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Nach dem polnischen Aufstand setzte in unserer Provinz eine Periode harter Russifizierungspolitik ein: Denunziationen, Verhaftungen, Vermögenskonfiskationen und Prozesse nicht mehr bloß gegen Aufständische, sondern schon gegen »verdächtige« Personen waren an der Tagesordnung. Die drei Söhne des Herrn Rychlinski wurden nach Sibirien verschickt. Die beiden alten Leute fuhren nach Kijew, um ihre Jungen das letztemal vor dem Abtransport zu umarmen.
Zum Namenstag des Herrn Rychlinski veranstalteten nun die Verwandten und Freunde des Hauses eine kleine Festlichkeit, bei der der Schülerchor unter Leitung eines der Lehrer eine eigens für den Tag komponierte Kantate vorsang. Ihr Schlußvers lautete etwa:
Gott wird dir das Leid zum Schluß doch versüßen,
Einst siehst du die Söhne zu deinen Füßen.
Der tief ergriffene Greis schluchzte leise. In demselben Moment aber schüttelte der unverbesserliche Onkel Peter traurig seinen Kopf und ließ den bitteren Scherz verlauten:
– »Er hat doch gar keine Füße« . . .
Das Wort fiel mitten in das Schweigen wie eine Roheit. Alle waren über Onkel Peters Zynismus empört. Und doch sollte er sich leider in diesem Falle als ein Prophet erweisen. Bald kam nämlich die traurige Nachricht, daß der älteste Sohn Rychlinskis auf einer Etappe seiner Halswunde erlegen war, und wieder nach einiger Zeit hatte ein edler Konkurrent das Pensionat selbst bei den Behörden denunziert. Eine Untersuchung ward eröffnet und bald wurde die beste Schulanstalt, die ich je kennen gelernt habe, geschlossen. Die beiden alten Leute liquidierten die ihnen liebgewordene Unternehmung und verließen die Stadt.
Nicht lange währte es, da kam endlich auch an uns selbst die Reihe, den Staub der Stadt Schitomir von unseren Füßen zu schütteln.
In der Stadt Dubno unseres Gouvernements war nämlich ungefähr um jene Zeit der Kreisrichter ermordet worden. Das war ein zum orthodoxen Glauben übergetretener Pole, ein von Natur böser und galliger Mensch, den die heikle Lage zwischen zwei Feuern noch mehr verbittert hatte, so daß sein Name bei der polnischen Bevölkerung berüchtigt wurde. Schließlich geschah es, daß er einmal am hellichten Tage auf der Straße, als er vom Gericht nach Hause ging, von einem Polen namens Bobrik niedergeschlagen wurde.
Dieses Ereignis hatte uns alle viel tiefer aufgewühlt, als das Attentat auf den Zaren: blieb doch dieses eine ferne Abstraktion für uns, während jenes unser eigenes Milieu betraf. Es wurden auch, wie nicht anders zu erwarten war, in den Kreisen der Gesellschaft sowohl über die Persönlichkeit des Opfers wie auch über die des Mörders lebhafte Erörterungen gepflogen. Über diesen letzteren gingen die Meinungen sehr auseinander: die einen wollten in ihm einen Nationalhelden, die anderen hinwiederum bloß einen Irrsinnigen sehen. Sein Benehmen war jedenfalls absonderlich genug: während der Gerichtsverhandlung trieb er leichte Scherze, und das einzige, worum er vor seiner Hinrichtung bat, war die Erlaubnis, eine Zigarette rauchen zu dürfen.
Um die öffentliche Meinung nach diesem aufregenden Attentat einigermaßen zu besänftigen, beschlossen die oberen Behörden, an die Stelle des Ermordeten diesmal einen Mann zu setzen, der sich allgemeiner Achtung erfreute und gemäßigten Ansichten zuneigte. Die Wahl fiel auf meinen Vater.
Er machte sich nun in aller Eile reisefertig und fuhr ab. In den Sommerferien folgten wir ihm nach Dubno, da es aber in dieser Stadt kein Gymnasium gab, so mußten wir nach den Ferien nach Schitomir zurückkehren. Dieser Umstand war es auch, der meinen Vater schließlich bewog, nach einigen Monaten bei der Obrigkeit um Amtsversetzung einzukommen, worauf er nach der Kreisstadt Rowno versetzt wurde. Hier erkrankte er bald nach seiner Ankunft, und unsere Mutter mit dem Schwesterlein reisten zu ihm hin. Wir Buben waren auf diese Weise in Schitomir etwa ein halbes Jahr lang bloß in der Obhut der Großmutter und der Tanten geblieben. Diesem neuen Regiment verweigerten wir gleich von Anbeginn den Gehorsam, und unser Leben floß von nun an in ziemlicher Ungebundenheit schlecht und recht dahin. Ich war als Bub sehr begabt, hörte daher gänzlich auf, ordentlich zu lernen und fertigte die Schularbeiten sozusagen nur im Fluge an: im Klassenzimmer, während der Zwischenpausen, wobei ich jedoch fortfuhr, die besten Noten zu kriegen. Die freie Zeit widmete ich gleich meinen Brüdern völlig dem Herumstreifen: wir pflegten, eine lustige Bande, auf das jenseitige Flußufer hinüberzusetzen, auf den mit Haselsträuchern bewachsenen Bergen herumzuklettern, unter Mühlenschleusen zu baden, in fremde Obst- und Gemüsegärten einzubrechen und erst spät in der Nacht von solchen Expeditionen heimzukehren.
Das Schlußergebnis dieses Herumvagierens war, daß ich, nachdem ich in allen Fächern die Prüfung wohlbestanden hatte, in der Mathematik mit Glanz durchfiel und für ein zweites Jahr in derselben Klasse belassen wurde. Gerade um diese Zeit war jedoch unser Umzug zum Vater nach Rowno schon beschlossene Sache.
Eines Tages um die Mitte Juni stand vor unserer Haustreppe die riesenhafte, von oben bis unten bepackte Familienreisekutsche. Postpferde wurden gebracht. Der Kutscher in einer flachen Mütze mit dem messingnen Adler und mit einem Blechschild am linken Ärmel kletterte auf den Kutschbock . . . Wohlbekannte Straßen flogen uns entgegen, Läden, Kirchen, der aufragende Stumpf der alten einst vom Blitz zerschmetterten »Figur«, das Kolanowskische Haus . . . Eine vertraute Welt, der ich, ich weiß selbst nicht warum, zuletzt überdrüssig, ja, die mir verhaßt geworden war . . . Als wir die sanfte Anhöhe am russischen Friedhof erreicht hatten, hielt der Kutscher an und band die Glöckchen los. Ich wartete mit zitternder Ungeduld, bis er wieder seinen Sitz bestieg. Mir war, als müßte von rückwärts doch noch irgend etwas uns einholen und zurückhalten. Und siehe da: es lief wirklich jemand eilig die alte Wilskajastraße uns nach und schwenkte heftig ein weißes Paket in der Luft. Mein Herz zuckte zusammen. Doch es stellte sich heraus, daß es nur eine vergessene Pappschachtel war. Unsere Riesenkutsche kam wieder in Bewegung und wir rutschten endlich die Anhöhe hinunter . . .
Katen, Zäune, Erdhütten liefen uns rechts und links entgegen. Der kümmerliche Kramladen, in dem Kryschtanowitsch einst für Moneten zweifelhafter Herkunft Semmeln kaufte . . . Die Landstraße mit ihren Fußgängern, Bauernkarren, jüdischen Balagulen, Pilgern . . . Die dröhnende Holzbrücke . . . Das Flüßchen, in dem mein Freund und ich gebadet hatten . . . Der Wrangelhain . . . Ein eigentümlicher wohliger Schmerz bohrte in meinem Herzen. Zum erstenmal war es, daß ich einen so glatt abgeschnittenen Streifen meines Lebens gleichsam von mir tat und hinter mich warf. Die Brücke verschwand, auch die Fichten des Wrangelhains, die äußersten Grenzpfähle der kleinen Welt, in der ich bis dahin gelebt hatte, blieben weit hinter mir zurück. Vor mir aber entfaltete sich eine unbekannte lockende Ferne. Die Sonne stand noch hoch, als wir die erste Station erreicht hatten, ein gelbliches Gebäude in gotischem Stil mit rotem Dach.
Die Pferde wurden gewechselt, der Passierschein visiert (was zu erledigen die Mutter zu meinem nicht geringen Stolz mich beauftragt hatte), und ich kletterte wieder auf den Kutschbock.
Wieder das gleichmäßige Rütteln der Fahrt, das leichte Schellengeklingel, das weiße Band der Landstraße, deren frischer Schotter unter unseren Rädern knirschte, dumpfhallende Holzbrücken, das endlose Surren der Telegraphendrähte . . . Wieder eine Station, die der ersten wie ein Ei dem andern glich, dann bläuliche Dämmerung, dann ein sternbesäter Himmel und phosphoreszierende Wolken, die aussahen, als wären sie in Mondlicht getränkt . . . Die Mutter klopft an die kleine Fensterluke hinter dem Kutschbock; der Kutscher hält die Pferde an. Die Mutter fragt, ob ich nicht friere, ob ich nicht eingenickt wäre und nicht etwa vom Bock herunterfallen könnte. Mir ist, als hätte ich nicht geschlafen und doch kommt mir die Gegend, wo wir halten, merkwürdig unbekannt vor: geradeaus vor uns schimmert hell eine kleine, offenbar frisch gezimmerte Holzbrücke, darunter gluckst ein dunkles Flüßchen, und rechts und links wiegen sich schläfrig in der dunklen Bläue des nächtlichen Himmels hohe Baumwipfel . . .
Ich bin ganz von Freude an dem Neuen erfüllt, das ich erlebe, von der Erwartung der Dinge, denen ich entgegenziehe. Und doch scheint zugleich unter dem Gesurr der Telegraphendrähte von rückwärts, von dorther, wo die zum Überdruß gewordene Vergangenheit zurückgeblieben ist, etwas mir nachzuziehen auf dieser Landstraße, – ein wirres Gewebe von Erlebnissen neckt, liebkost und umgaukelt mich mit seinem huschenden Schattenspiel . . . In meinem Gedächtnis taucht der Abend mit dem blutroten Sonnenuntergang auf, das Phantom: »Es kommt was!«, das Geraune über etwas Unbekanntes, das sich da ereignen sollte, ein ebensolches Surren der Telegraphendrähte, wie ich es eben höre, Menschengruppen an den Telegraphenpfählen . . . Das Pensionat . . . Herrgott, wie lange ist's her, daß dies alles war, und wie dumm war ich noch damals! . . . Um wieviel gescheiter bin ich doch im Vergleich mit jenem Büblein, das sein Ohr an die Telegraphenpfähle drückte oder sehr stolz war – worauf? Auf seine Würde eines Dreikäsehochs im Pensionat Rychlinski! . . . Und nun bin ich schon ein alter »Pennäler« und ziehe neuen Orten, neuen unbekannten Dingen entgegen . . .
Im Leben jedes Kindes gibt es Augenblicke, in denen das Bewußtsein den zurückgelegten Lebensweg Revue passieren läßt, das eigene Wachstum gewahr wird und es gleichsam ins Buch des Lebens einträgt. Einen solchen Augenblick erlebte ich in jener Nacht beim Rauschen des Windes, der undeutlich und doch beinahe sprechend deutlich in die Saiten der Telegraphendrähte griff. Es war mir, als ob wirre Stimmen in der stillen Nacht eine dumpfe Unterhaltung über verschiedene Dinge, darunter auch über mich und meine Vergangenheit, führten. Und ich merkte mit Verwunderung, daß bei den Bildern dieser Vergangenheit, die doch so einfach, so alltäglich, so prosaisch waren, in meiner Seele, Gott weiß woher, die Überzeugung auftauchte, daß all das Erlebte gut und schön war.
Bei dieser plötzlich aufsteigenden Empfindung überkam mich selbst die Verwunderung: warum – so fragte ich mich – hatte ich dieses Gefühl nicht gehabt, als all jenes Erlebte noch Gegenwart für mich war? Oder befand ich mich – ohne es zu wissen – auch damals wohl und glücklich dabei? Möglich, doch sicher anders als jetzt. Das eigentümliche, traurig angenehme Gefühl, das ich jetzt bei all diesen Bildern empfinde, das, was für immer dahin ist und nie wiederkehren wird, was jene Erlebnisse zu dem Besonderen, Einzigen, so merkwürdig Schönen für mich macht, – dieses Gefühl hatte ich damals in der Vergangenheit bestimmt nicht gehabt. Woher mochte es wohl jetzt, bei der Erinnerung an die Vergangenheit, rühren?
Als es tagte, fuhren wir – ich weiß nicht mehr wo: in Nowograd-Wolynsk oder in dem Städtchen Korez – gerade im ersten Schein der Morgenröte an den Ruinen einer altertümlichen Basilianischen Klosterschule vorbei. Die unteren Partien des länglichen Gebäudes waren noch vom Morgennebel eingehüllt, im oberen Stockwerk jedoch gähnten schwarze leere Fensterluken in einer langen Reihe. Meine Einbildung bevölkerte sie mit einer Menge Kindergestalten, darunter sah ich auch das mir wohlbekannte ernste Gesicht des kleinen Thomas aus Sandomir, des Helden des ersten Romans, den ich gelesen.
Und wieder fühlte ich, daß auch der kleine Thomas mir jetzt anders erschien als ehemals in früher Kindheit. Er war noch derselbe, den ich lieben gelernt hatte, als ich seine Züge durch die mühsam buchstabierte Schrift langsam entzifferte, doch auch er war in meiner Vorstellung jetzt von einer neuen eigentümlichen Empfindung eingehüllt . . .
Vor mir aber winkte dort drüben in der Ferne etwas Neues, das noch viel schöner, viel verlockender war . . .
– Ist's noch weit? Sind wir bald am Ziel?« frage ich den Kutscher immer wieder.