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Im Pagenkorps.

Sechstes Kapitel.

Mein Eintritt in das Pagenkorps, – Der Leiter des Korps. – Der im Korps herrschende Geist. – Eine Wandlung zum Bessern.

 

Der langgehegte Ehrgeiz meines Vaters ging in Erfüllung: Es war eine Stelle im Pagenkorps frei geworden, in die ich eintreten konnte, ehe ich das Alter, bis zu dem die Aufnahme noch zulässig war, überschritten hatte. Man brachte mich nach Petersburg, und die Schule öffnete sich mir. Nur einhundertfünfzig meist dem Hofadel angehörige Knaben empfingen ihre Ausbildung in dieser privilegierten Anstalt, die den Charakter einer mit Sonderrechten ausgestatteten Militärschule und den eines dem kaiserlichen Haushalt angeschlossenen Hofinstituts in sich vereinte. Nach vier- oder fünfjährigem Aufenthalt im Pagenkorps wurden seine Zöglinge, wenn sie die Schlußprüfungen bestanden hatten, in die Garde oder nach ihrem eigenen Wunsch in irgend ein anderes Regiment als Offiziere aufgenommen, ganz gleich, ob noch Plätze in diesen Regimentern frei waren oder nicht. Außerdem wurden die ersten sechzehn Schüler der obersten Klasse zu ›Kammerpagen‹ ernannt, d. h. sie wurden zum persönlichen Dienst der verschiedenen Mitglieder der kaiserlichen Familie – des Kaisers, der Kaiserin, der Großfürstinnen und der Großfürsten – bestimmt. Das galt natürlich als große Ehre, überdies wurden die Jünglinge, denen diese Ehre zuteil wurde, dem Hofe bekannt und hatten alle Aussicht, nachher zu Adjutanten des Kaisers oder eines Großfürsten ernannt zu werden, womit sich ihnen selbstverständlich eine glänzende Karriere im Staatsdienst eröffnete. Eltern mit Familie, die über Verbindungen mit dem Hofe verfügten, setzten daher alles daran, ihre Söhne in das Pagenkorps zu bringen, mochte dies auch auf Kosten anderer Anwärter geschehen, denen damit jede Möglichkeit der Aufnahme genommen wurde. Jetzt, da ich dem vornehmen Korps angehörte, konnte mein Vater seinen ehrgeizigen Träumen freies Spiel gewähren.

Das Korps war in fünf Klassen geteilt, von denen die höchste die erste und die unterste die fünfte war. Ich sollte in die vierte kommen; da es sich aber bei den Prüfungen herausstellte, daß ich im Rechnen mit Dezimalbrüchen nicht genügende Fertigkeit besaß, und da die vierte Klasse über vierzig Schüler umfaßte, während die fünfte nur zwanzig zählte, wurde ich der letzteren zugeteilt.

Diese Entscheidung war mir äußerst peinlich. Mit Widerstreben trat ich überhaupt in eine Militärschule ein, und nun sollte ich sie fünf Jahre lang statt vier Jahre besuchen! Was sollte ich in der fünften Klasse, wenn ich schon alles wußte, was in ihr gelehrt werden sollte? Tränenden Auges sprach ich darüber mit dem Inspektor, der an der Spitze der Unterrichtsabteilung stand, doch er antwortete mir mit einem Scherz: »Sie wissen,« sagte er, »was Cäsar erklärte: besser der erste in einem Dorfe sein, als der zweite in Rom.« Worauf ich erregt erwiderte, ich würde lieber der letzte sein, wenn ich nur möglichst bald aus dem Pagenkorps hinauskäme. »Vielleicht gefällt Ihnen die Schule, wenn Sie erst einige Zeit hier sind,« bemerkte er, und von dem Tage an wurde er mein Freund.

Dem Rechenlehrer, der mich ebenfalls trösten wollte, gab ich mein Ehrenwort, ich würde keinen Blick in sein Lehrbuch werfen, »und trotzdem werden Sie mir die höchsten Nummern geben müssen!« Ich hielt Wort, aber wenn ich jetzt an die Szene zurückdenke, scheint es mir, als ob der Schüler sich nicht eben sehr willfähriger Natur erwiesen hätte.

Und doch muß ich beim Rückblick auf jene lange vergangene Zeit nur dankbar dafür sein, daß man mich in die niedrigere Klasse gesetzt hat. Da ich im ersten Jahre nur zu wiederholen hatte, was ich schon wußte, so gewöhnte ich mich daran, meine Aufgaben durch das bloße Hören dessen, was der Lehrer in der Klasse sagte, zu lernen. So hatte ich nach Beendigung des Unterrichts reichlich Zeit, nach Herzenslust für mich zu lesen und zu schreiben. Niemals bereitete ich mich für die Prüfungen vor und verwandte die dafür bestimmte Zeit darauf, ein paar Freunden Dramen von Shakespeare oder Ostrowsky vorzulesen. Außerdem war ich auf diese Weise, als ich in die höheren Spezial-Klassen kam, besser imstande, mir die mannigfaltigen uns dort gebotenen Lehrstoffe anzueignen.

Wie alle nicht in Petersburg einheimischen Kinder mußte ich in der ›Hauptstadt auf den finnischen Sümpfen‹ in Gestalt mehrerer Anfälle von Cholera nostras sowie einer Erkrankung an typhösem Fieber schweren Tribut zahlen.

 

Als ich in das Pagenkorps trat, vollzog sich gerade in seinem innern Leben ein bedeutsamer Umschwung. Ganz Rußland erwachte damals von dem tiefen Schlummer und dem schrecklichen Despotismus des Regiments Nikolaus' I. Auch unsere Schule empfand die Wirkung dieser Wiederbelebung. Und ich weiß wahrhaftig nicht, was aus mir hätte werden sollen, wäre ich ein oder zwei Jahre früher in das Pagenkorps gekommen. Entweder hätte man meinen Willen völlig gebrochen, oder man hätte mich aus der Schule ausgeschlossen, und was für Folgen das gehabt hätte, kann niemand sagen. Glücklicherweise war im Jahre 1857 der neue Geist schon im vollen Anzuge.

Der Direktor des Korps, der General Scheltuchin, war ein prächtiger alter Mann. Doch er war nur dem Namen nach das Haupt. Der wirkliche Leiter war ›der Oberst‹, Oberst Girardot, ein Franzose in russischen Diensten. Es hieß, er sei ein Jesuit, und ich glaube, er war es auch; wenigstens entsprach sein Verfahren völlig den Lehren Loyolas, und seine Erziehungsmethode war die in den französischen Jesuitenschulen geübte.

Man denke sich einen kleinen, äußerst magern Mann mit dunklen, stechenden und scheuen Augen, der einen kurzgehaltenen Schnurrbart trug, was seinem Aussehen etwas Katzenartiges verlieh. Er war sehr ruhig und energisch, nicht hervorragend klug, aber außerordentlich schlau. Im Grunde seines Herzens ein Despot, haßte er aus voller Seele die Knaben, die sich seinem überwältigenden Einfluß entzogen, und gab diesem Hasse nicht durch plumpe Verfolgungen, aber unablässig durch sein ganzes Benehmen Ausdruck, durch ein gelegentliches Wort, eine Handbewegung, ein Lächeln, einen Ausruf! Sein Gang war mehr ein Vorwärtsschleichen, und die forschenden Blicke, die er beständig, ohne den Kopf zu wenden, um sich warf, vollendeten das Bild. Etwas Kaltes und Trockenes lag auf seinen Lippen, wenn er wohlwollend aussehen wollte, und dieser Ausdruck wurde noch herber, wenn sich sein Mund zu einem unzufriedenen oder verächtlichen Lächeln verzog. Bei alledem trat an ihm in keiner Weise ein herrisches Wesen hervor; man hätte ihn beim ersten Blick eher etwa für einen wohlmeinenden Vater gehalten, der zu seinen Kindern wie zu erwachsenen Menschen spricht. Und doch fühlte man bald, daß jeder und jedes sich seinem Willen beugen mußte. Wehe dem Knaben, der es wagte, sich gegen die Gunst oder Ungunst des Obersten gleichgültig zu zeigen!

Die Wörter ›der Oberst‹ waren beständig auf aller Lippen. Andere Offiziere nannte man mit ihren Spitznamen, aber Girardot wagte niemand einen Spitznamen zu geben. Eine Art geheimen Zaubers knüpfte sich an seine Person, als wäre er allwissend und allenthalben gegenwärtig. Allerdings verbrachte er den ganzen Tag und ein gut Teil der Nacht in der Schule. Selbst während wir Unterricht erhielten, strich er herum und untersuchte unsere Kommoden, die er mit eigenen Schlüsseln öffnete. In der Nacht verwandte er viele Stunden darauf, in kleine Bücher, die eine ganze Bibliothek füllten, mit besonderen Zeichen und mit Tinte von verschiedenen Farben alle Fehler und Vorzüge jedes Schülers einzutragen.

Spiel, Lachen und Unterhaltung hörten auf, wenn wir ihn sich langsam durch unsere geräumigen Zimmer bewegen sahen, Hand in Hand mit einem seiner Günstlinge und den Körper vorwärts und rückwärts wiegend. Dem einen Knaben lächelte er zu, einem andern sah er scharf in die Augen, einen dritten streifte er mit gleichgültigem Blicke, und beim vierten verzog er die Lippen ein wenig, und daraus schloß ein jeder, daß er dem ersten Knaben gewogen war, daß er sich gegen den zweiten gleichgültig verhielt, daß er den dritten absichtlich unbeachtet ließ, und daß er dem vierten abgeneigt war. Diese Abneigung versetzte gewöhnlich seine Opfer in nicht geringen Schrecken, und um so mehr, wenn sich kein Grund dafür finden ließ. Empfängliche Knaben wurden durch diese stumme und doch unablässig geäußerte Abneigung und die argwöhnischen Blicke zur Verzweiflung gebracht; bei andern war das Ergebnis eine völlige Vernichtung des Willens, wie einer von den Tolstois – Theophil, auch ein Schüler Girardots – in einer autobiographischen Novelle, ›Die Krankheiten des Willens‹, geschildert hat.

 

Das innere Leben des Korps war unter der Herrschaft des Obersten ein klägliches. In allen Kostschulen haben die Neueintretenden allerhand Verfolgungen zu erdulden. Die ›Grünhörner‹ sollen bei dieser ›Probe‹ zeigen, was an ihnen ist, und daß sie keine ›Angeber‹ sind. Zudem wollen die ›alten Häuser‹ den Grünen damit die Überlegenheit einer geschlossenen Kameradschaft vor Augen führen. So ist es in allen Schulen, wie auch in Gefängnissen. Aber unter Girardots Herrschaft gewannen diese Neckereien ein ernsteres Aussehen, auch gingen sie nicht von den Klassengenossen aus, sondern von den Schülern der ersten Klasse, den Kammerpagen, die bereits als Offiziere galten und denen Girardot uns gegenüber eine ganz ungewöhnliche, übergeordnete Stellung zugewiesen hatte. Es war sein System, ihnen freie Hand zu lassen, sich zu stellen, als wüßte er nichts von dem, was sie trieben, und dabei durch sie eine strenge Disziplin aufrecht zu halten. Einem Kammerpagen einen Hieb zurückgeben, das hieß zur Zeit Nikolaus' I. sich in ein Bataillon von Soldatenkindern stecken lassen, und irgend welcher Widerstand gegen die bloße Laune eines Kammerpagen hatte zur Folge, daß die zwanzig jungen Leute der ersten Klasse, mit ihren schweren Linealen von Eichenholz bewaffnet, sich in einem Zimmer versammelten, um den Widerspenstigen mit Girardots stillschweigendem Einverständnis für eine derartige Aufsässigkeit schwer zu züchtigen.

Infolgedessen tat die erste Klasse, was sie wollte. Noch den Winter vorher war es ihr liebster Sport gewesen, die Grünhörner nachts in ihren Nachtröcken in ein Zimmer zusammenzutreiben und sie dann wie Zirkuspferde im Kreise herumlaufen zu lassen, während die Kammerpagen mit dicken Gummipeitschen in den Händen teils in der Mitte, teils außen standen und erbarmungslos auf die Knaben losschlugen. Gewöhnlich endete dann der ›Zirkus‹ nach orientalischer Art in einer scheußlichen Weise. Die moralischen Anschauungen, die damals herrschten, und die schmutzigen Reden, die in der Schule über die Ereignisse nach dem Zirkus umliefen, waren derart, daß es um so besser ist, je weniger man davon spricht.

Das alles wußte der Oberst. Er hatte ein vollkommenes System der Spionage ausgebildet, und nichts blieb ihm unbekannt. Aber solange man nicht wußte, daß er's wußte, war alles in Ordnung. Dem gegenüber, was die erste Klasse tat, die Augen zu schließen, war die Grundlage seines Systems zur Aufrechterhaltung der Disziplin.

Doch es war ein neuer Geist in der Schule erwacht, und nur wenige Monate vor meinem Eintritt war es zu einer Empörung gekommen. In diesem Jahre war die dritte Klasse von ganz anderer Art, als sie bisher gewesen war. Sie enthielt eine Anzahl junger Leute, die wirklich studierten und viel lasen: einige von ihnen wurden auch nachher bedeutende Männer. Meine erste Bekanntschaft mit einem von ihnen – ich will ihn von Schauff nennen – fand statt, als dieser Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ las. Dazu hatten die Schüler der dritten Klasse zufällig in ihren Reihen einige der Stärksten aus der ganzen Schule. Der Längste des Korps gehörte jener Klasse an, wie auch ein sehr starker junger Mann, Koschtow, der mit von Schauff eng befreundet war. Diese dritte Klasse fügte sich dem Joch der Kammerpagen nicht mit derselben Nachgiebigkeit wie die früheren Jahrgänge. Die Übergriffe der Kammerpagen erregten die größte Mißstimmung, und infolge eines Vorfalls, über den ich mich lieber nicht näher auslassen will, kam es zum Kampfe zwischen der ersten und dritten Klasse, wobei die Kammerpagen von ihren Untergebenen tüchtig verhauen wurden. Gerardot vertuschte die Geschichte. Aber die Autorität der ersten Klasse war erschüttert. Wohl gab es noch Gummipeitschen, aber in Gebrauch genommen wurden sie nicht wieder, und Zirkusse und dergleichen gehörten nur noch der Vergangenheit an.

So viel war erreicht, aber die unterste, die fünfte Klasse, die fast ausschließlich aus sehr jungen Knaben bestand, die eben erst in die Schule aufgenommen waren, mußten immer noch unter dem herrischen Auftreten der Kammerpagen leiden. Wir hatten einen schönen, mit alten Bäumen bestandenen Garten, aber den Schülern der fünften Klasse brachte er nur wenig Freude. Sie wurden gezwungen, ein Karussel zu treiben, während die Kammerpagen darin saßen und sich unterhielten, oder sie mußten die Kugeln zurückbefördern, während die jungen Herren Kegel schoben. Ein paar Tage nach meinem Eintritt in die Schule ging ich, da ich sah, wie die Dinge im Garten standen, nicht mehr dorthin, sondern blieb oben. Ich las ein Buch, als ein rothaariger Kammerpage, dessen Gesicht mit Sommersprossen bedeckt war, auf mich los kam und mich sofort in den Garten gehen und das Karussel drehen hieß.

»Ich mag nicht; Sie sehen ja, ich lese,« war meine Antwort.

Der Zorn entstellte sein so wie so nicht allzu liebliches Gesicht. Er wollte auf mich losstürzen. Ich machte mich zur Verteidigung bereit. Er suchte mich mit seiner Kappe ins Gesicht zu schlagen. Ich wehrte mich, so gut ich konnte. Dabei flog seine Kappe auf den Boden.

»Heb sie auf!«

»Heb sie selbst auf!«

Ein derartiger Ungehorsam war in der Schule unerhört. Warum er, der viel älter und stärker war als ich, mich nicht auf der Stelle unbarmherzig durchprügelte, kann ich nicht sagen.

Am nächsten wie an den folgenden Tagen erhielt ich ähnliche Aufträge, doch ich blieb hartnäckig oben. Hierauf suchte man mich durch kleine Nadelstiche bei jedem Schritt aufs bitterste zu kränken in einer Weise, die einen Knaben wohl zur Verzweiflung bringen konnte. Glücklicherweise war ich immer heiteren Gemüts und nahm die Angriffe scherzhaft auf oder achtete ihrer nicht.

Überdies dauerte es nicht lange. Es trat Regenwetter ein, und wir blieben meist drin. Im Garten legte sich die erste Klasse beim Zigarettenrauchen wenig Zwang auf, innerhalb des Gebäudes jedoch versammelte sich ein Rauchklub im ›Turm‹. Dieser wurde möglichst bequem eingerichtet, auch brannte dort beständig ein Feuer. Während die Kammerpagen jeden andern Schüler, den sie rauchend antrafen, hart bestraften, saßen sie beständig am warmen Ofen, schwatzten miteinander und rauchten mit Behagen ihre Zigaretten. Ihre liebste Rauchzeit war nach zehn Uhr abends, wenn alle zu Bett gegangen sein sollten.

Ihr Klub blieb bis nach halb elf beisammen, und um vor unerwarteten Besuchen Girardots sicher zu sein, mußten wir Wache stehen. Die kleinen Burschen aus der fünften Klasse wurden je zwei auf einmal aus ihren Betten geholt und mußten sich an der Treppe herumtreiben und melden, wenn etwa der Oberst kam.

Wir beschlossen, diese Nachtwachen nicht länger auszuführen. Lange Beratungen wurden gehalten, und die höheren Klassen um ihre Meinung, wie wir es am besten anfangen sollten, befragt. Sie kamen endlich zu dem Entschluß: »Weigert euch allesamt, die Wache zu übernehmen, und wenn sie anfangen, euch zu prügeln, was sie sicher tun werden, so geht in möglichst großer Zahl zu Girardot und ruft ihn herbei! Er weiß es gut, aber dann muß er der Sache Einhalt tun.« Die Frage, ob das kein ›Angeben‹ wäre, wurde von Sachverständigen in dergleichen Ehrensachen verneint, die Kammerpagen benähmen sich gegen die anderen nicht wie Kameraden.

Am nächsten Abend kam die Reihe Wache zu halten an Schahowskoi, der schon länger in der Anstalt war, und an Selanow, einen neueingetretenen und so schüchternen Knaben, daß sogar seine Stimme mädchenhaft klang. Schahowskoi wurde zuerst aufgefordert, weigerte sich aber, und sie ließen ihn auch gehen. Darauf wandten sich zwei Kammerpagen zu dem schüchternen Selanow, der im Bette lag, und als er ebenfalls nicht gehorchen wollte, fingen sie an, ihn mit starken Hosenträgern auf das roheste zu schlagen. Da weckte Schahowskoi einige in der Nähe liegende Kameraden auf, und sie liefen schnell zu Girardot.

Auch ich war schon im Bett, als die beiden auf mich zukamen und mich Wacht halten hießen. Ich weigerte mich. Hierauf ergriffen sie zwei paar Hosenträger – wir legten unsere Sachen immer auf einer Bank neben dem Bett zurecht, die Hosenträger oben und die Krawatte quer darüber – und fingen an mich zu schlagen. Im Bette sitzend, hielt ich die Hände vor, schon hatte ich aber ein paar tüchtige Hiebe erhalten, als das Kommando ertönte: »Die erste Klasse zum Obersten.« Die wilden Kämpfer wurden sofort zahm und brachten schleunigst meine Sachen in Ordnung.

»Sage kein Wort!« raunten sie mir zu.

»Die Krawatte quer darüber, ordentlich!« sagte ich zu ihnen, während mir Schultern und Hals von den Schlägen brannten.

Was Girardot zur ersten Klasse sagte, wurde uns nicht bekannt, aber als wir am nächsten Tage in Reih und Glied standen, um hinunter ins Eßzimmer zu gehen, redete er uns in einer auffallend sanften Tonart an und sagte, es wäre traurig, daß Kammerpagen über einen Knaben, der sich mit Recht geweigert hätte, hergefallen wären, und über wen? Über einen neueingetretenen und so schüchternen Knaben wie Selanow! Der ganzen Schule mißfiel diese jesuitische Rede.

Selbstverständlich war es nun aus mit dem Wachestehen und auch mit dem Peinigen der Neueingetretenen; es ist auch nie wieder aufgelebt.

 

Zweifellos hatte durch das Vorkommnis auch Girardots Autorität einen Stoß erlitten, was der Oberst sehr übel empfand. Unsere Klasse und ich insbesondere waren ihm verhaßt (man hatte ihm auch die Karusselgeschichte wiedererzählt), und diese Abneigung bekundete er bei jeder Gelegenheit.

Im ersten Winter war ich ein häufiger Gast im Hospital. Nach einem Anfall von typhösem Fieber, während dessen der Direktor und der Arzt sich wahrhaft väterlich um mich besorgt zeigten, hatte ich unter heftigen und immer wiederkehrenden gastrischen Anfällen zu leiden. Girardot machte täglich die Runde im Hospital, und da er mich so oft dort vorfand, sagte er jeden Morgen halb im Scherz auf französisch zu mir: »Hier ist ein junger Mann, der ist so gesund wie die neue Brücke und liegt im Hospital herum.« Ein- oder zweimal erwiderte ich in spaßhaftem Tone; wie ich dann aber aus seiner beständigen Wiederholung die schlechte Absicht herausmerkte, verlor ich die Geduld und geriet in Zorn.

»Wie können Sie das sagen!« rief ich. »Ich werde den Doktor bitten, Ihnen das Zimmer zu verbieten« und so weiter.

Girardot wich zwei Schritte zurück, seine dunklen Augen blitzten, und seine Lippe wurde noch länger und dünner. Schließlich sagte er: »Ich habe Sie beleidigt, wie? Gut, wir haben im Saale zwei Kanonen, wollen wir uns schlagen?«

»Ich scherze nicht, und ich sage Ihnen, ich dulde Ihre Anzüglichkeit nicht länger,« fuhr ich fort.

Er wiederholte jene Worte nicht mehr, betrachtete mich aber fortan mit noch größerer Abneigung.

Alle sprachen von Girardots Abneigung gegen mich, aber ich achtete nicht darauf, und meine Gleichgültigkeit steigerte wahrscheinlich seine üblen Gefühle für meine Person. Achtzehn Monate lang versagte er mir die Epauletten, die gewöhnlich den Neueintretenden nach ein- oder zweimonatigem Aufenthalt in der Schule, wenn sie sich nur ein wenig mit dem militärischen Drill vertraut gemacht hatten, verliehen wurden, doch ich fühlte mich auch ohne dieses militärische Schmuckstück nicht unglücklich. Schließlich unternahm es ein Offizier – der beste Exerziermeister in der Schule, ein Mann, der in das Exerzieren einfach vernarrt war – mich einzuüben, und als ich alle Griffe und Bewegungen zu seiner vollsten Zufriedenheit beherrschte, wollte er mich selbst Girardot vorexerzieren lassen. Der Oberst lehnte es zweimal hintereinander ab, so daß sich der Offizier persönlich beleidigt fühlte, und als ihn einmal der Direktor des Korps fragte, warum ich noch keine Epauletten hätte, antwortete er geradezu: »Der Bursche ist schon recht, aber der Oberst mag ihn nicht.« Hierauf ersuchte Girardot selbst, wahrscheinlich nach einer Bemerkung des Direktors, um eine Wiederholung der Prüfung und gab mir die Epauletten noch an demselben Tage.

Doch der Einfluß des Obersten war in schnellem Schwinden begriffen. Es änderte sich der ganze Charakter der Schule. Zwanzig Jahre lang hatte Girardot sein Ideal zu verwirklichen gesucht, das heißt, er hatte danach gestrebt, hübsch gekämmte, gelockte und mädchenhaft aussehende Jünglinge aufzuweisen und dem Hofe Pagen zuzuführen, die an Feinheit der Manieren den Höflingen Ludwigs XIV. nicht nachstanden. Ob sie sonst etwas lernten oder nicht, danach fragte er wenig; seine Lieblinge waren die, deren Toiletten mit allen Arten von Nägelbürsten und Parfümflaschen ausgestattet waren, deren ›Privatuniform‹, die wir anziehen durften, wenn wir Sonntags Eltern oder Verwandte besuchten, untadelig war, und die den elegantesten Diener zu machen verstanden. Wenn Girardot früher Probevorstellungen von Hofzeremonien abgehalten hatte, wobei ein Page ein rotgestreiftes Bettuch um sich schlug, um die Kaiserin bei der Zulassung zum Handkuß darzustellen, näherten sich die Schüler der Kaiserin-Puppe fast mit religiöser Ehrerbietung, vollzogen die Zeremonie des Handkusses mit rührendem Ernste und entfernten sich wieder mit höchst eleganter Verbeugung. Doch jetzt machten sie, wenn sie auch bei Hofe noch so elegant auftraten, bei den Proben so bärenmäßige Verbeugungen, daß alle vor Lachen platzen wollten, während Girardot einfach vor Wut außer sich war. Früher hatten die jüngeren Knaben, die man zu einer Hofmatinee nahm und denen deshalb ihr Haar gekräuselt worden war, die Locken so lange zu behalten gesucht, als sie nur dauern wollten, wenn sie jetzt aber vom Schloß zurückkamen, so war es ihr erstes, ihren Kopf unter ein Kaltwasserrohr zu bringen, um die Locken los zu werden. Ein weibisches Aussehen rief nur Gelächter hervor. Zu einer Matinee befohlen zu sein, um dort als Schaustück zu dienen, galt jetzt mehr als Plage denn als Gunst. Und als die kleineren Knaben, die man gelegentlich ins Schloß kommen ließ, um dort mit den jungen Großfürsten zu spielen, einmal sahen, daß diese bei einem Spiele in ihr Taschentuch Knoten machten und damit tüchtig losschlugen, machte es einer von den unsern ebenso und schlug den Großfürsten so, daß er zu weinen anfing. Girardot war entsetzt, während der alte von Sebastopol her bekannte Admiral, der Gouverneur des Großfürsten war, unsern Kameraden nur lobte.

Ein neuer Geist, voll von Eifer und ernstem Streben, entwickelte sich in unserm Korps wie in allen andern Schulen. In früheren Jahren, wo die Pagen sicher waren, auf eine oder die andere Weise die für eine Beförderung zum Gardeoffizier nötigen Zeugnisse zu erhalten, lernten sie in den untersten Klassen so gut wie gar nichts und fingen erst in den letzten zwei Jahren an, sich mehr oder weniger dem Studium zu widmen. Jetzt waren die unteren Klassen sehr lerneifrig. Auch der moralische Ton war ein ganz anderer geworden, als er wenige Jahre früher war. Auf orientalische Vergnügungen blickte man mit Abscheu, und ein oder zwei Versuche, die alten Unsitten wieder aufleben zu lassen, führten zu Skandalen, von denen man sogar in der Petersburger Gesellschaft sprach. Girardot wurde entlassen. Man gestattete ihm nur, seine Junggesellenwohnung im Schulgebäude zu behalten, und wir sahen ihn nachmals oft in seinen langen Soldatenmantel gehüllt daherschreiten, in Gedanken versunken, die, wie ich vermute, trauriger Natur waren, denn er konnte den neuen sich mit reißender Schnelle im Pagenkorps entwickelnden Geist nur verdammen.

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