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Moskau. – Das Alte Marstallviertel. – Meine früheste Erinnerung. – Die Familie Krapotkin. – Mein Vater. – Meine Mutter.
Moskau ist im Verlauf seiner Geschichte ganz allmählich gewachsen, und der besondere Charakter, welcher sich den einzelnen Stadtteilen während ihrer langsamen historischen Entwicklung aufprägte, hat sich noch bis auf den heutigen Tag merkwürdig gut erhalten.
Der jenseits der Moskwa gelegene Bezirk mit seinen langweiligen breiten Straßen und seinen gleichförmigen grauangestrichenen und niedrigen Häusern, deren Tore Tag und Nacht unter sicherm Riegelverschluß bleiben, ist immer der ausschließliche Sitz des Standes der Großkaufleute gewesen und eine Hochburg der strengen, in Formalismus erstarrten, despotischen Altgläubigen. Die Stadtburg oder der Kreml ist noch das Bollwerk für Altar und Krone, und der weite Raum davor, den Tausende von Verkaufsläden und Speichern bedecken, war seit Jahrhunderten ein wimmelnder Ameisenhaufen und bildet immer noch das Herz eines gewaltigen, über den ganzen Umfang des ungeheuren Reiches hin pulsierenden Binnenhandels. Die Twerskaja und die Schmiedebrücke sind Jahrhunderte lang die Hauptstätten der feineren Handelsgeschäfte gewesen, während die Handwerkerviertel, die Plustschicha und die Dorogomilowka, in ihrer Bevölkerung noch viel von den Charakterzügen behalten haben, die dieser in den Zeiten der moskowitischen Zaren eigen waren. Jedes Stadtviertel bildet für sich eine kleine Welt, jedes hat seine eigenen Züge und lebt sein eigenes Leben. Sogar die Eisenbahnen haben sich, als sie in die alte Hauptstadt hereinbrachen, in der Peripherie der Altstadt für ihre Baulichkeiten und Maschinerien, für ihre schwerbeladenen Wagen und Lokomotiven einen eigenen, abgegrenzten Kreis geschaffen.
Doch ist von allen Teilen Moskaus wohl keiner eigenartiger als das Labyrinth von sauberen, stillen, gewundenen Straßen und Gassen, das hinter dem Kreml zwischen zwei großen strahlenförmig verlaufenden Straßen, der Arbat und der Pretschistenka, liegt und das noch heute den Namen führt: Altes Marschallviertel – ›Staraja Konjuschennaja‹.
Vor einigen fünfzig Jahren lebte hier, langsam aussterbend, der alte Moskauer Adel, dessen Namen wir auf den Blättern der russischen Geschichte vor den Zeiten Peters I. so häufig verzeichnet finden, der aber dann verschwand und den neuen ›Männern aus allen Ständen‹ Platz machte, die der Gründer des russischen Staates zum öffentlichen Dienste heranzog. Da sie sich am Petersburger Hofe überflüssig fühlten, zogen sich diese Adligen alten Schlages entweder nach Moskau in das Alte Marschallviertel oder auf ihre malerischen Landgüter unfern der Hauptstadt zurück und blickten mit einem aus Verachtung und geheimer Eifersucht gemischten Gefühl auf die etwas buntscheckige Gesellschaft, die, ›wer weiß woher‹ stammend, in der neuen Reichshauptstadt an den Ufern der Newa die höchsten Staatsämter in Besitz hatte.
In ihren jüngeren Jahren hatten die meisten von ihnen ihr Glück im Staatsdienste, vornehmlich im Heere, versucht, doch aus einem oder dem andern Grunde waren sie bald ausgetreten, ohne es weit gebracht zu haben. Einige fanden in der Stadt ihrer Ahnen einen ruhigen Ehrenposten – zu diesen gehörte auch mein Vater, – die anderen quittierten einfach den aktiven Dienst. Aber wohin sie auch im weiten russischen Reiche ihre amtliche Laufbahn verschlagen mochte, immer war es ihr letztes Ziel, ihr Alter im eigenen Hause im Alten Marschallviertel zu verleben, im Schatten der Kirche, wo sie getauft und wo beim Begräbnis ihrer Eltern die letzten Gebete gesprochen waren.
Aus den alten Stämmen sproßten frische Reiser und Kräfte, von denen sich manche in verschiedenen Teilen Rußlands rühmlich auszeichneten; andere erwarben prächtigere, modernere Häuser in einer anderen Gegend Moskaus oder in Petersburg. Aber der bodenständige Zweig, der im Alten Marschallviertel, unweit der grünen, gelben, rosa oder braunen durch die Familientradition so teuren Kirche wohnen blieb, galt als der wahre Stammhalter der Familie, ganz gleich, welche Stellung ihm eigentlich im Familienverbande zukam. Dem altväterischen Haupte dieser Moskauer Linie traten selbst solche jüngeren Vertreter desselben Geschlechtes, die ihre Vaterstadt verlassen und eine glänzendere Laufbahn in der Garde oder in Hofkreisen angetreten hatten, mit großer – vielleicht ein wenig mit Ironie gefärbter – Ehrerbietung entgegen. Denn in ihm verkörperten sich das Alter und die Überlieferungen der Familie.
In diesen stillen Straßen, die weit ab lagen vom Lärm und Getümmel der geschäftigen Stadt, sahen sich die Häuser sämtlich auffallend gleich. Sie waren meist von Holz und hatten glänzende grüne Dächer aus dünnen Eisenplatten; die Außenseiten wiesen Stuckverzierungen auf und waren mit Säulen und Portikus geschmückt; alle aber leuchteten in lebhaften Farben. Fast sämtliche Gebäude hatten nur ein Stockwerk und sieben oder neun große freundlich aussehende Fenster nach der Straße zu. Ein zweiter Stock fand sich nur über dem hinteren Teile des Hauses. Dieser schaute auf einen geräumigen Hof, den zahlreiche, kleinere als Küchen, Ställe, Keller, Schuppen, sowie als Wohnungen für Tagelöhner und Dienstboten dienende Baulichkeiten einfaßten. Ein weites Tor führte auf diesen Hof und trug gewöhnlich ein Messingschild mit der Inschrift ›Haus des So und So, Leutnant oder Oberst und Ritter‹; sehr selten las man ›Generalmajor‹ oder einen entsprechend hohen Ziviltitel. Wo sich aber in einer dieser Straßen ein prächtiges Haus mit schönem, vergoldeten Eisengitter und eisernem Tore fand, da konnte man sicher sein, auf dem Messingschild zu lesen ›Handelskonsul‹ oder ›Der Ehrenwerte Bürger So und So‹. Dies waren Eindringlinge, die sich ungeladen in diesem Viertel niedergelassen hatten und darum auch von ihren Nachbarn ignoriert wurden.
Geschäftsläden waren in diesen vornehmen Straßen nicht gestattet, höchstens fand sich in einem kleinen zur Kirche gehörigen Holzhause ein unbedeutender Kauf- oder Grünkramladen. Dann hatte gewöhnlich ein Polizist sein Wohn- und Wachthäuschen an der gegenüberliegenden Ecke; tagsüber zeigte er sich, mit einer Hellebarde bewaffnet, an der Tür und grüßte mit seiner harmlosen Waffe die vorüberschreitenden Offiziere; wenn aber die Dämmerung kam, zog er sich ins Innere zurück, um dort dem Schuhflicken obzuliegen oder einen besonderen bei den älteren Dienstboten der Umgegend beliebten Schnupftabak herzustellen.
Ruhig und friedlich verlief, wenigstens dem äußeren Anscheine nach, das Leben in diesem Moskauer Faubourg St. Germain. Morgens war kein Mensch auf den Straßen zu sehen. Um Mittag erschienen die Kinder, um unter der Obhut französischer Hauslehrer oder deutscher Kinderfrauen auf den schneebedeckten Promenaden spazieren zu gehen. Später am Tage ließen sich die Damen in zweispännigen Schlitten sehen, die mit einem kleinen, hinter den Läufern befestigten Brette, dem Stand des begleitenden Dieners, versehen waren; oder sie saßen ganz verborgen in der Tiefe eines altertümlichen, ungeheuren und hohen, auf mächtigen, geschweiften Federn ruhenden, vierspännigen Wagens, mit einem Postillon auf dem ersten Sattelpferd, während zwei Diener hinten standen. Am Abend waren die meisten Häuser glänzend erleuchtet, und da man die Läden nicht niederließ, konnte man von der Straße aus in den Prunkzimmern Karten spielen oder Walzer tanzen sehen. Politische Ansichten gab es in jenen Tagen kaum, und noch fern waren die Jahre, wo in jedem dieser Häuser ein Kampf zwischen ›Vätern und Söhnen‹ begann, ein Kampf, der gewöhnlich entweder durch eine Familientragödie oder mit einem nächtlichen Besuche der Geheimpolizei seinen Abschluß fand. Vor fünfzig Jahren dachte man an dergleichen nicht; alles war ruhig und glatt – wenigstens an der Oberfläche.
In diesem Alten Marschallviertel bin ich im Jahre 1842 geboren, und hier vergingen die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens. Auch als unser Vater das Haus, in dem meine Mutter starb, verkauft und ein anderes erstanden hatte, und als er dieses wieder veräußerte und wir verschiedene Winter in gemieteten Häusern verlebten, bis er ein drittes, seinem Geschmacke entsprechendes fand, das keinen Steinwurf weit von der Kirche, in der er getauft war, lag, auch da blieben wir im Alten Marschallviertel, das wir nur im Sommer mit unserm Landsitze vertauschten.
Ein hohes, geräumiges Schlafzimmer, das eine Ecke des Hauses einnahm, ein weißes Bett darin, auf dem unsere Mutter ruht, dicht daneben unsere Kinderstühle und -tische und auf den sauber gedeckten Tischen Süßigkeiten und Eingemachtes in hübschem Glasgeschirr – dies alles zu einer ungewohnten Tagesstunde, in der man uns Kinder dorthin gebracht hat, – das ist die erste, unbestimmte Erinnerung meines Lebens.
Unsere Mutter lag totkrank an der Auszehrung darnieder, als sie erst fünfunddreißig Jahre zählte. Ehe sie auf immer von uns schied, wünschte sie uns noch einmal neben sich zu haben, uns zu liebkosen, sich an unserer Freude einen Augenblick selbst zu freuen, und hatte uns darum einen kleinen Schmaus neben ihrem Lager, das sie nicht mehr verlassen konnte, bereiten lassen. Noch sehe ich ihr bleiches, schmales Gesicht, ihre großen, dunkeln Augen vor mir. Sie schaute uns liebevoll an und forderte uns auf, zu essen und zu ihr aufs Bett zu klettern; dann brach sie auf einmal in Tränen aus und fing an zu husten, und man hieß uns fortgehen.
Einige Zeit danach brachte man uns Kinder, das heißt, meinen Bruder Alexander und mich, aus dem großen Haus in ein kleines Hofgebäude. Obwohl die Aprilsonne noch mit ihren Strahlen die kleinen Zimmer füllte, sagte unsere deutsche Kinderfrau, Frau Burmann, und unser russisches Kindermädchen, Uliana, wir sollten zu Bett gehen. Mit tränenüberströmten Gesichtern nähten sie uns schwarze mit breiten weißen Fransen umsäumte Kittelchen. Wir konnten nicht schlafen. Das Unbekannte erschreckte uns, und wir horchten auf die Reden, die beide Frauen in gedämpftem Tone miteinander führten. Sie sagten etwas von unserer Mutter, das wir nicht verstanden. Da sprangen wir aus unsern Betten und fragten: »Wo ist Mama? Wo ist Mama?«
Doch sie fingen nur an, herzbrechend zu seufzen, streichelten unser lockiges Haar und nannten uns ›arme Waisen‹, bis Uliana nicht länger an sich halten konnte und sagte: »Eure Mutter ist dorthin gegangen – in den Himmel, zu den Engeln.«
»Wie in den Himmel? Warum?« fragte unsere kindliche Einbildungskraft, ohne eine Antwort zu erhalten.
Dies war im April 1846. Ich war erst dreieinhalb Jahre alt und mein Bruder Sascha noch nicht fünf, wo unsere älteren Geschwister, Nikolaus und Helene, waren, weiß ich nicht; vielleicht befanden sie sich schon außer dem Hause in Schulanstalten. Nikolaus zählte zwölf und Helene elf Jahre; sie hielten zusammen, und wir kannten sie nur sehr wenig. So blieben wir, Alexander und ich, in dem kleinen Hause und in den Händen Frau Burmanns und Ulianas. Die gute alte Deutsche, die heimatlos und völlig allein in der weiten Welt stand, suchte uns nach ihrer Weise die Mutter zu ersetzen. Sie zog uns auf, so gut sie konnte, kaufte uns von Zeit zu Zeit eine Kleinigkeit als Spielzeug und stopfte uns mit Gewürzküchlein voll, so oft ein anderer alter Deutscher, der mit diesen Leckerbissen handelte und der wahrscheinlich ebenso heimatlos und verlassen wie Frau Burmann selbst war, in unser Haus kam. Unsern Vater sahen wir selten, und im übrigen gingen die beiden nächsten Jahre dahin, ohne einen dauernden Eindruck in meinem Gedächtnis zu hinterlassen.
Unser Vater war auf die Herkunft seiner Familie sehr stolz und wies mit großem Selbstgefühl auf eine Pergamentrolle, die in seinem Studierzimmer an der Wand hing. Es prangte darauf unser Wappen – das Wappen des Fürstentums Smolensk mit dem Hermelinmantel darüber und der Monomachenkrone – und die vom heraldischen Amte beglaubigte Erklärung, daß unsere Familie von einem Enkel Rostislaw Mistislawitschs des Kühnen (eines alten, auf den Blättern der russischen Geschichte vielgenannten Großfürsten von Kiew) abstammte, und daß unsere Vorfahren Großfürsten von Smolensk gewesen wären.
»Dreihundert Rubel hat mich dieses Pergament gekostet,« pflegte unser Vater dabei zu sagen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen war er mit der russischen Geschichte wenig vertraut, weshalb er den Wert der Rolle mehr nach ihrem Preise als nach ihrer historischen Bedeutung bemaß.
Tatsächlich ist unsere Familie wohl von sehr altem Ursprung, sie trat aber wie die meisten Abkömmlinge Ruriks, die man als Vertreter der Feudalzeit in der russischen Geschichte betrachten kann, in den Hintergrund, als jene Zeit zu Ende ging und die Romanows, in Moskau auf den Thron erhoben, den russischen Staat zusammenzuschmieden begannen. In neuerer Zeit scheint kein Krapotkin eine besondere Neigung zum Staatsdienst besessen zu haben. Unser Urgroßvater wie unser Großvater zogen sich schon als ganz junge Männer vom Kriegsdienst zurück und begaben sich schleunigst auf ihre Familienbesitzungen. Übrigens war, wie hier bemerkt werden muß, ihre Hauptbesitzung, Urusowo, die im Gouvernement Rjäsan auf einem beträchtlichen Hügel an der Grenze fruchtbarer Ebenen lag, mit ihren schattigen Wäldern, ihren munteren Flüssen und ihren endlosen Wiesen wohl für jeden verführerisch genug. Unser Großvater war erst Leutnant, als er aus dem Dienst trat und nach Urusowo ging, um sich ganz der Verwaltung dieses Gutes zu widmen und seinen Besitz durch den Ankauf weiterer Güter in der Umgegend zu vergrößern.
Wahrscheinlich würde unsere Generation ebenso gehandelt haben, hätte unser Großvater nicht eine Fürstin Gagarin geheiratet, deren Familie von ganz anderem Schlage war. Ihr Bruder war allgemein als leidenschaftlicher Freund der Bühne bekannt. Er hielt sich ein eigenes Theater und ließ sich von seiner Neigung so weit hinreißen, daß er, zum Ärgernis seiner ganzen Verwandtschaft, eine Leibeigene zur Frau nahm – die geniale Schauspielerin Semjonowa, eine der Gründerinnen der mimischen Kunst in Rußland, die zweifellos zu ihren ansprechendsten Vertreterinnen gehört. ›Ganz Moskau‹ schauderte, als sie auch nach ihrer Verheiratung noch auf der Bühne auftrat.
Ob unsere Großmutter denselben künstlerischen und literarischen Neigungen huldigte wie ihr Bruder, kann ich nicht sagen; soweit meine Erinnerung an ihre Person zurückreicht, war sie schon gelähmt und vermochte nur noch im Flüsterton zu sprechen. Doch so viel ist gewiß, daß literarische Neigungen in der nächsten Generation für unsere Familie charakteristisch wurden. Einer von den Söhnen der Fürstin Gagarin zählt zu den russischen Dichtern zweiten Ranges und verfaßte einen Band Gedichte, eine Tatsache, deren sich mein Vater schämte und die er immer zu verheimlichen suchte, und in unserer eigenen Generation haben sowohl mehrere von unsern Vettern wie auch mein Bruder und ich selbst mehr oder minder zur Literatur unserer Zeit beigesteuert.
Unser Vater war der Typus eines Soldaten in der Periode Nikolaus' I. Nicht als ob er von kriegerischem Geist erfüllt gewesen wäre und das Lagerleben so sehr geliebt hätte; ich bezweifle sogar, daß er nur eine einzige Nacht seines Lebens am Beiwachtfeuer verbrachte oder auch nur einmal an einer Schlacht teilnahm. Aber unter Nikolaus I. war dies ganz nebensächlich. Als echter Krieger galt der Offizier, der in seine Uniform verliebt war und auf jede andere Kleidung nur mit Verachtung blickte, dessen Soldaten auf nahezu übermenschliche Kunststücke mit ihren Beinen und ihren Gewehren eingedrillt waren – den Flintenkolben beim ›Präsentieren des Gewehres‹ zu zerbrechen, war eines dieser berühmten Kunststücke –, und der bei der Parade seine Soldaten in so gleichmäßigen und starren Reihen vorführen konnte, als wären sie von Blei. »Sehr gut,« sagte der Großfürst Michael einmal von einem Regiment, nachdem er es eine ganze Stunde lang hatte das Gewehr präsentieren lassen, »sehr gut, aber sie atmen!« Sicher war es meines Vaters Ideal, der damals herrschenden Vorstellung von einem echten Militär zu entsprechen.
Allerdings nahm er an dem türkischen Feldzuge von 1828 teil, aber es gelang ihm, während der ganzen Zeit dem Stabe des Höchstkommandierenden zugeteilt zu bleiben; und wenn wir Kinder uns seine ausnahmsweise gute Laune zu nutze machten und ihn baten, uns etwas vom Kriege zu erzählen, so konnte er nichts zum besten geben als einen wütenden Angriff von Hunderten von türkischen Hunden, die in einer Nacht ihn und seinen treuen Diener Frol anfielen, als sie mit Depeschen durch ein verlassenes Dorf ritten. Nur mit ihren Säbeln konnten sie sich von den hungrigen Tieren frei machen. Kämpfe mit Türkenscharen würden unsere lechzende Phantasie besser gestillt haben, aber in Ermangelung von etwas Besserem waren wir auch mit den Hunden zufrieden. Wenn uns der Vater aber dann, unsern dringenden Fragen nachgebend, erzählte, wie er das Sankt-Anna-Kreuz ›für Tapferkeit‹ und den goldenen Degen, den er trug, verdient habe, so waren wir, muß ich gestehen, geradezu enttäuscht. Diese Geschichte war denn doch zu prosaisch. Die Generalstabsoffiziere lagen in einem türkischen Orte, als plötzlich Feuer ausbrach. In einem Augenblick standen die leichten Holzhäuser in Flammen, und in einem war ein Kind zurückgeblieben. Aus Mitleid mit der Mutter, die ein herzzerreißendes Geschrei hören ließ, stürzte sich Frol, der immer in der Begleitung seines Herrn war, in die Flammen und rettete das Kind, worauf der Höchstkommandierende, der Zeuge der Tat gewesen war, meinem Vater sofort das Kreuz für Tapferkeit verlieh.
»Aber Vater,« riefen wir, »Frol hat ja das Kind gerettet!«
»Was macht das?« erwiderte er sehr naiv. »War er nicht mein Leibeigener? Das ist ganz gleich.«
Auch an dem Feldzuge von 1831 während des polnischen Aufstandes nahm er teil, und dabei lernte er in Warschau die jüngste Tochter des Generals Sulima, der an der Spitze eines Armeekorps stand, kennen und verliebte sich in sie. Mit großer Pracht wurde im Lasienki-Palast die Hochzeit gefeiert, wobei der Statthalter, Graf Paskiewitsch, Trauzeuge für den Bräutigam war. »Aber eure Mutter,« äußerte unser Vater gelegentlich, »brachte mir keine Mitgift an Grundeigentum und Leibeigenen ins Haus.«
Das war richtig. Ihr Vater, Nikolaus Semjonowitsch Sulima, hatte nicht die Kunst gelernt, Karriere zu machen oder ein Vermögen zu erwerben. In seinen Adern rollte wohl zu viel von dem Blute der Dnjepr-Kosaken, die es besser verstanden, die stattlichen, kriegerischen Polen oder Türkenheere, dreimal zahlreicher als sie selbst, in die Flucht zu schlagen, als den Fallstricken der Moskauer Diplomatie zu entgehen, und die nach ihrem tapferen Kampfe gegen die Polen in dem furchtbaren Aufstand von 1648, dem Anfang vom Ende der polnischen Republik, unter die Herrschaft der russischen Zaren gerieten und damit alle ihre Freiheiten verloren. Ein Sulima wurde von den Polen gefangen genommen und bei Warschau zu Tode gefoltert, aber die anderen Hauptleute aus demselben Geschlecht kämpften darum nur um so hitziger, und Klein-Rußland ging für Polen verloren.
Von unserm Großvater ist noch zu berichten, daß er sich während Napoleons I. Invasion an der Spitze seines Kürassier-Regiments in ein von Bajonetten starrendes Karree französischer Infanterie einhieb und, nachdem er für tot auf dem Schlachtfelde geblieben war, später von seiner tiefen Kopfschnittwunde wieder genas. Er brachte es aber niemals fertig, den Diener des Günstlings Alexanders I., des allmächtigen Araktschejew, zu spielen, und wurde daher gewissermaßen in ehrenvolle Verbannung geschickt und zwar zuerst als Statthalter nach Westsibirien und später nach Ostsibirien. Damals galt eine solche Stellung für gewinnbringender als eine Goldmine, aber unser Großvater kam ebenso arm von Sibirien zurück, wie er dorthin gegangen war, und hinterließ seinen drei Söhnen und drei Töchtern nur ein bescheidenes Erbteil. Als ich im Jahre 1862 nach Sibirien kam, hörte ich seinen Namen oft mit Hochachtung nennen. Der in jenen Provinzen übliche Diebstahl im großen, den er auf keine Weise verhindern konnte, brachte ihn zur Verzweiflung.
Unsere Mutter war für ihre Zeit zweifellos eine sehr bemerkenswerte Frau, viele Jahre nach ihrem Tode fand ich im Winkel eines Vorratszimmers in unserem Landhause eine Menge von Papieren, die mit ihrer festen, aber hübschen Handschrift bedeckt waren. Es waren Tagebücher, in denen sie mit Entzücken deutsche Landschaften beschrieb, oder auch ihrem Kummer und ihrem Verlangen nach Glück Ausdruck gab, und Hefte mit Abschriften polizeilich verbotener russischer Gedichte, darunter die schönen historischen Balladen Rylejews, des Dichters, den Nikolaus I. 1826 hängen ließ; andere Bücher enthielten Musikstücke, französische Dramen, Verse von Lamartine und Byrons Gedichte, alles von ihrer Hand kopiert; endlich fand sich dabei noch eine große Zahl von Aquarellmalereien.
Von hoher, schlanker Gestalt, im üppigen Schmucke kastanienbraunen Haares, mit ihren dunkelbraunen Augen und dem kleinen Munde steht sie uns wie leibhaftig in einem Gemälde gegenüber, das von einem tüchtigen Künstler offenbar con amore gemalt wurde. Immer voll Leben und leicht sich der Sorge entschlagend, liebte sie den Tanz sehr, und die Bauernfrauen in unserm Dorfe erzählten uns, wie sie oft vom Balkon ihren Ringtänzen – den langsamen, anmutreichen russischen Volkstänzen – zuschaute, bis es sie hinunterzog und sie sich selbst in ihre Reihen mischte. Sie besaß eine Künstlernatur. – Auf einem Balle zog sie sich eine Erkältung zu, an die sich dann eine tödliche Lungenentzündung schloß.
Von allen, die sie kannten, wurde sie geliebt, und die Dienerschaft hielt ihr Andenken heilig. Um ihretwillen sorgte sich Frau Burmann um uns, und um ihretwillen schenkte uns die russische Kinderfrau ihre Liebe. Oft, wenn Uliana uns kämmte oder über uns, nachdem wir zu Bett gegangen waren, das Zeichen des Kreuzes machte, sagte sie: »Und eure Mama muß nun vom Himmel auf euch niederschauen und bei eurem Anblick Tränen vergießen, arme Waisen.« Ihr Andenken ließ auf unsere ganze Kindheit einen lichten Schein fallen. Wie oft berührte Alexander oder mich in einem dunklen Gange liebkosend die Hand eines Dienstboten! Oder es sagte eine Bauernfrau, die wir draußen trafen: »Werdet ihr so gut sein, wie eure Mutter war? Sie war barmherzig und hatte Mitleid mit uns. Sicher werdet ihr ihr gleich werden.« Unter ›uns‹ waren natürlich die Leibeigenen zu verstehen. Was hätte aus uns werden sollen, wenn wir nicht bei der leibeigenen Dienerschaft in unserm Hause die Atmosphäre von Liebe, die Kinder um sich haben müssen, gefunden hätten? Wir waren ihre Kinder, wir sahen ihr ähnlich, und darum schenkten uns die Leibeigenen in so reichem Maße ihre Fürsorge, und das, wie sich noch zeigen wird, manchmal in rührender Weise.
Manche Menschen verzehrt der leidenschaftliche Wunsch, nach dem Tode fortzuleben, aber oft geht ihr Leben dahin, ohne daß sie erkennen, daß das Andenken eines wahrhaft guten Menschen niemals vergeht. Es prägt sich dem nächsten Geschlecht ein und wird von ihm dem folgenden übermittelt. Ist das keine Unsterblichkeit, die unseres Strebens wert wäre?
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