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Das Hofleben in Petersburg. – Das Spionagesystem am Hofe. – Charakter Alexanders II. – Die Kaiserin. – Der Thronfolger. – Alexander III.
Im Juni 1861 wurde ich zum Sergeanten des Pagenkorps ernannt. Einige von unsern Offizieren wollten allerdings nichts davon wissen und erklärten, es würde keine ›Disziplin‹ herrschen, wenn ich Sergeant wäre. Aber es konnte nichts helfen; der Regel nach wurde der erste Schüler der Oberklasse zum Sergeanten ernannt, und ich war mehrere Jahre hintereinander Klassenerster gewesen. Diese Ernennung galt als etwas Beneidenswertes, nicht nur, weil der Sergeant eine bevorzugte Stellung in der Schule einnahm und wie ein Offizier behandelt wurde, sondern besonders, weil er während dieser Zeit Kammerpage des Kaisers war; und dem Kaiser persönlich bekannt zu sein, galt natürlich als Vorstufe weiterer Bevorzugungen. Für mich war aber das Wichtigste, daß ich nun aller Plackerei des inneren Dienstes in der Schule, der den Kammerpagen oblag, ledig wurde, und daß ich ein eigenes Arbeitszimmer haben sollte, wo ich mich von dem Lärm des Schulgetriebes freimachen konnte. Freilich hatte die Sache auch ihren Haken: es war mir immer zu langweilig gewesen, oftmals am Tage durch die ganze Länge unserer Zimmer auf und ab zu schreiten, und ich pflegte daher, was streng verboten war, die Entfernung im Laufschritt zu durchmessen; und nun sollte ich statt zu laufen mit dem Dienstbuch unter dem Arm äußerst feierlich einherwandeln! Über diese ernste Frage wurde sogar von einigen meiner Freunde Rats gepflogen, und man kam zu dem Schluß, von Zeit zu Zeit könnte ich schon noch mal Gelegenheit nehmen, meinen Lieblingsschritt einzuschlagen. Was mein Verhältnis zu allen übrigen anlangt, so hing es nur von mir ab, es von nun an völlig kameradschaftlich zu gestalten, und dies tat ich auch.
Die Kammerpagen mußten häufig im Palast sein, bei den großen und kleinen Morgenempfängen, den Bällen, sonstigen Empfängen, Galadiners und so weiter. In der Weihnachts-, wie in der Neujahrs- und Osterwoche wurden wir fast täglich in den Palast befohlen, zuweilen sogar zweimal am Tage. Überdies hatte ich in meiner Eigenschaft als Sergeant dem Kaiser jeden Sonntag bei der Parade in der Reitschule Bericht zu erstatten, daß ›alles in der Kompagnie des Pagenkorps in Ordnung‹ sei, auch als ein Drittel der Schüler an einer ansteckenden Krankheit darniederlag. Bei Eintritt dieses Krankheitsstandes fragte ich den Obersten: »Soll ich heute nicht berichten, daß nicht alles in Ordnung sei?« »Gott steh' Ihnen bei,« war seine Antwort, »das dürften Sie nur sagen, wenn eine Empörung ausgebrochen wäre!«
Zweifellos bietet das Hofleben viel Malerisches. Durch seine ausgesucht feinen Manieren, seine strenge Etikette und seine glänzende Umgebung verfehlt es trotz seiner Oberflächlichkeit des Eindrucks nicht. Ein großer Morgenempfang ist ein prunkvolles Schauspiel, und selbst ein einfacher Empfang einiger Damen bei der Kaiserin ist etwas ganz anderes als ein gewöhnlicher Besuch: als Schauplatz dient ein reichausgestattetes Palastzimmer, die Gäste werden durch Kämmerlinge in goldgestickten Uniformen eingeführt, die Kaiserin ist umringt von einem Gefolge von Pagen und Damen in der reichsten Kleidung, und das Ganze vollzieht sich mit eindrucksvoller Feierlichkeit. Bei Hofzeremonien und zwar im Dienste der Hauptpersonen mitzuwirken, hatte für einen Knaben meines Alters mehr zu bedeuten als die bloße Befriedigung der Neugier. Außerdem war Alexander II. damals noch in meinen Augen ein Held, ein Mann, der den Hofzeremonien keine Bedeutung beilegte, sondern in der damaligen Periode seiner Regierung um sechs Uhr morgens mit seiner Tagesarbeit begann und in schwerem Kampfe mit einer mächtigen Rückschrittspartei eine Reihe von Reformen durchzuführen suchte, von denen die Aufhebung der Leibeigenschaft nur der erste Schritt war.
Als ich aber nach und nach immer mehr das Bühnenmäßige des Hoflebens erkannte und dann und wann einen Blick auf die Vorgänge hinter der Szene werfen konnte, wurde mir nicht nur der Unwert dieser Schaustellungen und der sich dahinter verbergenden Dinge klar, sondern es leuchtete mir auch ein, daß diese Spielereien den Hof so in Anspruch nahmen, daß ihm für weit wichtigere Dinge kein Interesse mehr übrig blieb. Oft ging über dem Schauspiel die Wirklichkeit zugrunde. Und dann verblich auch langsam die Strahlenkrone, die meine Einbildung um Alexanders Haupt gewoben hatte. Mochte ich daher auch im Beginn des Jahres von ersprießlichem Wirken in den dem Throne am nächsten stehenden Kreise geträumt haben, so waren diese Träume am Ende des Jahres doch völlig zerronnen.
An jedem bedeutenden Feiertage wie auch an den Geburts- und Namenstagen von Kaiser und Kaiserin, am Krönungstage und bei anderen ähnlichen Gelegenheiten wurde im Palast großer Morgenempfang gehalten. Tausende von Generälen und Offizieren jeden Ranges bis herab zum Hauptmann und nicht minder die hohen Würdenträger des Zivildienstes hatten sich in den geräumigen Sälen des Palastes in Reihen aufgestellt und verbeugten sich beim Vorüberschreiten des Kaisers und seiner Familie, die sich im feierlichen Aufzuge zur Kirche begaben. An solchen Tagen kamen alle Glieder der kaiserlichen Familie in den Palast und versammelten sich in einem Empfangszimmer, wo sie die Zeit schwatzend verbrachten, bis zu dem Augenblick, in dem es galt, sich die Maske der Feierlichkeit aufzusetzen. Dann bildete sich die Reihe. Der Kaiser bot der Kaiserin die Hand und eröffnete mit ihr den Zug. Es folgte ihm sein Kammerpage und diesem wieder der General-Adjutant, der Adjutant du jour und der Minister des Kaiserlichen Hauses, während der Dienst der Kaiserin oder vielmehr der endlosen Schleppe ihres Kleides ihren zwei Kammerpagen oblag, die bei jeder Wendung die Schleppe zu heben und dann wieder in aller ihrer Schönheit auszubreiten hatten. Dann kam der achtzehnjährige Thronfolger und alle andern Großfürsten und Großfürstinnen in der Reihe ihres Thronfolgerechts, und hinter jeder Großfürstin schritt ihr Kammerpage; hierauf folgten im langen Zuge die Damen des Gefolges, alte und junge, sämtlich in sogenannter russischer Tracht, das heißt, in einem Gesellschaftskleide, das dem von den Frauen Altrußlands getragenen gleichen sollte.
Während der Zug vorwärtsschritt, konnte ich bemerken, wie jeder einzelne von den höchsten Offizieren und Beamten, ehe er sich verneigte, einen Blick aus dem Auge des Kaisers zu erhaschen suchte, und wenn der Zar die Verneigung mit einem Lächeln oder einem kaum merkbaren Kopfnicken oder etwa mit ein paar Worten hinnahm, so schaute der Betreffende stolz auf seine Nachbarn, um deren Glückwunsch in Empfang zu nehmen.
Der Rückweg von der Kirche erfolgte in gleicher Weise, und dann zerstreuten sich schleunigst alle Teilnehmer, und jeder ging seinen eigenen Interessen nach. Von ein paar devoten Höflingen und einigen jungen Damen abgesehen, befand sich unter zehn Teilnehmern nicht einer, für den diese Morgenempfänge etwas anderes als eine unangenehme Pflicht gewesen wären.
Zwei- oder dreimal gab es im Winter großen Ball im kaiserlichen Palaste, zu dem Tausende von Einladungen ergingen. Wenn der Kaiser den Tanz mit einer Polonaise eröffnet hatte, konnte sich jeder nach Belieben aufs beste die Zeit vertreiben. In den ausgedehnten glänzend beleuchteten Sälen wurde es jungen Mädchen nicht schwer, sich den wachsamen Augen der Eltern oder Tanten zu entziehen, und sie genossen gründlich die Freude des Tanzes wie des Mahles, bei dem die jungen Leute es so einrichteten, daß sie allein blieben.
Meine Pflichten bei diesen Bällen waren nicht leicht zu erfüllen. Alexander II. tanzte nicht, nahm auch nicht Platz, sondern bewegte sich die ganze Zeit über unter seinen Gästen, wobei ihm sein Kammerpage in solcher Entfernung zu folgen hatte, daß er einen Ruf leicht vernehmen konnte, ohne doch durch zu große Nähe irgendwie lästig zu fallen. Diese Kombination von Anwesenheit und Abwesenheit war nicht leicht auszuführen, auch fragte der Kaiser nichts darnach; ihm wäre es lieber gewesen, wenn man ganz davon abgesehen hätte; aber die Tradition wollte es einmal so, und er mußte sich ihr unterwerfen. Am schlimmsten war es, wenn er sich mitten hinein in eine dichtgedrängte Schar von Damen begab, die um den von den tanzenden Großfürsten gebildeten Kreis zu stehen pflegten, und sich langsam zwischen ihnen fortbewegte. Es war keineswegs eine leichte Aufgabe, sich einen Weg durch diesen lebenden Garten zu bahnen, der sich wohl vor dem Kaiser öffnete, aber hinter ihm sofort wieder schloß. Anstatt selbst zu tanzen, standen dort dicht gedrängt Hunderte von Frauen und Mädchen, jede in der Erwartung, einer der Großfürsten werde sie vielleicht bemerken und sie zu einem Walzer oder einer Polka auffordern. So groß war der Einfluß des Hofes auf die Petersburger Gesellschaft, daß Eltern, auf deren Tochter ein Großfürst sein Auge geworfen hatte, alles mögliche taten, ihr Kind in die hohe Persönlichkeit wahnsinnig verliebt zu machen, obgleich sie recht gut wußten, daß eine Ehe unmöglich war, da es den russischen Großfürsten nicht erlaubt ist, eine ›Untertanin‹ des Zaren zu heiraten. Die Unterhaltung, die ich einmal in einer ›anständigen‹ mit dem Hof in Verbindung stehenden Familie mit anhörte, nachdem der Thronerbe zwei- oder dreimal mit einer siebzehnjährigen Tochter des Hauses getanzt hatte, und die Hoffnungen, denen die Eltern Ausdruck gaben, gingen über alle meine Vorstellungen hinaus.
Jedesmal, wenn wir im Palast waren, aßen wir dort zu Mittag oder Abend, und dabei raunten uns die Bedienten, mochten wir darnach fragen oder nicht, das Neueste aus der Skandalchronik des Kaiserhauses zu. Sie wußten alles, was sich in den verschiedenen Palästen zutrug – das war ihre Domäne. Die Wahrheit zu sagen, war diese Chronik in dem Jahre, von dem ich rede, nicht so reich wie in den Siebzigern. Die Brüder des Zaren waren erst seit kurzer Zeit verheiratet, und seine Söhne waren sämtlich noch sehr jung. Aber das Verhältnis des Kaisers selbst zur Fürstin X., die Turgenjew im ›Rauch‹ so meisterhaft unter dem Namen Irene malt, wurde von der Dienerschaft sogar noch offener besprochen wie von der Petersburger Gesellschaft. Als wir aber eines Tages in unser Ankleidezimmer im Palaste kamen, hieß es: »Die X. hat heute ihren Abschied gekriegt – diesmal einen gründlichen.« Eine halbe Stunde später sahen wir jene Dame mit Augen, die vom Weinen geschwollen waren, zur Messe kommen; man konnte sehen, wie sie während des Gottesdienstes die Tränen unterdrückte, und die andern Damen hielten sich, um recht die Aufmerksamkeit auf die Gestürzte zu lenken, geflissentlich in einiger Entfernung von ihr. Die Diener wußten schon von dem ›Ereignis‹ und erläuterten es in ihrer eigenen Weise. Das Gerede dieser Leute machte einen wahrhaft abstoßenden Eindruck, da sie am Tage vorher vor derselben Dame gekrochen waren.
Das Spionagesystem, das im Palaste herrscht und besonders in bezug auf den Kaiser selbst, erscheint dem Uneingeweihten fast unglaublich. Der folgende Vorfall gibt eine Vorstellung davon. Einige Jahre später wurde einem Großfürsten von einem Petersburger Herrn eine derbe Lektion zuteil. Der letztere hatte dem Großfürsten sein Haus verboten, fand ihn aber, als er unvermutet heimkam, in seinem Empfangszimmer und stürzte mit aufgehobenem Stock auf ihn zu. Der junge Mann flog die Treppe hinunter und sprang schon in seinen Wagen, als der Verfolger ihn faßte und ihm mit seinem Stocke einen Schlag versetzte. Der Polizist, der an der Tür stand, war Zeuge der Begebenheit und meldete sie schleunigst dem Chef der Polizei, General Trepow, der seinerseits in seinen Wagen sprang und zum Kaiser eilte, um ihm als erster über das ›bedauerliche Ereignis‹ Bericht zu erstatten. Alexander II. ließ den Großfürsten kommen und hatte mit ihm ein Gespräch unter vier Augen. Ein paar Tage darauf erzählte ein alter Beamter, der zur Dritten Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei, das heißt zur Staatspolizei, gehörte, und der mit der Familie eines Kameraden von mir befreundet war, die ganze Unterredung. »Der Kaiser,« lautete sein Bericht, »war sehr zornig und sagte schließlich zum Großfürsten: ›Du solltest dir deine kleinen Privataffären besser einzurichten verstehen‹«. Man fragte den Erzähler natürlich, wie er von einer privaten Unterhaltung hätte Kenntnis erhalten können. Hieraus antwortete er sehr bezeichnender Weise: »Die Worte und Ansichten Sr. Majestät müssen unserer Abteilung bekannt sein. Wie wäre sonst eine so heikle Einrichtung wie die Staatspolizei lebensfähig? Glauben Sie mir, der Kaiser ist der am schärfsten bewachte Mann in ganz Petersburg.«
Mit diesen Worten war nicht zu viel gesagt. Kein Minister, kein Generalgouverneur trat in das Arbeitszimmer des Kaisers, um dort Vortrag zu halten, ohne sich bei dem kaiserlichen Leibdiener erkundigt zu haben, ob der Gebieter an dem Tage bei guter Laune sei; und je nach dem Stimmungsberichte legte er entweder eine schwierige Angelegenheit vor oder ließ sie in Erwartung eines besseren Tages in der Tiefe seiner Ministermappe ruhen. Wenn der Generalgouverneur von Ostsibirien nach Petersburg kam, schickte er regelmäßig seinen Adjutanten mit einem anständigen Geschenk zu dem Leibdiener des Kaisers. »Es gibt Tage,« pflegte er zu sagen, »an denen der Kaiser in Wut geraten und eine scharfe Untersuchung gegen jeden, auch gegen mich selbst, anordnen würde, wollte ich ihm an solchen Tagen gewisse Berichte vorlegen, während an anderen sich alles glatt erledigen läßt. Dieser Diener ist unbezahlbar.« Auf der Kenntnis der täglichen Laune des Kaisers beruhte im wesentlichen die Kunst, sich in hoher Stellung zu erhalten, eine Kunst, die später vom Grafen Schuwalow und dem General Trepow zur Vollkommenheit ausgebildet wurde, ebenso vom Grafen Ignatiew, der sie nach meinen Wahrnehmungen sogar ohne die Hilfe des Leibdieners auszuüben verstand.
In der ersten Zeit meines kaiserlichen Dienstes als Kammerpage war ich von hoher Bewunderung Alexanders, des Sklavenbefreiers, erfüllt. Die Einbildungskraft führt uns in jenem Lebensalter oft über die Wirklichkeit hinaus, und ich würde damals den Kaiser mit meinem Leibe gedeckt haben, hätte man in meiner Gegenwart ein Attentat auf ihn unternommen.
An einem der ersten Januartage des Jahres 1862 sah ich ihn eilig und ohne Begleitung nach den Sälen schreiten, wo Abordnungen aller Regimenter der Petersburger Garnison zur Parade versammelt standen. Diese Parade fand gewöhnlich im Freien statt, wurde aber wegen des starken Frostes dieses Jahr drinnen abgehalten, und so mußte Alexander, der sonst bei Revuen die Front der Truppen im schärfsten Galopp abritt, jetzt die Front der Regimenter abschreiten. Ich wußte, daß meine Hofpflichten aufhörten, sobald der Kaiser als Oberst-Kommandierender der Truppen auftrat, und daß ich ihm bis hierher und nicht weiter zu folgen hatte. Doch als ich mich umschaute, sah ich, daß er ganz allein war. Die beiden Adjutanten waren verschwunden, und niemand aus seinem Gefolge ließ sich sehen. »Ich will ihn nicht allein lassen,« sagte ich zu mir und folgte ihm.
Ob es Alexander II. an jenem Tage besonders eilig hatte, oder aus welchem Grunde sonst er die Revue möglichst schnell abzutun wünschte, kann ich nicht sagen, aber er stürzte vor die Front der Truppen und ging die Reihen entlang mit solcher Eile und mit so weiten und schnellen Schritten – er war ein großer Mann –, daß ich die größte Schwierigkeit hatte, ihm in meiner schnellsten Gangart zu folgen und manchmal fast rennen mußte, um dicht hinter ihm zu bleiben. Es war, als liefe er vor einer Gefahr davon. Seine Erregung teilte sich mir mit, ich war jeden Augenblick bereit, vor ihn hinzuspringen, und bedauerte nur, daß ich meinen Ordonnanzdegen trug und nicht meinen eigenen, dessen Toledaner Klinge Kupfer durchbohrte, und der eine weit bessere Waffe war. Erst als der Kaiser das letzte Bataillon abgeschritten hatte, mäßigte er seine Eile. Er trat in einen andern Saal, schaute sich um und begegnete dabei meinem Blick, aus dem noch die Aufregung über den tollen Marsch herausblitzte. Zwei Säle hinter uns kam der jüngere Adjutant in voller Eile gelaufen. Ich war auf einen scharfen Tadel gefaßt, aber statt dessen sagte Alexander II., vielleicht damit seine eigenen innersten Gedanken verratend: »Du hier? Tapferer Bursche!« Und während er sich langsam fortwandte, ließ er jenen problematischen, bewußtlosen Blick ins Weite schweifen, den ich schon öfters an ihm bemerkt hatte.
So war ich damals gesinnt. Doch verschiedene kleine Vorkommnisse, wie auch der entschieden rückschrittliche Charakter, den Alexanders Politik immer entschiedener annahm, ließen allmählich Zweifel in mein Herz sich schleichen.
Am 6. Januar findet in Rußland regelmäßig die halb christliche, halb heidnische Feierlichkeit der Wasserweihe statt. Diese erfolgt auch beim kaiserlichen Palast. Auf der Newa wird dem Schloß gegenüber ein Pavillon errichtet, und die kaiserliche Familie schreitet unter Vorantritt des Klerus vom Palast über den prächtigen Kai zum Pavillon, wo ein Tedeum gesungen und das Kreuz in das Wasser der Newa getaucht wird. Zu Tausenden stehen die Leute auf dem Kai und dem Eise des Flusses, um der Zeremonie von weitem zuzuschauen, und alle halten während der Feierlichkeit das Haupt unbedeckt. Da in diesem Jahre die Kälte ziemlich stark war, hatte ein alter General eine Perücke aufgesetzt, die sich beim eiligen Ankleiden verschoben hatte und nun, ohne daß er es merkte, ihm quer auf dem Kopfe saß. Der Großfürst Konstantin wurde es gewahr und lachte mit den jüngeren Großfürsten während der ganzen Dauer des Tedeums; er schaute dabei beständig nach dem unglücklichen General hin, der mit einem dummen Lächeln erwiderte, ohne eine Ahnung zu haben, warum er die Ursache einer so großen Heiterkeit war. Schließlich flüsterte Konstantin dem Kaiser etwas ins Ohr, der ebenfalls nach dem General hinsah und lachte.
Als der Zug einige Minuten später auf dem Rückweg zum Palast wieder über den Kai kam, drängte sich ein alter barhäuptiger Bauer durch die doppelte Reihe von Soldaten, die den Weg des Zuges einsäumte. Er fiel dicht vor dem Kaiser auf seine Knie, hielt eine Bittschrift empor und rief mit Tränen in den Augen: »Vater, schütze uns!« Menschenalter der Unterdrückung der russischen Bauernschaft klangen aus diesem Notschrei heraus, doch Alexander II., der vor wenigen Minuten während einer gottesdienstlichen Handlung gelacht hatte, weil ein Zopf verkehrt lag, ging jetzt an dem Greise vorüber, ohne ihm irgendwie Beachtung zu schenken. Ich war dicht hinter dem Zaren und sah nur, wie ihn beim plötzlichen Hervortreten des Bauern ein Schauer der Furcht überlief, worauf er weiterschritt, ohne die menschliche Gestalt zu seinen Füßen auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich sah mich um. Die Adjutanten waren nicht zu erblicken; der Großfürst Konstantin, der zunächst kam, achtete des Alten so wenig wie sein Bruder; es war niemand da, auch nur die Bittschrift entgegenzunehmen, so nahm ich sie denn, obwohl ich wußte, daß mich Tadel dafür treffen würde. Es war nicht meine Sache, Bittschriften anzunehmen, aber ich dachte daran, was es den Bauer gekostet haben mußte, ehe er zur Hauptstadt gelangen und durch die doppelte Kette von Polizisten und Soldaten zu beiden Seiten des Zuges dringen konnte. Wie allen Bauern, die dem Zaren Bittschriften einhändigten, stand ihm das Los bevor, auf wer weiß wie lange Zeit verhaftet zu werden.
An dem Tage der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde Alexander II. in Petersburg vergöttert, aber es ist höchst bemerkenswert, daß er, von jener Periode der allgemeinen Begeisterung abgesehen, in der Stadt nicht beliebt war. Sein Bruder Nikolaus besaß – niemand kann sagen weshalb – wenigstens die Sympathie der kleinen Händler und Droschkenkutscher; aber weder Alexander II., noch sein Bruder Konstantin, der Führer der Reformpartei, noch sein dritter Bruder, Michael, hatte sich die Herzen irgend einer Klasse der Petersburger Bevölkerung gewonnen. Alexander II. hatte zu viel vom despotischen Charakter seines Vaters beibehalten, der von Zeit zu Zeit durch seine gewöhnlich gutmütige Art hindurchbrach. Er geriet leicht in Hitze und behandelte seine Umgebung oft in der verächtlichsten Weise. Er war nicht, was man einen wirklich zuverlässigen Mann nennt, weder in der Politik noch in seinen persönlichen Sympathien, auch war er rachsüchtig. Mir ist es zweifelhaft, ob er irgend jemand aufrichtig zugetan war. Einige Männer in seiner nächsten Umgebung waren von der schlimmsten Sorte, so Graf Adlerberg, der sich von ihm immer wieder seine riesigen Schulden bezahlen ließ, und noch andere, die wegen ihrer kolossalen Diebereien berüchtigt sind.
Von 1862 an zeigte es sich, daß unter Alexander II. die übelsten Praktiken des Nikolaitischen Regiments wiederaufleben konnten. Man wußte zwar, daß der Kaiser noch eine Reihe wichtiger Reformen im Gerichtswesen und im Heere durchführen wollte, daß die fürchterlichen körperlichen Züchtigungen abgeschafft und eine Art örtlicher Selbstverwaltung, vielleicht sogar in irgend einer Form eine Verfassung gewährt werden sollte. Aber die geringste Unruhe wurde auf seinen Befehl mit rücksichtsloser Strenge unterdrückt, jede Volksbewegung erschien ihm als persönliche Beleidigung, so daß man jeden Augenblick auf die reaktionärsten Maßnahmen seinerseits gefaßt sein mußte. Die Studentenunruhen, die im Oktober 1861 an den Universitäten Petersburg, Moskau und Kasan ausbrachen, wurden mit immer zunehmender Härte unterdrückt. Die Petersburger Universität wurde geschlossen, und wenn auch die meisten Professoren im Stadthause freie Kurse einrichteten, so schloß man doch auch diese sehr bald, und einige der besten Professoren verließen die Universität. Unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft begann eine mächtige Bewegung, die auf die Gründung von Sonntagsschulen abzielte. Überall wurden diese Schulen von Privatpersonen und Körperschaften eingerichtet, allen Unterricht erteilten die Lehrer freiwillig und unentgeltlich, und allenthalben strömten Bauern und Arbeiter, alt und jung, in diese Schulen. Als Lehrer waren Offiziere, Studenten, sogar ein paar Pagen tätig, und es kamen so vorzügliche Methoden zur Anwendung, daß wir (im Russischen ist die Rechtschreibung phonetisch) einem Bauern in neun oder zehn Stunden das Lesen beibrachten. Doch auf einmal wurden alle Sonntagsschulen, in denen die große Masse der Bauern ohne irgend ein finanzielles Opfer des Staates in wenigen Jahren lesen gelernt hätte, geschlossen. Als ferner in Polen patriotische Kundgebungen stattfanden, ließ man die Menge von Kosaken mit Peitschen auseinandertreiben und die Leute zu Hunderten in den Kirchen auf brutale Art ergreifen und verhaften. In den Straßen Warschaus wurden am Ende des Jahres 1861 Menschen erschossen, und zur Unterdrückung der wenigen Bauernaufstände griff man wieder auf das schreckliche Spießrutenlaufen, jene Lieblingsstrafe Nikolaus' I., zurück. Die despotische Herrschaft Alexanders während der Jahre 1870-81 warf schon ihren Schatten auf das Jahr 1862 voraus.
Die sympathischste Erscheinung in der ganzen kaiserlichen Familie war zweifellos die Kaiserin Marie Alexandrowna. Sie war aufrichtig, und sagte sie einem etwas Angenehmes, so meinte sie es auch so. Die Art, wie sie mir einmal für eine kleine Höflichkeit dankte, machte einen tiefen Eindruck auf mich, es war so gar nicht die Art einer durch die größten Höflichkeitsbezeigungen verwöhnten Frau, wie man es doch bei einer Kaiserin von vornherein erwartet. In ihrem häuslichen Leben war sie zweifellos nicht glücklich, auch bei den Hofdamen war sie nicht beliebt, ihre Strenge mißfiel ihnen, und sie fanden es unbegreiflich, wie sie sich die Flatterhaftigkeit ihres Gatten so zu Herzen nehmen könnte. Jetzt weiß man, daß ihr eine gar nicht unbedeutende Rolle in der Herbeiführung der Bauernbefreiung zufiel. Damals wußte man jedoch, wie es scheint, wenig von ihrem Einfluß nach dieser Richtung hin, da der Großfürst Konstantin und die Großfürstin Helene Pawlowna, die bei Hofe Nikolaus Miljutins Hauptstütze war, als die beiden Führer der Reformpartei in den Palastkreisen galten. Besser bekannt war das entscheidende Eintreten der Kaiserin für die Gründung von Mädchengymnasien, die von Anfang an vorzüglich organisiert wurden und eine wirklich demokratische Einrichtung erhielten. Ihr freundschaftliches Verhältnis zu Uschinsky bewahrte diesen bedeutenden Pädagogen vor dem Geschick, das damals alle hervorragenden Männer in Rußland traf, dem Exil.
Selbst hochgebildet tat Marie Alexandrowna ihr Bestes, ihrem ältesten Sohn eine gute Ausbildung zuteil werden zu lassen. Die tüchtigsten Männer in jedem Wissenszweige wurden als Lehrer ausgesucht, und sie wandte sich zu diesem Zwecke sogar an Kawelin, obwohl sie sein Freundschaftsverhältnis zu Herzen kannte. Als er ihr gegenüber dieser Freundschaft Erwähnung tat, erwiderte sie, sie trage Herzen nichts nach außer seiner heftigen Sprache gegen die Kaiserin-Witwe.
Der Thronerbe war von außerordentlicher Schönheit, die nur vielleicht etwas zu ausgesprochen Weibliches hatte. Er war ganz und gar nicht stolz und unterhielt sich während der Morgenempfänge mit den Kammerpagen in der kameradschaftlichsten Weise. Die ihn aber genau kannten, schilderten ihn als einen durchaus egoistischen, wirklicher Zuneigung zu einem andern unfähigen Menschen. Dieser Charakterzug war bei ihm sogar noch mehr hervorstechend als bei seinem Vater, was seine Ausbildung anlangt, so war alle Mühe, die sich seine Mutter gab, umsonst. Im August 1861 versagte er bei den Prüfungen, die in Gegenwart seines Vaters abgehalten wurden, völlig, und ich erinnere mich, wie Alexander II. bei einer Parade, bei der der Thronerbe das Kommando übernommen hatte und einen Fehler machte, laut rief, so daß es jeder hören konnte: »Nicht einmal das hast du lernen können!« Er starb bekanntlich im Alter von zweiundzwanzig Jahren an einer Erkrankung des Rückenmarkes.
Sein Bruder Alexander, der 1865 Thronerbe wurde, der spätere Alexander III., bildete einen ausgesprochenen Gegensatz zu Nikolaus Alexandrowitsch. Er erinnerte mich durch sein Gesicht, seine Gestalt und das Vollgefühl von seiner eigenen Größe so lebhaft an Paul I., daß ich öfters äußerte: »Wenn er jemals zur Regierung kommt, wird er ein zweiter Paul I. im Palast zu Gatschina sein und wird in den Händen seiner eigenen Höflinge dasselbe Ende finden wie sein Urgroßvater.« Zum Lernen konnte man ihn auf keine Weise bringen. Man erzählte sich, daß Alexander II., weil er mit seinem Bruder Konstantin, der höher gebildet war als er selbst, so manchesmal in Differenzen geriet, absichtlich alles aufbot, die Ausbildung des Thronerben zu fördern, dagegen die Erziehung seiner andern Söhne vernachlässigt habe; ich zweifle aber daran. Alexander Alexandrowitsch muß von klein auf jedem Unterricht abgeneigt gewesen sein; so war auch die Orthographie, die ich in seinen Telegrammen an seine Braut in Kopenhagen bemerkte, unglaublich mangelhaft. Ich kann hier die russische Orthographie nicht wiedergeben, aber französisch schrieb er: » Ecri à oncle à propos parade … les nouvelles sont mauvaisent«, und so weiter.
Sein Charakter soll sich gegen Ende seines Lebens gebessert haben, aber 1870 und noch viel später war er ein echter Nachkomme Pauls I. Ich kannte in Petersburg einen Offizier von schwedischer Herkunft (aus Finnland), der nach den Vereinigten Staaten geschickt worden war, um Gewehre für das russische Heer zu bestellen. Bei seiner Rückkehr hatte er Alexander Alexandrowitsch, dem die Kontrolle der Neubewaffnung übertragen war, Bericht zu erstatten. Bei dieser Unterredung fing der Zarewitsch, der seinem heftigen Temperamente die Zügel schießen ließ, an, den Offizier zu schelten, und dieser verantwortete sich wahrscheinlich in würdevoller Weise, worauf der Prinz, von Wut ergriffen, den Offizier mit beleidigenden Schmähungen überhäufte. Der Offizier, der Selbstachtung mit durchaus loyaler Gesinnung verband, wie man dies unter dem schwedischen Adel in russischen Diensten häufig findet, entfernte sich sofort und schrieb einen Brief, in dem er den Thronerben aufforderte, ihm innerhalb vierundzwanzig Stunden durch eine Entschuldigung Genugtuung zu gewähren, mit dem Hinzufügen, wenn die Entschuldigung nicht käme, würde er sich erschießen: also eine Art japanischen Duells. Alexander Alexandrowitsch entschuldigte sich nicht, und der Offizier hielt Wort. Ich sah ihn im Hause eines auch mir nahestehenden intimen Freundes, als er jeden Augenblick das Eintreffen der Entschuldigung erwartete. Am nächsten Morgen war er tot. Der Zar war gegen seinen Sohn sehr aufgebracht und befahl ihm, beim Begräbnis dem Sarge des Offiziers zu folgen. Aber auch diese schreckliche Lehre heilte den jungen Mann nicht von dem Hochmut und der Heftigkeit der Romanows.
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