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Stürmische Zeilen im Pagenkorps. – Begräbnisfeier der Kaiserin Alexandra. – Studien in den oberen Klassen des Pagenkorps; physikalischer, chemischer, mathematischer Unterricht. – Beschäftigung in der freien Zeit. – Die italienische Oper in Petersburg.
Es kamen nun stürmische Zeiten für unser Korps. Nach Girardots Entlassung trat an seine Stelle einer unserer Offiziere, Hauptmann B. Dieser war eher gutmütig als das Gegenteil, aber es hatte sich bei ihm die Meinung festgesetzt, er werde von uns nicht mit der ihm in seiner jetzigen hohen Stellung gebührenden Ehrerbietung behandelt, und er versuchte uns daher mit allen Mitteln eine größere Hochachtung und Scheu vor seiner Person beizubringen. Zuerst stellte er sich mit den oberen Klassen wegen aller möglichen kleinlichen Geschichten auf schlechten Fuß, sodann machte er – was noch schlimmer war – den Versuch, unsere ›Freiheiten‹ zu vernichten, Freiheiten, deren Ursprung sich im Dunkel der Zeiten verlor, und die, an sich unbedeutend, und vielleicht gerade darum um so teurer waren.
Die Folge davon war, daß in der Schule ein paar Tage lang offener Aufruhr herrschte, der schließlich zur Bestrafung des ganzen Korps und zur Ausschließung von zweien unserer beliebtesten Kameraden führte.
Dann fing derselbe Hauptmann an, sich in den Klassenzimmern zu zeigen, wo wir uns morgens vor dem Beginn der Schule eine Stunde lang für den Unterricht vorzubereiten pflegten. Dort standen wir unserer Meinung nach unter der Obhut unserer wissenschaftlichen Lehrer, und es hatten, was uns sehr angenehm war, unsere militärischen Vorgesetzten da nichts zu suchen. Wir empfanden seine Anmaßung sehr übel, und ich gab eines Tages unserer Unzufriedenheit lauten Ausdruck, indem ich ihm erklärte, hier hätte der Klasseninspektor die Aufsicht zu führen, nicht er. Wochenlang mußte ich für diese Kühnheit im Karzer sitzen, und man würde mich vielleicht aus der Schule entfernt haben, hätten der Klasseninspektor, sein Assistent und auch unser alter Direktor nicht gefunden, daß ich schließlich nur dem lauten Ausdruck verliehen habe, was sich jeder von ihnen schon öfters selbst gesagt hatte.
Kaum war diese Quelle der Störung verstopft, als der Tod der Kaiserin-Witwe, der Witwe Nikolaus' I., aufs neue unsere Arbeit unterbrach.
Bei Begräbnissen gekrönter Häupter pflegt man die Absicht zu verfolgen, einen tiefen Eindruck auf die Menge hervorzubringen, und man muß gestehen, daß dieses Ziel auch erreicht wird, von Zarskoje Selo, wo sie gestorben war, wurde der Leichnam der Kaiserin nach Petersburg übergeführt. Hier brachte man ihn unter dem Geleite der kaiserlichen Familie, aller hohen Staatswürdenträger, Zehntausender von Beamten und Vertretern von Körperschaften und unter dem Vortritt von Hunderten von Priestern und Chören von der Eisenbahnstation in langem Zuge durch die Hauptstraßen der Stadt zur Festung, wo er mehrere Wochen prunkvoll aufgebahrt blieb. Ein Heer von hunderttausend Gardesoldaten bildete dabei auf den Straßen Spalier, und Tausende von Menschen, angetan mit den kostbarsten Uniformen, schritten in feierlichem Zuge vor, neben und hinter dem Sarge einher. An jeder bedeutenderen Straßenkreuzung ertönten Litaneien, und dann einten sich der Klang der Glocken von den Kirchtürmen, die Stimmen der gewaltigen Chöre und die Musik der Militärkapellen in der eindrucksvollsten Weise, so daß bei den Leuten der Glaube erweckt werden konnte, die ungeheure Menge trauere wirklich um das Hinscheiden der Kaiserin.
Solange der Leichnam, stattlich aufgebahrt, in der Kathedrale der Festung lag, hatten außer anderen auch die Pagen Tag und Nacht daneben Wache zu halten. Drei Kammerpagen und drei Ehrenfräulein standen stets dicht bei dem auf hohem Unterbau ruhenden Sarge, während etliche zwanzig Pagen auf der Plattform Stellung nahmen, wo in Gegenwart des Kaisers und seiner ganzen Familie täglich zweimal Litaneien ertönten. So wurde jede Woche abwechselnd fast das halbe Korps in die Festung geführt und dort einquartiert. Alle zwei Stunden erfolgte Ablösung. Tagsüber war unser Dienst nicht schwer; wenn wir aber nachts aufstehen, unsere Hofuniform anziehen und dann beim Klange des Trauergeläutes der Festungsglocken durch die dunklen und düsteren Innenhöfe der Festung zur Kathedrale gehen mußten, dann überlief mich ein kalter Schauer beim Gedanken an die Gefangenen, die irgendwo in dieser russischen Bastille eingemauert waren. »Wer weiß,« dachte ich, »ob ich nicht auch einmal, früher oder später, zu ihnen gehören werde?«
Während der Begräbnisfeierlichkeiten trug sich ein Zwischenfall zu, der ernste Folgen hätte haben können. Über dem Sarge erhob sich unter der Kuppel des Doms ein mächtiger Baldachin, und über demselben prangte eine vergoldete Riesenkrone, von der ein kolossaler mit Hermelin gefütterter Purpurmantel nach den vier starken, die Kuppel tragenden Säulen zu herunterhing. Der Eindruck war gewaltig, aber wir Knaben hatten bald heraus, daß die Krone aus vergoldeter Pappe und Holz bestand, daß der Mantel nur unten von Samt und weiter oben von rotem Tuche, und daß das Hermelinfutter nichts als Baumwolle oder Barchent war, woran man schwarze Eichhornschwänzchen genäht hatte, während das mit Krepp umflorte russische Wappen bloß aus Pappe bestand. Doch die Menge, die zu gewissen Stunden abends beim Sarge vorübergehen und in aller Hast den darüber gebreiteten Goldbrokat küssen durfte, hatte sicher keine Zeit, den baumwollenen Hermelin oder das Wappen aus Pappe einer genauen Prüfung zu unterziehen, und der gewünschte Bühneneffekt war mit den billigsten Mitteln erreicht.
Wird in Rußland eine Litanei gesungen, so halten alle Anwesenden in der Hand brennende Wachslichte, die nach dem Lesen gewisser Gebete ausgelöscht werden. Auch die Mitglieder der kaiserlichen Familie hielten solche Kerzen, und der junge Sohn des Großfürsten Konstantin löschte, wie er es die andern tun sah, seine Kerze aus, indem er sie nach unten umdrehte. Hierbei fing die schwarze Gaze, die hinter ihm von einem Wappen herabhing, Feuer, und in einer Sekunde stand das Wappen und der Baumwollenstoff in Brand. Eine ungeheure Flamme züngelte an den schweren Falten des vermeintlichen Hermelinmantels empor.
Der Gottesdienst wurde unterbrochen, und erschreckt wandten sich alle Blicke nach der Feuerzunge, die sich immer höher hinaufschlängelte, der Pappkrone und dem Holzwerk zu, das dem ganzen Aufbau als Stütze diente. Schon fielen hier und da brennende Stückchen Stoff herunter und drohten, die schwarzen Gazeschleier der Damen in Brand zu setzen.
Alexander II. verlor seine Geistesgegenwart nur ein paar Sekunden, dann sammelte er sich sofort und sagte mit gelassener Stimme: »Der Sarg muß weg!« Die Kammerpagen bedeckten ihn sofort mit dem dicken Goldbrokat, und wir traten alle herzu, den schweren Sarg aufzuheben. Doch inzwischen hatte sich die große Feuerzunge in mehrere kleinere geteilt, die nun langsam nur die haarige Außenfläche des Stoffes verzehrten und nach und nach unter der Einwirkung des Staubes und Rußes, der oben schwebte, in den Falten erstarben.
Ich kann nicht sagen, was meine Blicke mehr anzog: das emporkriechende Feuer oder die stattlichen, schlanken Gestalten der neben dem Sarge stehenden drei Damen, deren lange schwarze Schleppen auf den zur oberen Plattform führenden Stufen lagen, während schwarze Spitzenschleier von ihren Schultern niederhingen. Keine von ihnen hatte die geringste Bewegung gemacht, sie standen da wie drei schöne in Stein gehauene Bildsäulen. Nur in den dunklen Augen der einen, des Fräulein Gamaleja, glitzerten Tränen gleich Perlen. Sie war eine Tochter Südrußlands und die einzige wirkliche Schönheit unter den Hofdamen.
Während dieser Zeit ging im Korps alles drunter und drüber. Unterricht fand nicht statt; die von uns, welche aus der Festung zurückkamen, wurden, wie es kam, in diesem oder jenem Raume untergebracht, und da wir nichts zu tun hatten, verfielen wir auf jeden möglichen Zeitvertreib. In einem Zimmer, das man uns angewiesen hatte, gelang es uns, einen Schrank zu öffnen, der eine prächtige Sammlung von Modellen aller Tierarten für den naturgeschichtlichen Unterricht enthielt. Das war die offizielle Bestimmung der Sammlung, aber man hatte sie uns nicht einmal gezeigt, und nachdem sie nun in unsere Hände gefallen war, machten wir davon in unserer eigenen Weise Gebrauch. Den Menschenschädel, den wir da vorfanden, benutzten wir zur Herstellung einer gespenstischen Erscheinung, mit der wir nachts andere Kameraden und die Offiziere in Schrecken versetzten. Die Tiere dagegen brachten wir in möglichst lächerliche Stellungen und Gruppen: Affen ritten auf Löwen, Schafe spielten mit Leoparden, die Giraffe tanzte mit dem Elefanten und so weiter. Das schlimmste war, daß ein paar Tage später ein preußischer Prinz, der zur Begräbnisfeierlichkeit erschienen war (es war, meine ich, der spätere Kaiser Friedrich), unsere Schule besuchte, wobei man ihm die Lehreinrichtungen und Lehrmittel zeigte. Unser Direktor verfehlte nicht, mit Stolz auf die ausgezeichneten Unterrichtsmittel der Anstalt hinzuweisen, und führte ihn zu jenem unglückseligen Schranke … Als der deutsche Fürst einen Blick auf unsere zoologische Klassifizierung geworfen hatte, verzog sich sein Gesicht, und er wandte sich schleunigst ab. Unser alter Direktor schaute ganz entsetzt drein; er hatte die Sprache verloren und wies nur wiederholt mit der Hand auf ein paar Seesterne, die in Glaskästen neben dem Schrank an der Wand hingen. Die Herren des Gefolges suchten sich den Anschein zu geben, als hätten sie nichts bemerkt, und schielten nur hin und wieder nach der Ursache der ganzen Störung, während wir lose Burschen alle möglichen Gesichter schnitten, um nicht herauszuplatzen.
Der Unterschied zwischen den Schuljahren eines russischen Knaben und denen eines westeuropäischen Schülers ist so groß, daß ich näher auf mein Schulleben eingehen muß. In der Regel interessieren sich russische Gymnasiasten oder Kadetten schon in hohem Maße für soziale, politische und philosophische Fragen. Allerdings bot das Pagenkorps von allen Schulen den am wenigsten geeigneten Nährboden für eine solche Entwicklung, doch in jenen Jahren der allgemeinen geistigen Wiedergeburt gewannen freiere Anschauungen selbst in unserer Mitte Raum und ergriffen einige von uns, ohne daß wir deshalb Sinn und Neigung für allerhand übermütige Streiche verloren hätten.
Als Schüler der vierten Klasse erfaßte mich ein lebhaftes Interesse für Geschichte. Indem ich mir beim Unterricht Notizen machte – ich wußte, daß die Studenten dies zu tun pflegten – und mit Hilfe privater Lektüre schrieb ich mir zu eigenem Gebrauche einen ganzen Kursus der Geschichte des frühen Mittelalters nieder. Im nächsten Jahre übte der Kampf zwischen dem Papst Bonifazius VIII. und der königlichen Gewalt Philipps IV. eine besondere Anziehungskraft auf mich aus, und in ehrgeiziger Wißbegier strebte ich nun danach, Zutritt zur kaiserlichen Bibliothek zu erlangen, um mich recht in das Studium jenes gewaltigen Ringens vertiefen zu können. Nach den Vorschriften war Zöglingen von Mittelschulen die Benutzung der Bibliothek nicht gestattet, doch unser guter Herr Becker ebnete mir den Weg, und so durfte ich eines Tages das Heiligtum betreten und vor einem der kleinen Lesetische und auf einem der roten Plüschsofas, mit denen das Lesezimmer ausgestattet war, Platz nehmen.
Von verschiedenen Lehrbüchern und einigen Büchern aus unserer eigenen Büchersammlung kam ich bald auf die Quellen, wenn ich auch kein Latein verstand, so entdeckte ich doch eine Fülle von Originalquellen in altdeutscher und altfranzösischer Sprache, auch gewährte mir der eigentümliche Bau und das Ausdrucksvolle der letzteren, wie es mir beim Lesen der Chroniken entgegentrat, einen außerordentlichen Genuß. Ein ganz neuer gesellschaftlicher Organismus, eine ganze Welt der verwickeltsten gegenseitigen Beziehungen tat sich vor mir auf, und von der Zeit an lernte ich geschichtliche Originalquellen weit höher schätzen als Werke, welche den Stoff modernisieren und verallgemeinern und in denen die Vorurteile politischer Tagesmeinungen oder gar bloße landläufige Formeln an Stelle des wirklichen Lebens der betreffenden Zeitepoche treten. Nichts fördert die intellektuelle Entwicklung mehr als selbständiges Forschen in irgend einer Art, und jene meine Studien waren mir später von allergrößtem Nutzen.
Leider konnte ich sie, als wir in die zweite, die vorletzte Klasse eintraten, nicht fortsetzen. Die Pagen mußten in den letzten zwei Jahren fast alles bewältigen, was in andern militärischen Anstalten in drei Klassen gelehrt wurde; wir hatten daher außerordentlich viel für die Schule zu tun. Naturwissenschaften, Mathematik und militärwissenschaftliche Fächer ließen die Geschichte notwendigerweise mehr in den Hintergrund treten.
In der zweiten Klasse begann ein ernstliches Studium der Physik. Wir hatten einen ausgezeichneten Lehrer, einen sehr intelligenten, sarkastisch beanlagten Mann, der vom Auswendiglernen nichts hielt und uns anstatt des bloßen Erlernens von Tatsachen zum Denken brachte. Er war ein guter Mathematiker; auch die Physik lehrte er uns auf mathematischer Grundlage und erklärte uns dabei in wunderbarer Weise die Grundideen physikalischer Forschung und physikalischer Apparate. Seine Fragen und seine Erklärungen waren zum Teil so originell und so vorzüglich, daß sie sich meinem Gedächtnis unvergeßlich eingeprägt haben.
Unser physikalisches Lehrbuch war recht gut, wie die meisten in militärischen Anstalten gebrauchten Lehrbücher von den damaligen ersten Vertretern der betreffenden Wissenschaft verfaßt waren, aber es war ziemlich alt, und unser Lehrer, der beim Unterricht nach seinem eigenen System verfuhr, hatte die Absicht, zum Gebrauch für unsere Klasse eine kurze Übersicht des von ihm Gelehrten, eine Art Leitfaden, zu schreiben. Doch nach ein paar Wochen traf es sich, daß die Aufgabe, diese Übersicht zu schreiben, mir zufiel, und als echter Pädagoge überließ mir unser Lehrer die Aufgabe ganz und las nur die Abzüge. Als wir zur Lehre von der Wärme, der Elektrizität und dem Magnetismus kamen, mußten die betreffenden Kapitel ganz neu geschrieben werden, was ich ebenfalls tat, und so hatte ich ein fast ganz neues Lehrbuch der Physik zu schreiben, das für den Gebrauch in der Schule lithographiert wurde.
Auch das Studium der Chemie begann in der zweiten Klasse, und auch in diesem Fache hatten wir einen vorzüglichen Lehrer, der die Chemie mit Leidenschaft betrieb und sich durch wertvolle Forschungen ausgezeichnet hatte. Die Jahre 1859 bis 1861 bezeichnen einen bedeutenden Fortschritt auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften: Grove, Clausius, Joule und Seguin wiesen nach, daß Wärme und alle physikalischen Kräfte nur verschiedene Arten von Bewegung sind, Helmholtz begann damals seine bahnbrechenden Forschungen über den Ton, und Tyndall ließ einen in seinen populären Vorträgen sozusagen die Atome und Moleküle selbst greifen. Gerhardt und Avogadro führten die Substitutionsmethode ein, und Mendelejew, Lothar Meyer und Newlands entdeckten das periodische Gesetz der Elemente. Darwin revolutionierte mit seiner ›Entstehung der Arten‹ alle biologischen Wissenschaften, während Karl Vogt und Moleschott, Claude Bernands Bahnen folgend, den Grund legten für ihre wahrhaft psychologische Physiologie. Es war eine große Zeit wissenschaftlicher Wiedergeburt, und unwiderstehlich riß der Strom die Geister zur Beschäftigung mit den Naturwissenschaften hin. Zu großer Zahl erschienen damals vorzügliche Bücher in russischen Übersetzungen, und bald erkannte ich, daß ohne Rücksicht auf die Art der späteren Studien eine genaue Kenntnis der Naturwissenschaften und Vertrautheit mit ihren Methoden die Grundlage bilden muß.
Fünf oder sechs von uns wollten sich eine Art eigenen Laboratoriums einrichten. In dem kleinen Schlafzimmer zweier Kameraden von uns, der Brüder Saßetsky, machten wir uns daran, mit einfachen Apparaten, wie sie Stöckhardt in seinem ausgezeichneten Lehrbuche für Anfänger angibt, zu experimentieren. Der alte Saßetsky, ein Admiral a. D., sah mit großer Freude, daß seine Söhne sich so nützlich beschäftigten, und hatte nichts dagegen, wenn wir an Sonntagen und während der Feiertage in einer Schlafstube neben seinem eigenen Studierzimmer zusammenkamen. Nach Stöckhardts Anleitung machten wir systematisch alle Experimente. Ich muß gestehen, daß wir einmal beinahe das Haus in Brand gesetzt hätten, und daß wir mehr als einmal alle Zimmer mit Chlor und andern übelriechenden Dämpfen anfüllten. Doch der alte Admiral nahm die Sache, als wir ihm bei Tische unser Abenteuer berichteten, in der besten Weise auf, indem er uns erzählte, wie er und seine Kameraden einmal beinahe ein Haus bei der weit weniger löblichen Beschäftigung des Punschbrauens in Brand gesetzt hätten. Die Mutter aber sagte nur, während sie vor Husten fast erstickte: »Natürlich, wenn es sein muß, daß ihr euch bei euren Studien mit so scheußlich riechenden Stoffen befaßt, dann läßt sich nichts weiter machen!«
Nach Tische setzte sie sich gewöhnlich ans Klavier, und wir sangen dann bis spät abends Duette, Trios und Chöre aus Opern. wir nahmen wohl auch die Partitur irgend einer italienischen oder russischen Oper vor und gingen sie mit Rezitativen und allem von Anfang bis Ende durch, wobei sie und ihre Tochter die Rollen der Primadonnen übernahmen, während wir mit mehr oder weniger Geschick uns mit allen übrigen Rollen abfanden. So gingen Chemie und Musik Hand in Hand.
Auch die höhere Mathematik nahm viel Zeit in Anspruch. Mit einigen andern Kameraden hatte ich mich schon entschlossen, nicht in ein Garderegiment einzutreten, wo unsere Zeit nur durch den Gamaschendienst und durch Paraden ausgefüllt worden wäre, sondern wir wollten, wenn wir Offiziere wären, zur Artillerie- oder Genie-Kriegsschule. Hierzu bedurfte es aber einer Vorbereitung in höherer Geometrie, in der Differentialrechnung und in den Anfängen der Integralrechnung, und wir nahmen zu diesem Zwecke Privatstunden. Zugleich vertiefte ich mich aus Anlaß des Unterrichts in den Elementen der Astronomie, die uns als mathematische Geographie gelehrt wurden, in die Lektüre astronomischer Werke und zwar vornehmlich während meines letzten Schuljahres. Das nimmer ruhende Leben des Weltalls, das ich als wirkliches Leben und Evolution auffaßte, wurde für mich eine unerschöpfliche Quelle einer poetischen Anschauung im höheren Sinne, und schrittweise wurde das Gefühl der Einheit des Menschen mit der belebten wie unbelebten Natur – die Poesie der Natur – meine Lebensphilosophie.
Hätte sich unser Schulunterricht nur auf die erwähnten Gegenstände beschränkt, so wäre unsere Zeit schon recht hübsch ausgefüllt gewesen. Aber unsere Studien erstreckten sich auch auf das Gebiet der humanitären Wissenschaften, Geschichte, Gesetzeskunde, d. h, die Grundzüge des russischen Gesetzbuches, und Volkswirtschaft in ihren wichtigsten Leitsätzen, verbunden mit einem Kursus der vergleichenden Statistik. Dazu hatten wir selbstverständlich noch einen stattlichen Kursus in den Kriegswissenschaften durchzumachen: Taktik, Kriegsgeschichte (die Feldzüge von 1812 und 1813 in allen ihren Einzelheiten), Artillerie- und Befestigungslehre. Blicke ich jetzt auf diese Ausbildung zurück, so scheint es mir, von den kriegswissenschaftlichen Fächern abgesehen, die man besser durch eingehendere Beschäftigung mit den exakten Wissenschaften ersetzt hätte, als ob die Mannigfaltigkeit der uns gelehrten Gegenstände nicht über die Fassungskraft eines Durchschnittsschülers hinausging. Dank den ziemlich guten Kenntnissen in der elementaren Mathematik und Physik, die wir uns in den unteren Klassen erworben hatten, konnten fast alle von uns auch in den obengenannten Studien Schritt halten. Einige Fächer wurden allerdings von den meisten vernachlässigt, insbesondere Gesetzeskunde und auch neue Geschichte, in der uns leider ein altes Wrack von einem Schulmeister unterrichtete, der nur, um seine volle Alterspension erhalten zu können, noch seinen Posten einnehmen durfte. Überdies war uns auch in der Wahl der uns am meisten anziehenden Fächer einiger Spielraum gelassen, und während wir in diesen erwählten Gegenständen scharfe Prüfungen zu bestehen hatten, nahm man es im übrigen nicht so genau. Die Hauptursache für den verhältnismäßigen Erfolg unseres Schulunterrichts lag darin, daß er möglichst konkret und praktisch erteilt wurde. Sobald wir in der elementaren Geometrie einige Sätze theoretisch kennen gelernt hatten, rekapitulierten wir sie draußen auf dem Felde mit Stangen und Meßkette und sodann mit dem Astrolabium, dem Kompaß und dem Meßtisch. Nach solchem anschaulichen Vorunterricht bot die elementare Astronomie keine Schwierigkeiten mehr, während die Vermessungen an sich eine endlose Quelle des Vergnügens bildeten.
Das gleiche System praktischen Unterrichtens kam auch bei der Befestigungslehre zur Anwendung. Im Winter hatten wir unter anderem die folgende Aufgabe zu lösen: ›Mit tausend Mann und vierzehn Tagen Zeit baut eine möglichst starke Befestigung zum Schutze jener Brücke, die eine Armee bei ihrem Rückzuge benützen soll!‹ und mit brennendem Eifer besprachen wir unsere Pläne mit dem Lehrer, wenn er sie kritisierte. Im Sommer verwerteten wir dann unsere Kenntnis auf dem Übungsfeld. Diesen praktischen, konkreten Übungen schreibe ich es allein zu, wenn die meisten von uns ohne Schwierigkeit im Alter von siebzehn und achtzehn Jahren so mannigfaltige Fächer beherrschen lernten.
Bei alledem blieb uns übergenug Zeit für jede Art von Vergnügungen übrig. Am besten hatten wir es nach den Prüfungen, wo wir über drei oder vier ganz freie Wochen verfügten, ehe wir ins Lager gingen, und nach der Rückkehr vom Lager, wo wir wieder drei freie Wochen hatten, bis der Unterricht begann. Es pflegten dann nur wenige in der Anstalt zu bleiben, und diese durften nach Belieben ausgehen, während sie doch im Korps stets Tisch und Lager bereit fanden. Ich arbeitete dann in der Bibliothek, oder ich besuchte die Bildergalerien der Hermitage und vertiefte mich dort eingehend in die Betrachtung jedes einzelnen von den besten Gemälden jeder Schule. Oder ich ging in die verschiedenen kaiserlichen Fabriken, in denen Spielkarten, Tuch, Eisen, Porzellan oder Glas hergestellt wurden, soweit ihr Besuch erlaubt war. Ein andermal gingen wir auf der Newa rudern und verbrachten die ganze Nacht auf dem Flusse, manchmal auch im Finnischen Meerbusen in Gesellschaft von Fischern – eine von jenen nordischen so melancholischen Nächten, in denen die letzten Spuren der untergegangenen Sonne sich mit der ersten Morgendämmerung vermischen und man mitternachts im Freien ein Buch lesen kann. Zu alledem fanden wir Zeit genug.
Von diesen Fabrikbesuchen datiert meine Freude an einer starken und vollkommenen Maschinerie. Die darin ruhende Poesie ging mir auf, wenn ich sah, wie eine Riesentatze aus einem Schuppen herauskommt, einen in der Newa schwimmenden Stamm packt, ihn hereinzieht und unter die Sägen legt, die ihn in Bretter zerschneiden, oder wie eine mächtige rotglühende Eisenstange zwischen zwei Zylindern hindurchgeführt und in eine Schiene umgewandelt wird. In unsern Fabriken bedeutet der Maschinenbetrieb für den Arbeiter den Ruin, weil er sein Leben lang der Sklave einer bestimmten Maschine wird und gar nichts weiter. Aber das liegt an der schlechten Organisation und hat mit der Maschine selbst nichts zu tun. Zu großes Maß und lebenslange Einförmigkeit der Arbeit sind gleich sehr von Übel, mag man mit der Hand, mit einfachen Werkzeugen oder mit der Maschine arbeiten. Aber davon abgesehen, begreife ich durchaus das Vergnügen, das einem das Bewußtsein von der Macht der Maschine, die Zweckmäßigkeit ihrer Arbeit, die Anmut ihrer Bewegungen und ihre Korrektheit im Arbeiten bereiten kann. Wenn William Morris die Maschinen haßte, so beweist das wohl nur, daß seinem großen dichterischen Genius doch die Auffassung von der Macht und Anmut der Maschine versagt blieb.
Auch die Musik spielte in meiner Entwicklung eine große Rolle; ja, sie lieh mir noch größere Freuden und noch höhere Begeisterung als die Poesie. Eine russische Oper gab es damals kaum, dafür erfreute sich die italienische Oper, die eine ganze Reihe erster Sterne zählte, in den weitesten Kreisen Petersburgs großer Beliebtheit. Als die Primadonna Bosio krank wurde, standen Tausende von Menschen, besonders junge Leute, bis spät nachts vor der Tür ihres Hauses, um etwas über ihren Zustand zu erfahren. Sie war nicht schön, aber ihr Gesang wirkte so hinreißend, daß Hunderte von jungen Männern ganz toll in sie verliebt waren, und als sie starb, hatte sie ein Begängnis, wie noch nie jemand vorher in Petersburg.
›Ganz Petersburg‹ teilte sich damals in zwei Lager, in die Bewunderer der italienischen Oper und in die Anhänger der französischen Bühne, die schon damals im Quell den schmutzigen Offenbachschen Strom aufwies, der ein paar Jahre später seine trüben Fluten über ganz Europa ergoß. Auch unsere Klasse war geteilt und folgte zur Hälfte dieser, zur Hälfte jener Strömung; ich schloß mich der ersteren an. Ins Parterre oder in die Balkone durften wir nicht gehen, die Logen in der italienischen Oper waren aber immer schon Monate vorher belegt, ja, ihre Benutzung vererbte sich sogar in manchen Familien von einer Generation auf die folgende. Doch erlangten wir Samstags abends Zutritt in die Gänge der obersten Galerie, wo wir in der Atmosphäre eines türkischen Bades während der ganzen Aufführung stehen mußten. Dazu pflegten wir, um unsere glänzenden Uniformen nicht sehen zu lassen, in dieser tropischen Schwüle unsere schwarzen wattierten und mit enganschließendem Pelzkragen versehenen Überröcke zu tragen. Es ist ein Wunder, daß sich keiner von uns dabei die Lungenentzündung holte, besonders wenn wir, erhitzt von den Huldigungen, die wir unsern Lieblingssängerinnen darzubringen pflegten, hinauskamen und nachher an der Künstlerpforte standen, um noch einen Blick unsers Lieblings zu erhaschen und ihm zuzujubeln. Merkwürdigerweise stand damals die italienische Oper irgendwie in inniger Beziehung zu der radikalen Bewegung, und die revolutionären Rezitative in ›Wilhelm Tell‹ und ›Die Puritaner‹ fanden stets lauten, stürmischen Beifall, der den Kaiser Alexander II. direkt ins Herz traf, während in den Galerien des sechsten Ranges, im Rauchzimmer des Opernhauses und an der Künstlerpforte die besten Elemente der Petersburger Jugend zu gemeinsamer idealer Huldigung einer edlen Kunst zusammenströmten. Vielleicht erscheint dies alles etwas kindisch, doch mancher bessere Gedanke und manches reine Streben entzündete sich in uns durch diese Verehrung unserer Lieblingskünstler.
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