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Siebentes Kapitel.

Der Unterricht im Pagenkorps. – Studium des Deutschen. – Russische Grammatik und Literatur. – Verhältnis zu den Lehrern im Schreiben und Zeichnen. – Eine ›Benefizvorstellung‹.

 

Ganz Rußland beschäftigte sich damals mit Unterrichtsfragen. Sobald der Friede zu Paris geschlossen war, und die Strenge der Zensur ein wenig nachgelassen hatte, trat das Interesse für Erziehung und Unterricht in den Vordergrund. Die Unwissenheit der großen Masse des Volkes, die Hindernisse, die sich bisher den Lernbegierigen in den Weg gestellt hatten, der Mangel an Schulen auf dem Lande, die veralteten Lehrmethoden und die Abhilfe aller dieser Mißstände wurden beliebte Gegenstände der Erörterung in gebildeten Kreisen, in der Presse und sogar in der aristokratischen Gesellschaft. Die erste höhere Schule für Mädchen wurde 1857 nach einem vorzüglichen Plan und mit einem ausgezeichneten Stabe von Lehrkräften eröffnet. Wie durch Zauber tauchten zahlreiche Männer und Frauen auf, die nicht nur ihr Leben dem Unterricht gewidmet, sondern sich als hervorragende praktische Pädagogen bewiesen haben; in der Literatur jedes Kulturvolkes würden ihre Schriften einen Ehrenplatz einnehmen, wenn sie außerhalb Rußlands bekannt geworden wären.

Auch das Pagenkorps empfand diesen neubelebenden Hauch. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, herrschte in den drei unteren Klassen allgemein das Streben, etwas zu lernen. Das Haupt der Unterrichtsabteilung, der Inspektor Winkler, ein hochgebildeter Artillerie-Oberst, guter Mathematiker und fortschrittlich gesinnter Mann, regte den Eifer noch durch einen vorzüglichen Plan an. Statt der unbedeutenden Lehrer, die bisher in den unteren Klassen zu unterrichten hatten, suchte er die besten heranzuziehen. Nach seiner Meinung war kein Professor zu gut, die jüngsten Schüler in den Anfangsgründen eines Lehrfaches zu unterrichten. So ließ er in der vierten Klasse die Elemente der Algebra von einem Mathematiker ersten Ranges und einem geborenen Pädagogen, dem Hauptmann Suchonin, lehren, und die Klasse leistete sofort Tüchtiges in Mathematik. Nebenbei bemerkt, traf es sich, daß dieser Hauptmann zum Lehrer des Thronerben (Nikolai Alexandrowitsch, der im Alter von zweiundzwanzig Jahren starb) ernannt wurde. Der vermutliche Thronerbe kam einmal wöchentlich ins Pagenkorps, um den Algebrastunden unseres Hauptmanns beizuwohnen. Die Kaiserin Marie Alexandrowna, eine gebildete Frau, dachte, die Berührung mit strebsamen Knaben würde vielleicht den Lerneifer ihres Sohnes anfachen. Er saß unter uns und hatte dieselben Fragen wie wir zu beantworten. Doch gewöhnlich beschäftigte er sich, während der Lehrer sprach, damit, Zeichnungen zu machen, die übrigens nicht übel waren, oder seinen Nachbarn allerhand Dummheiten ins Ohr zu flüstern. Er war gutmütig und sehr höflich, aber im Lernen oberflächlich und noch mehr in seinen Neigungen.

Für die fünfte Klasse gewann der Inspektor zwei bedeutende Männer. Eines Tages trat er ganz strahlend in unser Klassenzimmer und sagte, es stünde uns ein großes Glück bevor. Professor Klasowski, ein hervorragender Gelehrter und Kenner der russischen Literatur, habe eingewilligt, den Unterricht in russischer Grammatik zu übernehmen, und zwar würden wir ihn durch alle fünf Klassen als Lehrer haben, indem er jedes Jahr eine höhere Klasse übernehmen werde. Ein anderer Universitätsprofessor, Herr Becker, Bibliothekar der kaiserlichen (nationalen) Bücherei, hatte dasselbe für die deutsche Sprache übernommen. Professor Klasowskis Gesundheit, fügte er hinzu, wäre in diesem Winter etwas angegriffen, aber er, der Inspektor, sei überzeugt, wir würden uns während des Unterrichts durchaus ruhig verhalten. Die gute Gelegenheit, einen solchen Lehrer zu haben, dürfe man nicht vorüberlassen.

Er hatte sich in uns nicht geirrt. Wir waren sehr stolz darauf, Universitätsprofessoren zu Lehrern zu haben, und obwohl aus Kamtschatka (in Rußland führen die letzten Klassenbänke den Namen jener entfernten und unkultivierten Halbinsel) Stimmen laut wurden, man müsse den ›Wurstmacher‹ – d. h. den Deutschen – auf jede Weise herunterducken, so war doch die allgemeine Stimme in unserer Klasse entschieden zu Gunsten der Professoren.

Der ›Wurstmacher‹ gewann unsere Achtung sofort. Ein hochgewachsener Mann mit einer gewaltigen Stirn und sehr freundlichen, klugen Augen, aus denen auch einiger Humor schaute, kam in unser Zimmer und erklärte uns in ganz gutem Russisch, er beabsichtige, unsere Klasse in drei Abteilungen zu zerlegen. Die erste Abteilung würde aus Deutschen bestehen, die der Sprache schon mächtig wären und an die er höhere Ansprüche stellen würde; die zweite Abteilung würde er Grammatik und später deutsche Literatur im Anschluß an den Studienplan lehren; und die dritte Abteilung, schloß er mit einem gewinnenden Lächeln, würde die Kamtschatka sein, »Von Ihnen,« sagte er, »werde ich nur verlangen, daß Sie in jeder Stunde vier Zeilen abschreiben, die ich für Sie aus einem Buche auswählen werde. Sind die vier Zeilen geschrieben, so können Sie tun, was Sie wollen, nur dürfen Sie die andern nicht stören. Und ich verspreche Ihnen, Sie werden in den fünf Jahren etwas von der deutschen Sprache und Literatur lernen. Nun, wer tritt der ersten Gruppe bei? Sie, Stackelberg? Sie, Lamsdorf? Vielleicht auch einer von den Russen? Und wer will zur Kamtschatka gehören?« Fünf oder sechs, die kein Wort Deutsch konnten, ließen sich auf der Halbinsel nieder. Sie schrieben höchst gewissenhaft ihre vier Zeilen – in den höheren Klassen ein bis zwei Dutzend – und Becker wählte die Stücke so gut aus und schenkte den Knaben so viel Aufmerksamkeit, daß sie nach Verlauf der fünf Jahre wirklich mit der Sprache und der Literatur etwas vertraut geworden waren.

Ich trat den Deutschen bei. Mein Bruder Alexander drang in seinen Briefen so sehr darauf, daß ich die deutsche Sprache, die eine so reiche Literatur besitze, und in die jedes wertvolle Buch übersetzt sei, mir aneignen sollte, daß ich mir ihre Erlernung fleißig angelegen sein ließ. Ich übersetzte und studierte aufs genaueste eine Seite einer ziemlich schwierigen poetischen Beschreibung eines Gewitters, ich lernte nach dem Rate des Professors die Konjugationen, die Adverbien und die Präpositionen auswendig und fing an zu lesen. Es ist das eine sehr gute Methode, Sprachen zu lernen. Becker riet mir außerdem, eine billige illustrierte Wochenschrift zu halten, und die Bilder und kurzen Geschichten lockten beständig, ein paar Zeilen oder eine Spalte zu lesen. Bald war ich der Sprache Herr.

Gegen Ende des Winters bat ich Herrn Becker, mir Goethes Faust zu leihen. Ich hatte ihn in einer russischen Übersetzung gelesen; ich kannte auch Turgenjews schöne Novelle Faust, und nun verlangte es mich, das große Werk in der Ursprache zu lesen. »Sie werden nichts davon verstehen, es ist zu philosophisch,« sagte Becker mit freundlichem Lächeln, doch brachte er mir trotzdem ein kleines Buch in Quartformat mit vor Alter vergilbten Blättern, das das unsterbliche Drama enthielt. Er ahnte kaum die unermeßliche Freude, die mir das kleine Quartbuch gewährte. Ich sog den Sinn und den Wohlklang jeder Zeile in mich gleich von den ersten Reihen der ideal schönen Zueignung an, und bald wußte ich ganze Seiten auswendig. Fausts Monolog im Walde und besonders die Worte, in denen er von seinem Verständnis der Natur spricht:

»Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen«

versetzten mich einfach in einen Zustand der Begeisterung, und dieser gewaltige Eindruck ist auch jetzt noch nicht erloschen. Jede Zeile wurde nach und nach ein teurer Freund. Und dann, gibt es ein größeres ästhetisches Entzücken als Dichtungen in einer Sprache zu lesen, die man noch nicht völlig inne hat? Über dem Ganzen ruht verschleiernd ein leichter Nebel, der der Poesie so wohl zu Gesichte steht. Wörter, deren triviale Bedeutungen, wenn man die Sprache in ihrem Alltagsrocke kennt, manchmal das dichterische Bild, das sie hervorrufen sollen, stören, behalten ihren feinen, erhabenen Sinn, während die Musik der Poesie nur um so mächtiger im Ohre tönt.

 

Professor Klasowskis erste Stunde war eine Offenbarung für uns. Er war ein kleiner, etwa fünfzigjähriger sehr beweglicher Mann mit hellen, klugen Augen, etwas sarkastischem Gesichtsausdruck und einer hohen Dichterstirn. Als er zum erstenmal in die Klasse trat, sagte er mit leiser Stimme, er könne infolge andauernder Kränklichkeit nicht laut sprechen und ersuchte uns darum, sich näher zu ihm zu setzen. Er stellte seinen Stuhl dicht zur ersten Sitzreihe, und wir sammelten uns um ihn wie ein Bienenschwarm um die Königin.

Sein Lehrfach war russische Grammatik, aber anstatt der langweiligen Sprachlehre bekamen wir etwas ganz anderes zu hören, als wir erwartet hatten. Freilich war es Grammatik, aber bald verglich er einen altertümlichen russischen Volksausdruck mit einer Zeile von Homer oder aus dem indischen Mahafharata, deren Schönheit er uns durch Übertragung ins Russische klar machte, bald schob er eine Zeile von Schiller ein und knüpfte daran eine sarkastische Bemerkung über irgend ein Vorurteil der modernen Gesellschaft; dann kam wieder ein gediegenes Stück Grammatik, und hierauf folgte eine allgemeine poetische oder philosophische Wahrheit.

Natürlich lief da vieles mit unter, das wir nicht oder nur oberflächlich verstanden. Aber liegt nicht gerade darin die zauberhafte Anziehungskraft aller Studien, daß sie uns beständig neue, ungeahnte und noch unverstandene Gesichtskreise eröffnen, die uns immer weiter vorwärts locken und uns reizen, das voll zu erreichen und zu durchdringen, was zuerst nur in unbestimmten Umrissen unserm geistigen Auge sich darbietet? Mit glänzenden Augen hingen wir alle an den Lippen des Lehrers, während wir dabei die verschiedensten, zum Teil absonderlichen Stellungen einnahmen: hier stand ein Paar, das sich gegenseitig die Hände auf die Schultern legte, dort lehnten sich einige quer über die Tische der ersten Reihe, andere wieder standen hinter Klasowski. Als seine Stimme gegen das Ende der Stunde schwächer wurde, lauschten wir nur um so atemloser. Der Inspektor öffnete die Tür unseres Klassenzimmers, um zu sehen, wie wir uns gegen unsern Lehrer betrügen; als er uns aber so regungslos zusammengedrängt sah, zog er sich auf den Zehen zurück. Sogar Daurow, ein unruhiger Geist, starrte Klasowski an, als wollte er sagen: »Solch ein Mann bist du!« und selbst von Kleinau, ein hoffnungslos stumpfsinniger Tscherkesse mit deutschem Namen, saß da, ohne sich zu rühren. Bei den meisten andern wallte im Grunde ihres Herzens etwas Gutes und Edles auf, als öffnete sich vor ihren Augen die Aussicht auf eine ungeahnte Welt. Auf mich übte Klasowski einen ungeheuren Einfluß aus, der mit den Jahren nur noch wuchs. Winklers Prophezeiung, ich würde trotz allem die Schule noch lieben lernen, war in Erfüllung gegangen.

Im westlichen Europa und wohl auch in Amerika scheint dieser Lehrertypus nicht so allgemein bekannt zu sein, doch in Rußland gibt es keinen Mann und keine Frau von literarischer oder politischer Bedeutung, die nicht den ersten Anstoß zu höherem geistigen Fluge ihrem Lehrer der Literatur zu verdanken hätte. Jede Schule in der Welt sollte einen solchen Lehrer haben. Jeder Lehrer in der Schule hat seinen besonderen Lehrgegenstand, und kein Band verknüpft die verschiedenen Stoffgruppen. Nur der Lehrer der Literatur, der wohl den allgemeinen Rahmen des Lehrplans innehalten muß, aber in der Art der Behandlung freie Hand hat, kann die verschiedenen historischen und humanitären Wissenschaften miteinander verbinden, sie durch eine breite philosophische und allgemein menschliche Auffassung zusammenfassen und in Hirn und Herz der jungen Leute höhere Gedanken und Strebungen wach rufen. In Rußland fällt diese Aufgabe ganz natürlich dem Lehrer der russischen Literatur zu. Da er von der Entwicklung der Sprache zu sprechen hat, von dem Inhalt der frühesten epischen Poesie, von Volksliedern und Volksweisen und später von moderner Novellistik, von der wissenschaftlichen, politischen und philosophischen Literatur seines eigenen Landes und den verschiedenen ästhetischen, politischen und philosophischen Strömungen, die sich in ihr widerspiegeln, so fällt ihm auch die Aufgabe zu, seine Schüler zum Verständnis der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes zu führen, dessen Vermittlung außerhalb des Bereichs und Zieles der einzelnen Lehrfächer liegt.

Dasselbe gilt für die Naturwissenschaften. Es genügt nicht, Physik und Chemie, Astronomie und Meteorologie, Zoologie und Botanik zu lehren. Man muß den Schülern und Studenten, ganz gleich, in welcher Ausdehnung in der betreffenden Schule die Naturwissenschaften getrieben werden, die Philosophie der gesamten Naturwissenschaften, eine allgemeine Anschauung der Natur als eines Ganzen – etwa dem ersten Bande von Humboldts Kosmos entsprechend – darbieten. Die Philosophie und Poesie der Natur, die Methoden aller exakten Wissenschaften und eine höhere Auffassung des Lebens der Natur gehören durchaus in den Lehrplan. Vielleicht könnte der Lehrer der Geographie vorläufig diese Aufgabe übernehmen, aber dann müßten uns ganz andere Lehrkräfte für dieses Fach und ganz andere Universitätslehrer der Geographie zu Gebote stehen. Was jetzt unter diesem Namen gelehrt wird, mag alles andere sein, nur keine Geographie.

 

Ein anderer Lehrer wurde unserer ziemlich aufsässigen Klasse wieder auf eine ganz andere Weise Meister. Es war dies der Schreiblehrer, der Unterste im Kollegium. Wenn die ›Heiden‹, womit die Nicht-Russen, d. h. der deutsche und französische Lehrer, gemeint waren, sich von vornherein geringen Ansehens erfreuten, so war der Schreiblehrer Ebert, ein deutscher Jude, ein wirklicher Märtyrer. Gegen ihn unverschämt zu sein, gehörte bei den Pagen zum guten Ton. Nur seine Armut kann ihn an unserer Schule festgehalten haben. Die älteren Schüler, die zwei oder drei Jahre ohne aufzurücken in der fünften Klasse sitzen geblieben waren, behandelten ihn sehr schlecht, aber irgendwie hatte er mit ihnen die Vereinbarung getroffen: ›Jede Stunde einen Streich, aber nicht mehr‹, ein Vertrag, der, fürchte ich, unserseits nicht immer ehrlich gehalten wurde.

Eines Tages füllte ein Bewohner der nordostasiatischen Halbinsel den großen Tafelschwamm mit Tinte und Kreide und warf damit nach dem kalligraphischen Dulder. »Fangen Sie, Ebert!« rief er mit albernem Lachen. Der Schwamm traf Ebert an der Schulter, und die Tinte spritzte ihm ins Gesicht und auf sein weißes Hemd.

Wir waren überzeugt, diesmal würde Ebert das Zimmer verlassen und die Sache beim Inspektor anzeigen. Aber er nahm nur sein baumwollenes Taschentuch heraus, wischte sich das Gesicht und sagte: »Meine Herren, einen Spaß und heute keinen weiter! Mein Hemd ist verdorben,« setzte er noch mit gedämpfter Stimme hinzu und fuhr dann fort, das Heft eines Schülers durchzusehen.

Wir waren überrascht und fühlten uns beschämt. Wie, anstatt uns anzuzeigen, hatte er sofort an das Übereinkommen gedacht! Die Stimmung der Klasse wandte sich zu seinen Gunsten. »Das war dumm von dir,« schalten wir unsern Kameraden. »Er ist ein armer Mann, und du hast ihm sein Hemd verdorben! Schande!« rief einer.

Der Täter fing sogleich an, sich zu entschuldigen, worauf Ebert mit trauriger Stimme nur erwiderte: »Lernen muß man, lernen, Herr!«

Hierauf wurden alle still, und in der nächsten Stunde schrieben die meisten von uns, als hätten wir es vorher verabredet, so gut sie konnten, in ihre Hefte und legten sie Ebert zur Durchsicht vor. Er strahlte ganz; an diesem Tage fühlte er sich glücklich.

Dieses Ereignis machte einen tiefen Eindruck auf mich und schwand mir nie aus dem Gedächtnis. Bis auf diesen Tag bin ich dem merkwürdigen Manne für seine Lehre dankbar.

 

Mit unserm Zeichenlehrer, Namens Ganz, vermochten wir dagegen niemals auf gutem Fuße zu leben. Beständig zeigte er die an, die während seines Unterrichts spielten. Dazu hatte er aber nach unserer Meinung kein Recht, weil er nur ein Zeichenlehrer war, und besonders weil er kein ehrenhafter Lehrer war. Um die meisten von uns kümmerte er sich beim Unterricht wenig und beschäftigte sich fast ausschließlich mit den Zeichnungen derjenigen, die bei ihm Privatstunden nahmen oder ihn bezahlten, damit sie bei der Prüfung die von ihm verbesserten Zeichnungen vorweisen und ihr Gesamtzeugnis dadurch verbessern könnten. Unseren Kameraden verübelten wir das nicht. Im Gegenteil, wir hielten es für ganz recht, wenn die schlechten Mathematiker und Geographen ihre geringen Nummern in diesen Fächern dadurch wettzumachen suchten, daß sie sich von einem Zeichner eine Zeichnung oder einen topographischen Plan machen ließen, wofür sie sich ›eine volle Zwölf‹ holen, und so, was in anderen Gegenständen fehlte, ausgleichen konnten. Nur bei den beiden ersten Schülern der Klasse hätte es für unrecht gegolten, sich solcher Mittel zu bedienen, doch alle andern konnten es ohne Belastung ihres Gewissens tun. Dem Lehrer kam es aber nicht zu, Zeichnungen auf Bestellung anzufertigen, und gab er sich doch dazu her, so hatte er auch die Unruhe und die Unarten seiner Schüler ohne Murren zu ertragen. Statt dessen verging keine Stunde, ohne daß er seine Klagen über uns anbrachte, und seine Anmaßung wurde jedesmal größer.

Sobald wir in die vierte Klasse aufrückten und uns in der Anstalt eingebürgert fühlten, beschlossen wir, ihm die Zügel etwas kürzer zu nehmen. »Ihr seid selbst dran schuld,« sagten unsere älteren Kameraden, »wenn er es mit euch so macht; wir haben ihn besser unter dem Daumen gehalten.« Wir beschlossen daher, ihn kirre zu machen.

Eines Tages traten zwei vorzügliche Mitschüler mit Zigaretten im Munde auf Ganz zu und baten ihn um Feuer. Natürlich war das nur ein Spaß – nie kam es einem in den Sinn, in der Klasse zu rauchen – und nach unserer Auffassung hatte Ganz nur die beiden fortzuschicken; er schrieb sie aber in das Tagebuch, und sie wurden schwer bestraft. Das war der letzte Tropfen, und wir verabredeten, ihm eine ›Benefizvorstellung‹ zu geben, das heißt, es sollte die ganze Klasse, mit großen Linealen versehen, die den obern Klassen entliehen wurden, durch Schlagen auf die Pulte einen entsetzlichen Lärm machen und den Lehrer aus der Klasse treiben. Doch bot die Ausführung des Planes viele Schwierigkeiten. Wir hatten in unserer Klasse eine Anzahl ›braver‹ Muttersöhnchen, die wohl mitmachen wollten, aber im letzten Moment ängstlich werden und versagen konnten. Dann hätte der Lehrer die andern anzeigen können. Bei solchen Unternehmungen ist Einmütigkeit das Haupterfordernis, denn jede Strafe, und wäre sie an sich sehr schwer, ist immer leichter, wenn sie die ganze Klasse, als wenn sie wenige trifft.

Durch einen wahrhaft machiavellistischen Plan wurden jedoch die Schwierigkeiten überwunden. Auf ein gegebenes Zeichen sollten alle Ganz den Rücken zuwenden, um dann mit den auf den Pulten der nächsten Reihe zurechtgelegten Linealen den gewünschten Lärm hervorzubringen. Dann würden die braven Muttersöhnchen nicht in Schrecken geraten, wenn Ganz' Blicke sie trafen. Aber das Zeichen? Zu pfeifen, wie in den Räubergeschichten, zu schreien oder auch nur zu schneuzen ging nicht an: Ganz hätte dann den Pfeifer oder Schneuzer als Anstifter angeben können. Das Zeichen mußte also ein lautloses sein. Einer von uns, der hübsch zeichnete, sollte mit seiner Zeichnung zu Ganz gehen und sie ihm zeigen, und der Augenblick, wo er wieder auf seinen Platz zurückgekehrt war und sich niedersetzte, sollte für uns den Moment bedeuten, in dem die Aktion zu beginnen hatte.

Alles ging wunderbar gut. Nesadow nahm seine Zeichnung, und Ganz machte an ihr einige Änderungen, aber uns erschienen die paar Minuten, die er dazu brauchte, eine Ewigkeit. Endlich ging Nesadow auf seinen Platz zurück, er hielt einen Augenblick still und sah uns an, er setzte sich nieder … Plötzlich drehte sich die ganze Klasse um, und die Lineale rasselten lustig auf den Pulten, während unter dem Geräusch die Rufe ertönten: »Ganz, raus! Nieder mit ihm!« Der Lärm war betäubend, alle Klassen hörten, daß Ganz sein Benefiz erhalten hatte. Er stand da und murmelte etwas vor sich hin, dann ging er hinaus. Ein Offizier kam herein, der Lärm dauerte fort, dann eilte der Unterinspektor herbei und bald nach ihm der Inspektor. Sofort hörte der Lärm auf. Nun ging das Schelten an.

»Der Primus sofort in Arrest!« donnerte die Stimme des Inspektors, und ich als Klassenerster wanderte ins schwarze Loch. Dadurch blieb mir das weitere erspart. Der Direktor kam, Ganz sollte die Rädelsführer nennen, aber er war dazu nicht imstande. »Sie wandten sich plötzlich alle um, und der Lärm ging los,« war seine Antwort. Hierauf wurde die Klasse in den Saal hinuntergeführt, und obwohl körperliche Züchtigung in unserer Anstalt sonst nicht mehr stattfand, wurden die zwei, die angezeigt waren, weil sie um Feuer gebeten hatten, mit Birkenruten geschlagen, unter dem Vorwände, das Benefiz wäre eine Rache für die Strafe gewesen, die sie vorher erhalten hätten.

Dies erfuhr ich erst zehn Tage später, als ich wieder in die Klasse zurückkehren durfte. Meinen Namen, der auf der roten Ehrentafel eingetragen war, hatte man ausgelöscht. Das ließ mich kühl, aber ich muß gestehen, daß mir die zehn Tage, die ich im Karzer ohne Bücher zubringen mußte, recht lang vorkamen, so daß ich (in schrecklichen Versen) ein Gedicht verfaßte, in dem die Taten der vierten Klasse nach Gebühr verherrlicht wurden.

Natürlich waren wir Schüler der vierten Klasse jetzt die Helden der Schule. Wohl einen Monat lang mußten wir immer wieder das glorreiche Ereignis in allen seinen Einzelheiten erzählen und wurden beglückwünscht, daß wir so einmütig vorgegangen waren und keiner allein sich hatte fassen lassen. Und dann kamen die Sonntage, alle Sonntage bis Weihnachten, an denen die Klasse in der Schule bleiben mußte und nicht nach Hause gehen durfte. Da wir alle beisammen waren, verbrachten wir die Tage aufs heiterste. Die zärtlichen Mamas der Muttersöhnchen brachten ihnen massenhaft Süßigkeiten; die von uns, welche Geld hatten, kauften Berge von Kuchen, so daß wir etwas Solides vor Tisch und etwas Süßes zum Nachtisch hatten, während abends die Freunde aus den andern Klassen Unmassen von Früchten für die tapfere vierte Klasse einschmuggelten.

Ganz gab hinfort das Denunzieren auf, aber der Zeichenunterricht hatte für uns nicht den geringsten Wert mehr, niemand wollte von dem käuflichen Manne zeichnen lernen.

*


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