flüsternd Vermutungen aus, wie weit unsere Ausreißer wohl gelangt sein mochten.

Nach drei Tagen erfuhren wir, daß sie bereits eingefangen und in die Stadt zurückgebracht waren und Tag und Nacht im Karzer saßen, in Erwartung des pädagogischen Rats, der über ihre Missetat zu Gericht sitzen sollte.

Es war gerade in der arithmetischen Stunde, als einer der Flüchtlinge, bereits nach verbüßter Strafe, düster ins Klassenzimmer trat.

Auf dem Katheder saß der kleine kugelrunde Serbinow, ein orientalischer Typus, mit den Gesichtszügen eines fettgewordenen Habichts. Er war roh, dumm und streng, lehrte in seinem Fach ausschließlich die »Regeln«, während die Lösung der Aufgaben auf reine Kalligraphie reduziert war: die ganze Klasse schrieb alles von einem oder zwei der besten Schüler ab, und Serbinow stellte Noten für Sauberkeit der Hefte und schöne Handschrift aus. Er stand bereits dicht vor seiner Pensionsberechtigung, war sehr gereizt gegen alle Neuerungen und pflegte sich manchmal in der Klasse in Schimpfereien über die »Dummköpfe« zu ergehen, die gegen die Prügelstrafe schrieben. Als der Flüchtling hereinkam, nagelte ihn Serbinow beinahe für eine Viertelstunde an der Schwelle fest, indem er ihn mit hämischem Zynismus nach allerlei Details der Prügelprozedur ausfragte. Sodann ließ er ihn, wohl wissend, daß der Junge sich nicht hatte vorbereiten können, die Aufgabe aufsagen und malte darauf mit schadenfroher Umständlichkeit eine Eins ins Journal.In Rußland gilt 1 als die schlechteste, 5 als die beste Note. Ein »Plus« erhöht die Note um ein Geringes. Desgleichen wird die unterste Klasse als erste, die oberste als siebente (resp. achte) bezeichnet.

Prelin seinerseits rief den Knaben an das Katheder, fragte ihn, ohne das Geschehene mit einer Silbe zu erwähnen, mit ernstem Ausdruck, bis wann er das Versäumte nachholen zu können glaube, rief ihn an dem angegebenen Tage auf und gab ihm mit demonstrativer Feierlichkeit eine »5 mit Plus«.

Das Gymnasium von Schitomir besuchte ich nur zwei Jahre lang; und die dort angeknüpften Freundschaftsbande wurden alsbald zerrissen. Nur ein Verhältnis hat mir einen tieferen freilich, auch ein wenig melancholischen Eindruck hinterlassen, der bis heute in meinem Herzen lebendig ist. Ich meine die Freundschaft mit Kryschtanowitsch.

Vom ersten Tage an, als er sich so schlicht an mich mit der Frage wandte, ob er geprügelt werden solle oder ihm die Rute bloß angedroht sei, hatte er mir eine warme Sympathie eingeflößt. Mir gefiel seine schroffe Stirn, sein helles Augenpaar, das bald in übermütiger Ausgelassenheit blitzte, bald plötzlich erlosch und einen rätselhaften Ausdruck annahm; ebenso bezauberte mich sein breitschultriges Figürchen mit der schlanken Taille im enganliegenden Uniformröcklein, sein selbstbewußtes Auftreten und die eigentümliche Überlegenheit, die sich in seinem ganzen Wesen kundgab. Er mochte kaum anderthalb Jahre älter gewesen sein als ich, doch mir war, ich weiß selbst nicht weshalb, als wüßte er über alle Menschen, so auch über unsere Lehrer, über die anderen Schüler wie über die eigenen Eltern, viel besser Bescheid als ich. Seinen einmal gefaßten Lebensplan setzte er hartnäckig durch, indem er einfach keine Schularbeiten mehr machte. Für die Strafen aber, womit man ihn dafür bedachte, wie für das gesamte Schulregime hatte er die tiefste Verachtung.

Über seine Familie ließ er sich nur äußerst ungern aus; am liebsten tat er noch hie und da seiner Schwester Erwähnung, pflegte ihr aber dabei die gemeinsten Ausdrücke als eine Art Kosenamen beizulegen.

Hätte überhaupt je einer Kryschtanowitsch belauscht, wie er manchmal über seine angeblichen Erlebnisse mit dem weiblichen Geschlecht erzählte, so wäre er über den kaltblütigen Zynismus dieses Gymnasiasten der zweiten Klasse sicher entsetzt gewesen. Ich muß mich jetzt selbst wundern, wenn ich mich jener Erzählungen erinnere. Doch ich fühlte schon damals, wie ich glaube, instinktiv heraus, daß dies eigentlich nur freie Erfindungen und Prahlereien waren. Übrigens war es schwer zu sagen: meinte er all dies ernsthaft oder machte er sich bloß über meine Leichtgläubigkeit lustig. Alles in allem machte er den Eindruck eines im Kern guten Charakters, der unter unglücklichen Familienverhältnissen irgend welcher Art schwer zu leiden haben mochte. Zu Zeiten verfinsterte er sich plötzlich, zog sich in sich selbst zurück, und in seinen erloschenen Augen schimmerte heimlicher Kummer, – es war, als wenn der reine Grund seiner Knabenseele über die ihn langsam überziehende Schlammschicht trauerte . . .

Seit der oben beschriebenen Prügelstrafe, die sich übrigens im Verlauf des ganzen Jahres nicht mehr wiederholte, empfand ich für ihn eine besondere Wärme: er tat mir leid, imponierte mir zugleich, und ich hatte das Bedürfnis, ihm etwas Gutes anzutun. Bald erlangte er sogar eine ziemliche Macht über mich, deren wir uns beide bewußt waren. Auch er war mir gewiß gut, doch lag auf unserem Verhältnis, unausgesprochen, vielleicht nicht einmal bewußt für ihn, ein Schatten; das war: ich hatte ihn enttäuscht. Wir paßten doch nicht ganz zueinander. Ich hätte am Ende nichts dagegen gehabt, ein ebenso hoffnungslos »verlorener« Typus zu werden wie er, um vom Inspektor Schurawski mit derselben Familiarität behandelt zu werden und dem Freunde im Karzer Gesellschaft zu leisten. Aber mir lag dieses Wesen nun einmal nicht, ich weiß selbst nicht warum.

In den Karzer kam ich übrigens sehr bald. Unser heißblütiger Franzose, Monsieur Bayvelle, pflegte in seiner Unterrichtsstunde stets einige Schüler zum Nachsitzen zu kommandieren, vergaß sie aber häufig im Journal aufzunotieren. So verdammte er einmal auch mich zum Nachsitzen. Als ich nach Schluß des Unterrichts zusammen mit Kryschtanowitsch im Korridor an den Inspektor herantrat, zeigte sich, daß ich nicht auf der Liste der Sünder stand.

»Aber mich hat Monsieur Bayvelle bestimmt nachsitzen heißen,« beteuerte ich.

»So ist es,« bestätigte gönnerhaft Kryschtanowitsch.

»Nun, wenn er dich hat nachsitzen heißen, dann bleib halt sitzen,« willigte Schurawski ein. »Apropos,« fügte er hinzu, »dort wirst du deinen geliebten Bruder begrüßen können.«

Im Karzer saßen in der Tat schon mehrere Sünder, darunter mein älterer Bruder. Stolz trat ich zum erstenmal in diese erlesene Gesellschaft, aber mein Bruder ernüchterte mich gleich, indem er mit Verachtung rief:

»Schafskopf! Hat sich selbst aufgedrängt!« . . .

Mir wurde sofort klar, daß ich einen Bock geschossen hatte: ein »richtiger« Schüler hätte seinen Ehrgeiz gerade darin gefunden, dem Inspektor eine Nase zu drehen, während ich ihm noch selbst ins Garn ging . . .

Als wir wieder herausgelassen wurden, sagte Kryschtanowitsch zu mir:

»Du bist doch ein braver Bursche, wenn auch noch dumm. Wollen wir morgen aus dem Gottesdienst durchbrennen, gelt?«

»Wohin?«

»Wohin ich dich führen werde. Kommst?«

»Schön, bloß muß ich ja noch die Mutter fragen« . . .

»Sie wird's nicht erfahren. Du kannst sagen, du seist bei einem Kollegen gewesen, um Schularbeiten zu machen.«

Ich wurde verlegen und errötete. Er blickte mich aufmerksam an und zuckte die Achseln.

»Du hast wohl Angst, deiner Alten etwas vorzuschwindeln? Ich für mein Teil schwindle in einem fort. Nun, einerlei, du hast mir das Wort gegeben. Wer einem Kameraden das Wort bricht, ist ein Schuft.«

Ich sagte der Mutter, daß ich nach der Kirche für den ganzen Tag zu einem Kollegen gehen wolle, und sie gab ihre Einwilligung. Kaum hatte am andern Morgen der Dienst in dem alten Dom begonnen, als mich Kryschtanowitsch am Ärmel zupfte, und wir drückten uns unmerklich ins Freie. Bei mir regte sich leise das Gewissen, zugleich aber fand ich, gesteh ich's nur, etwas sehr Lockendes in diesem halb verbrecherischen Ausflug zu einer Stunde, wo die Kollegen noch auf dem Chor die Responsorien zählten und mit Ungeduld das abschließende Cherublied erwarteten. Selbst die Straßen schienen mir um diese Stunde ein besonderes Aussehen zu haben.

Kryschtanowitsch führte mich mit seinem sicheren Schritt zuerst an unserer alten Wohnung vorbei, dann bogen wir an der mir wohlbekannten »Figur« in die Chaussee ein und gingen geradeaus. Unterwegs erstand mein Freund in einem Grünkram zwei Semmeln und ein Stück Wurst. Die Sicherheit, mit der er den Einkauf machte und mit Silbergeld umging, imponierte mir gewaltig; ich hatte bis dahin nur einmal im Leben ganze fünfzehn Kopeken besessen, und als ich mit diesem Vermögen in der Tasche über die Straße ging, war ich überzeugt, daß alle Welt von meinem Reichtum wußte und irgend jemand mir sicher auflauerte, um mich zu berauben.

»Woher hast du soviel Geld?« fragte ich meinen kecken Freund, als wir aus dem Laden traten.

»Was schert's dich?« gab er zur Antwort. »Nun, habe meinen Alten bestohlen« . . .

Ich errötete und wußte nicht, was ich sagen sollte. Mir schien, daß Kryschtanowitsch das nur so »zum Trotz« sagte. Als ich diese Vermutung aussprach, erwiderte er nichts und ging weiter.

Wir ließen den orthodoxen Friedhof hinter uns und stiegen jene kleine Anhöhe der Chaussee hinan, die mir einst als das ultima Thule erschienen war, und von der her mein Bruder und ich den »gehörnten Popen« erspähten.

Als wir die Anhöhe auf der anderen Seite hinabstiegen, war uns die Wilskajastraße und das Kolanowskische Haus bald aus dem Gesicht verschwunden. Rechts und links zogen sich den Weg entlang Zäune, Ödland, kleine Katen, Erdhütten. Endlich blieben auch diese zurück. Vor uns erstreckte sich das weiße Band der Landstraße mit den summenden Telegraphendrähten und in der Ferne schimmerte am Horizont bläulich im leichten Dunst aus Staub und Nebel der Hain, – derselbe Hain, in dem ich einst zum erstenmal dem Rauschen der Fichten gelauscht hatte . . .

Mir war bange und doch fröhlich zumute. Da zogen wir, zwei kleine Gymnasiasten, irgendwohin drauflos, noch dazu auf verbotenen Wegen: hatte doch meine Mutter kaum einen solchen Ausflug vorgesehen. Die Welt, die sich vor mir entfaltete, war mir neu und fremd, oder richtiger, ich betrachtete sie von einem neuen Standpunkt. Weiße Wolken lagerten sich dicht am Horizont, der sich frei von Häusern und Dächern unseren Blicken darbot. Unterwegs begegneten uns knarrende Tschumakenfuhren, hohe jüdische Balagulen; hie und da schaute sich ein Fußgänger neugierig und etwas verwundert nach uns um; dann zog ein Transport Tataren aus der Krim vorbei, die alljährlich Weintrauben und Wassermelonen nach unserer Stadt zu bringen pflegten. Der Transport bestand aus riesigen Fuhren, die beinahe wie Eisenbahnwagen aussahen und durch eine wagerechte Scheidewand in je zwei Stockwerke geteilt waren. Im oberen hockten kleine Tatarenkinder, im unteren lagen Wassermelonen aufgeschichtet und standen Kisten mit Wein. Die Fuhren waren mit Kamelen bespannt. Die Tiere pflegten sodann in der Stadt für Geld zur Schau gestellt zu werden. Hier im Freien konnten wir unentgeltlich betrachten, wie sie auf der Landstraße ausschreitend mit den weichen Sohlen platschten, die schlangenartigen Hälse gewichtig wiegten und die dicke Hängelippe verächtlich vorschoben.

Kryschtanowitsch marschierte mit aufgeknöpftem Uniformrock und bloßem Kopf immer geradeaus. Mich hatte seine ruhige Sicherheit, wie immer, in ihren Bann gezogen; ich folgte ihm gehorsam, wobei ich meine Mütze gleichfalls in der Hand hielt und mein Gesicht dem frischen Windhauch aus den Feldern entgegenhielt.

Nachdem wir in dieser Weise etwa vier Werst zurückgelegt haben mochten, gelangten wir an eine hölzerne Brücke, die über das tief unten in der Schlucht sich schlängelnde Flüßchen führte. Hier stieg Kryschtanowitsch hinab, und bald standen wir dicht am Ufer der stillen und lieblichen Kamionka. Hoch, hoch über uns schwebte die Brücke, auf der Pferdehufe dumpf aufstampften, Wagenräder dröhnten, ein Postwagen mit hellem Schellengeläute vorbeirasselte; am Geländer entlang sah man Silhouetten von Fußgängern vorbeiziehen: Arbeiter, Wanderer, manchmal auch Pilgerinnen, die nach dem Potschajewschen Kloster wallfahrteten.

Kryschtanowitsch trat auf eine kleine Landzunge vor, die von einer Windung des Flüßchens gebildet war, und streckte sich auf dem kühlen grünen Rasen nieder. Ich folgte seinem Beispiel, und wir blieben lange in wohliger Ruhe liegen, betrachteten schweigend den Himmel, lauschten auf den gedämpften Lärm des hoch über unseren Häuptern vorbeirinnenden Lebensstromes und genossen das Bewußtsein, von keiner Seele gesehen zu werden.

Mein Freund hielt sein Gesicht von mir abgewandt, doch fühlte ich die ganze Zeit seine Nähe. Kinder gehen anscheinend sorglos an erschütterndsten Dramen vorüber, das bedeutet jedoch nicht, daß sie sie nicht instinktiv herausfühlen. So ahnte ich auch jetzt, daß in der Seele meines Freundes etwas vorging, was er mit sich allein ausmachen wollte. Auf dem ganzen Wege war er schweigsam gewesen, und in seiner Stirn stand eine kleine Falte eingegraben, wie damals, als er sich über die bevorstehenden Prügel erkundigte.

Endlich setzte er sich im Grase auf. Sein Gesicht war ruhiger. Er blickte sich in der Landschaft um.

»Hier ist's doch schön, nicht?« fragte er.

»Sehr schön,« erwiderte ich. »Warst du schon mal hier?«

»Ja, ich war schon hier.«

»Allein?«

»Allein . . . Wenn du willst, werden wir nun zusammen herkommen. Überkommt dich nicht manchmal auch die Lust, irgendwohin zu gehen, so einfach drauflos, immer weiter und weiter, um nimmer wieder zurückzukehren?«

Mich überkam dergleichen nicht. Marschieren – ja, das hätte mir gefallen, aber ich wußte doch, daß es zum Schluß heißen würde: heimgehen, zu den Eltern, zu den Geschwistern zurückkehren. Ich gab keine Antwort, und nach einer Weile stellte ich ihm meinerseits aus einem plötzlichen Antrieb die Frage:

»Hör mal, warum bist du . . . so?«

»Wie ›so‹?« gab er die Frage zurück, fügte aber, ohne meine Antwort abzuwarten, hinzu: »Ach, laß gut sein. Hol' sie der Teufel alle, alle miteinander . . . Komm, wir wollen lieber baden.«

Alsbald plätscherten wir, schwammen und pudelten im Flüßchen so lustig, als hätte ich nicht erst vor einer Minute die Frage gestellt, die Kryschtanowitsch unbeantwortet gelassen hatte. Darauf verzehrten wir unsere Vorräte, schlenderten noch ein wenig im Wrangelhain und begaben uns auf den Heimweg, als die Sonne sich zu den Wipfeln der Fichten neigte. Als wir uns der Stadt näherten, schimmerten die Lichter der Vorstadt bereits in der blauen Dämmerung.

Dieser kleine Ausflug hat sich in mein Gedächtnis tief eingeprägt, vielleicht deshalb, weil mit ihm der unbestimmte, aber starke Eindruck von der Persönlichkeit meines Freundes verknüpft war. Am anderen Morgen war er nicht zur Schule gekommen, und während ich neben seinem leeren Platz saß, durchirrten allerhand Erinnerungen an das gestrige Erlebnis und wirre Fragen mein Gehirn. Unter anderem sann ich darüber nach, was ich mal später werden wollte. Bis dahin hatte ich in meiner Einbildung schon mehrere Berufe gewechselt. Als ich das erstemal eine Mietsdroschke zu sehen bekam, hatte der Geruch des Leders, der Lackfarbe und des Pferdeschweißes, sowie das herrliche Vorrecht, die Zügel in den Händen halten und die Bewegungen der Pferde lenken zu dürfen, die stärkste Lust in mir erweckt, Droschkenkutscher zu werden. Später dachte ich mich gern als Polen aus dem XVIII. Jahrhundert, in einem Kalpak mit Adlerfeder auf dem Kopf und einem krummen Säbel an der Hüfte. Noch später wollte ich unbedingt ein Kosake werden und besoffen zu Pferde wie der Wind in der Steppe dahinjagen, wie es jener kecke donsche Unteroffizier so gut verstand. Jetzt war ich schon gescheiter. Ich wollte Lehrer werden. Und zwar genau so einer wie Prelin.

Ich sitze auf dem Katheder und alle Kinderherzen wenden sich mir zu, während ich wiederum jedes von ihnen genau kenne und alle ihre Regungen durchschaue. Unter den Schülern sitzt auch Kryschtanowitsch. Ich weiß, daß er durchaus nicht der schlimme »verlorene« Knabe ist, der nichts anderes verdient als geprügelt und vom Gymnasium verjagt zu werden. Ich weiß, was man ihm sagen und was man für ihn tun muß, damit seine Augen nicht so schwermütig dreinblicken, damit er seinen Vater nicht mehr »das Aas« nennt und über seine Mutter nicht mehr spottet . . .

Dies alles war so verlockend, so klar und einfach, wie eben nur Traumbilder zu sein pflegen. Und alles dies sah ich dermaßen lebendig vor mir, daß ich . . . ganz und gar nicht merkte, wie es in dem Klassenzimmer ungewöhnlich still wurde, wie die Schüler sich verwundert nach mir umsahen, wie mich vom Katheder der glatzköpfige Bielokonskij, unser alter Professor der russischen Sprache, anstarrte und schon zum drittenmal meinen Namen rief . . . Er fragte mich nach irgendeinem soeben gesagten Satz, wurde ärgerlich und wies mich aus dem Klassenzimmer.

Ich ging hinaus, immer noch im Bann meines wachen Traumes, und war gar nicht so unglücklich über die Strafe. Kaum hatte ich mich aber draußen in die Türnische gedrückt, um meiner Träumerei weiter nachzuhängen, als in der Perspektive des Korridors die stattliche Gestalt des Direktors erschien. Als er mich im Vorbeigehen bemerkte, blieb er stehen, warf mir aus seiner Höhe einen majestätischen Blick zu und bellte seine automatische Phrase los:

»Bist aus dem Klassenzimmer gewiesen? Wart, du Schuft, kriegst Prügel!« . . .

Darauf ging er weiter. Höchstwahrscheinlich würde er mich eine Minute später, falls ich ihm noch einmal begegnet wäre, nicht einmal wieder erkannt haben, in meinem Gedächtnis aber blieb die kleine Episode für das ganze Leben haften. Das rohe Gepolter des Automaten traf zufälligerweise eine Knabenseele, die sich gerade zum erstenmal für die Schicksalsfragen des menschlichen Lebens geöffnet hatte und durch den Zukunftstraum von einem schöneren Dasein ergriffen war . . . Nachmals, wenn ich in Stunden unfreiwilliger Einsamkeit mein vergangenes Leben vor mir Revue passieren ließ und zu ergründen suchte, was eigentlich für meinen Lebensweg entscheidend war, erstand in meinem Gedächtnis neben manchen wichtigen Erlebnissen jedesmal auch die kleine Szene: ein langer Korridor, ein winziges Büblein, das sich in die Türnische drückt, den ersten Traum von einem menschenwürdigen Leben im Herzen, und ein vierschrötiger Automat in Uniform, der seine einfache Formel herunterschnarrt:

»Du Schuft kriegst Prügel!« . . .

* * *

Im Jahre 1866 wurde auch unsere stille Provinz durch das Echo eines bedeutsamen Ereignisses der »hohen Politik« aufgeregt: am 4. April jenes Jahres hatte Karakosow in Petersburg das Attentat auf den Zaren Alexander II. gemacht. Im Juni wurde nach Beendigung der Gymnasialprüfungen die übliche Schlußfeier des Schuljahres, jedoch diesmal mit ungewohntem Gepränge, veranstaltet. Wir Schüler hatten uns erst im Gymnasialgebäude versammelt und marschierten dann, paarweise, nach dem Gebäude des Adelsklubs. Das besonders feierliche Gepränge jener Veranstaltung war wohl darauf zurückzuführen, das unser Gymnasium diesmal vor den oberen Behörden wie vor der Stadtgesellschaft mit einem eigenen Originaldichter zu prunken gedachte. Nach der Eröffnung der Feier hielt erst unser Literaturlehrer Schawrow eine Rede, von der ich jedoch nicht das mindeste im Gedächtnis behalten habe. Darauf bestieg ein Schüler von kleiner Statur, aber großem kraushaarigen Kopf, das Podium und fing mit Pathos und schriller Stimme sowie stark semitischem Akzent an, ein Gedicht auf die »wunderbare Errettung« des Zaren vorzutragen. Das Gedicht war ebenso hochtrabend und prententiös wie der Vortrag. Es begann ungefähr mit der Frage: »Wo strömen die brandenden Wogen des Volkes hin?« Worauf die Antwort folgte:

Eine schreckliche Kunde geht durch das Land
Vom ruchlosen Anschlag auf den Zaren,
Doch ihn retteten aus des Mörders Hand
Unsichtbare Engelscharen . . .

Nach der Rezitation bot der Poet eine Papierrolle, sein Opus enthaltend, der Gattin des Gouverneurs dar, worauf der orthodoxe Erzdiakonus den kleinen Judenjungen auf den Kopf küßte.

Soweit ich mich entsinnen kann, hatte das Karakosowsche Attentat weder in mir noch in den anderen mir bekannten Knaben irgend welche Fragen und Probleme ausgelöst. Der Zar war für uns etwas Enormes, Fernes, Elementares . . . So erschienen uns auch die Menschen, die auf ihn schossen. Das Ereignis hatte für uns etwas Abstraktes, unserem alltäglichen Leben völlig Fremdes. Daß aber die Schulfeier aus diesem Anlaß bloß ein offizielles Schaustück, etwas Unechtes war, fühlten wir Knaben deutlich heraus. Über die Brüstung des Chors vornübergebeugt, beobachteten wir mit ironischer Neugier, wie komisch der Poet Warschawski an den Erzdiakonus zum Handkuß herantrat und wie der Geistliche das struppige Wollhaar des Schülers mit seinen Lippen berührte. Auf den Gesichtern der Schüler war nur gleichgültige Neugier oder Hohnlächeln zu sehen.

Das Gedicht selbst zierte bald darauf die Spalten einer Gymnasialrevue, die mit obrigkeitlicher Genehmigung in der amtlichen Gouvernementsdruckerei herausgegeben wurde. Es waren übrigens von dieser Revue alles in allem, glaube ich, bloß zwei oder drei Nummern erschienen. Die Gouvernements-Kanzlei und die redaktionelle Teilung durch die Professoren ertöteten natürlich den freien Flug der Pennälermuse und sie verkümmerte rasch. Die Legende vom »Adler-Mina und Prometheus-Bujwid« hätte selbstredend in dieser Revue keine Aufnahme gefunden, so wenig wie andere zuweilen wirklich gelungene Satiren aus der Feder namenloser Dichterlinge von der Schulbank. In jenes obrigkeitlich genehmigte Blatt begab sich die Muse wie auf Besuch: stark geschnürt und steif, und so war sie viel weniger interessant als daheim im zwanglosen Kostüm der Freiheit.

Dem dichterischen Genius des Jünglings Warschawski, der seine ersten vielversprechenden Pegasusritte mit feierlichen Oden und Widmungen an hochgestellte Personen begonnen hatte, war übrigens nicht beschieden aufzublühen. In der Gymnasialrevue erschien noch ein Erzeugnis von ihm, das, weniger feierlich und hochfliegend, »die Mütze« besang. Es handelte sich um die Uniformmütze, die wir Gymnasialschüler trugen und von der der kraushaarige Dichter behauptete, daß sie die jugendlichen wissensdurstigen Lockenköpfe schmücke und »die Blicke der Schönen« anziehe. Ein anderer Schüler, Jordanski mit Namen, veröffentlichte darauf eine bitterböse Kritik, in der er die These des Dichters Punkt für Punkt zerpflückte. »Der Dichter behauptet, daß unsere Mütze die Blicke der Schönen anziehe, – schrieb er in sehr energischem Stil – ich aber sage: im Gegenteil!« Zufällig war Jordanski einmal zu meinem älteren Bruder zu Besuch gekommen und las uns seinen Aufsatz vor. Bei den Worten: »Ich aber sage: im Gegenteil!« schossen seine Augen Blitze, und er schlug mit der Faust auf den Tisch. Seitdem hatte ich für einige Zeit die Vorstellung, »Kritiker« wären eine Menschensorte, die aus irgendeinem Grunde über die Schriftsteller sehr erbost seien und zu allen ihren Erzeugnissen »im Gegenteil« sagen. Mit dieser Kontroverse über die Mütze riß, soviel ich mich erinnere, der Lebensfaden der literarischen Unternehmung des Gymnasiums von Schitomir, und mit ihr versank auch der junge Ruhm des Poeten Warschawski im Lethefluß.


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