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Das Gericht

Aus einer und derselben Gerichtssaalrubrik:

Der 37jährige Straßenkehrer R. hatte zu dem Dienstmädchen Anna L., die im gleichen Hause wie er wohnte, eine Neigung gefaßt, fand aber keine Gelegenheit, sich ihr zu nähern. Am 28. November v. J. begab sich das Mädchen zeitlich früh in die Bügelkammer. R. schlich ihr nach, packte sie von rückwärts und versuchte sie zu küssen. Da sie sich wehrte und zu schreien begann, hielt er ihr mit der Hand den Mund zu, und zwar mit solcher Gewalt, daß sie an den Lippen leichte Verletzungen erlitt. Im Ringen fielen beide zu Boden, doch wehrte Anna L. so tapfer alle Angriffe ab, daß R. endlich von ihr abließ und aus der Bügelkammer flüchtete. Gestern hatte sich R. vor einem Erkenntnissenat wegen Einschränkung der persönlichen Freiheit zu verantworten. Der Angeklagte gab an, er habe das Mädchen nur küssen wollen; daß sie zu Boden gefallen sei, wisse er nicht, auch den Mund habe er ihr nicht zugehalten ... Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu vier Monaten schweren Kerkers.

Gegen die Gemischtwarenverschleißerin Julie G. wurde kürzlich eine anonyme Anzeige erstattet, nach welcher die Frau ihr dreijähriges Söhnchen Leopold oft in der unmenschlichsten Weise mißhandelt, und zwar stets in der Abwesenheit ihres Gatten, der Sicherheitswachmann ist. Die hierauf gepflogenen Erhebungen führten zu einer Anklage, über die gestern der Bezirksrichter zu judizieren hatte. Zwei Zeuginnen erzählten geradezu schauerliche Einzelheiten aus dem Martyrium des Kindes, das bei dem geringfügigsten Anlaß blutig geprügelt wurde. Einmal soll ihn die Angeklagte derart auf den Mund geschlagen haben, daß die Oberlippe zum Teile durchtrennt wurde, und ehe noch die Wunde verheilt war, wurde sie durch neuerliche Mißhandlungen wieder aufgerissen. Als das Kind unlängst von einer Übelkeit befallen wurde, soll die Mutter ihm das Erbrochene wieder in den Mund gestopft haben. Wenn der Kleine infolge der Züchtigungen schrie, so pflegte ihm die Frau den Kopf in einen Polster zu drücken. Der Richter verurteilte die Angeklagte zur Strafe des strengen Verweises.


»In der Nähe von jener alten Pforte mit dem bleiernen Kopfe, dem schicklichsten Zierat für die Schwelle einer alten Körperschaft mit bleiernem Kopfe, dem Temple Bar, ist der rauhe Nachmittag am rauhesten, ist der dichte Nebel am dichtesten, sind die schmutzigsten Straßen am schmutzigsten. Und dicht am Temple Bar, in Lincolns Jun-Sale, so recht eigentlich im Herzen des Nebels, sitzt seine Lordschaft der Oberkanzler in seinem Hohen Kanzleigerichtshofe. Nimmer kann dorthin Nebel zu dicht kommen, nimmer kann dorthin Schlamm und Schmutz zu tief sich lagern, wenn er zu dem Zustande unsicheren Tastens und Umherfahrens passen soll, in dem sich angesichts von Himmel und Erde dieser Hohe Kanzleigerichtshof, der giftigste grauhaarige Sünder, den es geben mag, heute befindet.

– – An einem solchen Nachmittage sollten, wie es heute der Fall ist, einige Dutzend Beisitzer des Hohen Kanzleigerichtshofes versammelt sitzen, nebelhaft vertieft in eines der zehntausend Stadien eines Prozesses ohne Ende, wobei dann einer dem andern, auf schlüpfrigen Präzedenzfällen fußend, ein Bein stellt, beide bis zu den Knien in technischen Förmlichkeiten herumtappen, mit ihren mit Ziegen- und Roßhaar wattierten Schädeln wider Wälle von Worten rennen und mit ernsten Gesichtern nach Komödien-Art so tun, als wollten sie Recht und Billigkeit gelten lassen.

– – Wie ich gestern diesen würdigen Gerichtshof mit so heiligem Ernste die Partie weiterleiern sah und bei mir dachte: wie jämmerlich es doch um die Figuren auf dem Brette bestellt sei, da taten mir Kopf und Herz zusammen bitter weh. Der Kopf schmerzte mir vom Sinnen darüber, wie es wohl gehen möchte, wenn die Menschheit weder aus Narren noch aus Schurken bestände – und das Herz tat mir weh über den Gedanken, daß die Menschen schließlich gar beides zusammen sein könnten –! – – – Einen solchen Teufelskessel, wie dies Kanzleigericht hat's auf dem Antlitz der Erde nie mehr gegeben. – Weiter nichts als eine Mine drunter an einem Tage, wenn das Gericht Sitzung hat und flott bei der Arbeit ist, wenn alle seine Protokolle, Beschlüsse und Präzedenzfälle drin aufgestapelt sind, und auch alle Beamten und Würdenträger zur Stelle sind, die zu ihm gehören, hoch und niedrig, aufwärts und abwärts, von seinem Sohne, dem Hauptrechnungsführer bis zu seinem Vater dem Teufel, weiter nichts sage ich, als eine Pulvermine von zehntausend Zentner Gehalt und in Brand gesteckt und den ganzen Plunder zu Atomen verbrannt – weiter hilft da zum allermindesten nichts zu einer Reform!«

Aus »Bleak House«, Roman von Charles Dickens


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