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Das Charakteristische der österreichischen Strafrechtspflege ist, daß sie Zweifel schafft, ob man mehr die richtige oder die falsche Anwendung des Gesetzes beklagen soll. Solange es besteht – und es wird dank der nationalen Verspieltheit unserer Gesetzgeber noch lange bestehen, – wird man nicht wissen, ob die falsche Auffassung eines brauchbaren Paragraphen oder die richtige eines unbrauchbaren weher tut.
Ein Dienstmädchen fordert seinen Geliebten auf, in die Wohnung der Quartiergeberin zu kommen, weil es mit ihm zu sprechen habe. Der Mann folgt der Aufforderung und empfängt von der Geliebten heftige Vorwürfe, daß er zur Erhaltung ihres Kindes nichts beitrage. Sie sehe nun wieder der Entbindung entgegen, er solle seiner Verpflichtung als Vater wenigstens so weit nachkommen, daß er Geld auf Wäsche für das zu erwartende Kind hergebe. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, in dessen Verlauf das verzweifelte Mädchen die Tür absperrt. In dem Raufhandel, der sich hierauf entspinnt und einige Minuten währt, gelingt es dem Mann, dem Mädchen den Schlüssel zu entreißen. Er verläßt das Zimmer und erstattet die Anzeige wegen »Einschränkung der persönlichen Freiheit«. Die Schwangere wird von einem Erkenntnissenat zu einem Monat Kerker verurteilt. Eine wie kleine Erkenntnis genügt doch zur Schöpfung eines so großen Erkenntnisses! Aber dem Gesetz wird es gerecht. Das schwache Mädchen hat wirklich die Freiheit des Gentlemans eingeschränkt, und es mag Richter geben, die die Strafe mit Rücksicht auf das gesetzliche Maß »von sechs Monaten bis zu einem Jahr« glimpflich nennen. Ich weiß nicht, wie tief bei Berücksichtigung mildernder Gründe der Strafsatz reduziert werden kann, aber man hat die Empfindung, daß, da nun schon einmal die »Merkmale« eines törichten Gesetzes gegeben waren, die Verurteilung zu ebensovielen Stunden genügt hätte, als die Festhaltung des Alimentenverweigerers Minuten gedauert hat.
Der Vorsitzende jenes Erkenntnissenates ist zufällig ein hervorragendes Mitglied des Tierschutzvereins. Aber weder aus dieser Eigenschaft noch aus dem Urteil, durch das er eine Verzweifelte zur Verbrecherin gemacht hat, braucht man die Vermutung abzuleiten, daß er sich auf Menschenschutz nicht verstehe. Ist er so gewissenhaft, sich nach dem Wortlaut eines Paragraphen zu richten, den ein Gerechter übertreten hat, so ist er darum nicht weniger imstande, den Sinn eines andern zu verachten, gegen den sich ein Sünder vergangen hat.
›Schwarze Zeitung‹ – diesen ominösen Titel führte ein Blatt, ausschließlich zu dem saubern Zweck gegründet, die Forderungen von Gläubigern einzutreiben und durch Publikationen säumige Schuldner »anzuspornen« oder zu brandmarken. Ein Brief, in dem der Herausgeber die Bezahlung des einer Firma geschuldeten Betrages »binnen acht Tagen« unter Androhung der Publikation in der ›Schwarzen Zeitung‹ und anderen Blättern verlangte, bewog die Wiener Staatsanwaltschaft, die Anklage wegen Erpressung zu erheben. Der Angeklagte verteidigte sich, da sich überdies die Unrechtmäßigkeit der Forderung herausgestellt hatte, mit dem Beteuern, er habe »nur in der Überzeugung von ihrer rechtlichen Begründung den Brief abgehen lassen«. Mit Recht – und offenbar unter dem Eindruck der kurz zuvor in der ›Fackel‹ veröffentlichten Klarlegung des Begriffes »Erpressung« – erklärte der Staatsanwalt, daß, selbst wenn die Verantwortung des Angeklagten glaubhaft wäre, »nicht zugegeben werden könne, daß das Begehren einer rechtlichen Leistung, respektive der subjektive Glaube an diese, den Tatbestand der Erpressung ausschließt. Aus dem Gesetze sei nirgends zu ersehen, daß zur Erpressung die Rechtswidrigkeit der Leistung gehöre«. Den Gerichtshof rührte die Einwendung des Angeklagten, daß er, wenn die Forderung eingegangen wäre, bloß eine Provision von 3 Kronen erhalten hätte: »um diesen Betrag hätte er gewiß nicht seine und seiner Familie Existenz aufs Spiel gesetzt«. Aber seine und seiner Familie Existenz sichern die tausendmal 3 Kronen, die das Handwerk in einem Jahr einbringt, und ich weiß nicht, ob einen Bravo die Beteuerung exkulpieren wird, daß er für die Übernahme eines Totschlags nur ein kleines Trinkgeld erhalten habe. Der Gerichtshof aber begründete den Freispruch in jenem typischen Fall von journalistischer Erpressung anders: nach den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes sei Erpressung nicht vorhanden, wenn ein Recht auf die Leistung, beziehungsweise der Glaube an die Rechtmäßigkeit der Forderung vorliege. Aber auch als eine gefährliche Drohung könne die Tat nicht qualifiziert werden, weil es sich um die Erzwingung einer Leistung gehandelt habe, was bei der gefährlichen Drohung, die eine unbedingte sei, nicht zutreffe ... Das »Recht auf die Leistung« hebt den Tatbestand der Erpressung, aber nicht den Tatbestand der Einschränkung der persönlichen Freiheit auf. Hätte die schwangere Angeklagte ein Fläschchen Vitriol in der Hand gehalten, als sie die Zahlung der Alimente verlangte, wäre sie straflos ausgegangen. Da sie den Schlüssel umdrehte, war sie schuldig. Schon einmal schob ich einem Senat, welcher einen Gläubiger, der körperliche Bedrohung angewendet hatte, freisprach, die heimliche Tendenz zu, die Praxis des Obersten Gerichtshofs ad absurdum zu führen. Denn es ist klar, daß die »gefährliche Drohung« eine unbedingte, von der Absicht der Erzwingung einer Leistung durchaus freie Drohung ist, und daß der Oberste Gerichtshof auf einem juristischen Holzweg ist, wenn er die Erpressung eines »Rechtes« willkürlich in den benachbarten Paragraphen zwängt. Aber der Oberste Gerichtshof blieb konsequent, verurteilte den damals von der Anklage wegen Erpressung Freigesprochenen »wenigstens« wegen gefährlicher Drohung, und wird dies wohl auch im vorliegenden Fall wieder tun. Denn viel monströser noch als der Kontrast zwischen der verurteilten Schwangeren, die ihr »Recht auf die Leistung« mit einem Schlüssel absperrte, und dem freigesprochenen Erpresser wäre die Perspektive, die das zweite Urteil als solches eröffnet: In Wien kann jeder, der sich mit einem Schuldschein oder einer Vollmacht ausweisen kann, den säumigen Zahler bei der Gurgel packen und ihn mit dem Revolver oder der geschwungenen Hacke zu sofortiger Begleichung verhalten. Da ein »Recht auf die Leistung« vorliegt, ist er kein Erpresser. Da die Absicht der Erzwingung einer Leistung vorliegt, ist er kein Bedroher. Er ist nichts weiter als ein etwas ungestümer Gläubiger, dessen Temperament man die Anwendung von Revolver und Hacke zugute halten muß. Nur hüte er sich, dabei grob zu werden. Sonst könnte es ihm am Ende noch passieren, daß er wegen Ehrenbeleidigung eingeht.