Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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I

Erstes Kapitel

Sternenstunde

Aus freundlichen Leserkreisen bin ich wieder und wieder gefragt worden, warum ich meine Jugenderinnerungen, die mit der Übersiedlung unserer Familie nach Italien abschließen, nicht später wieder aufgenommen und fortgeführt habe. Man wollte die zahlreichen Sonderdarstellungen, die den einzelnen Gliedern meines Hauses sowie den Menschen meiner späteren Umwelt gewidmet sind, nicht für einen vollwertigen Ersatz nehmen, weil man in dem absichtlichen Zurückstellen der eigenen Person eine Art Ausweichen zu sehen meinte, was es ja in gewissem Sinne auch war. Im Augenblick, wo ein geliebter Mensch die Augen schließt, erlischt ganz plötzlich die Tagesbeleuchtung mit den durch sie hervorgebrachten Schatten und Verzeichnungen, die großen Grundlinien ordnen sich in ihrem eigenen Lichte zu dem gottgewollten Urbild der unvollkommenen und sich widersprechenden irdischen Erscheinung. Mit diesem hat der Biograph als monumentaler Künstler, der er sein muß, zu tun, und er besorgt sein zartes und verantwortungsvolles Amt am besten, wenn er nicht sich selber als Gegenspieler zu den Dargestellten auf die Bühne begibt. Ich trat 10 zurück, um ihnen an keiner Stelle durch meinen hereinfallenden Schatten das Licht zu beeinträchtigen. Weil ich aber einem eng verbundenen Familienkreis angehört habe, dessen einzelne Glieder alle schicksalhaft aufeinander bezogen waren – ein jedes von den andern grundverschieden, aber jedes für sich eine einheitliche Persönlichkeit –, so kann ich kein Kapitel meines Lebens aufrollen, ohne daß das ganze Sternbild sich mitbewegt. Ich kann dem Leser jedoch nicht zumuten, sich die Untergründe und Zusammenhänge aus den verschiedenen Erinnerungsbüchern zusammenzusuchen. Da bleibt nichts übrig, als gelegentlich in den alten Farbentopf zu greifen und den zuvor in ihrer Lebensfülle geschilderten Gestalten ihr Erdenkleid wenigstens leichthin wieder umzuhängen. Dabei ist es unvermeidlich, daß aus meinem Leben heraus gesehen die zuvor nur in ihren eigenen Werten und Rechten Geschilderten nunmehr anders erscheinen und das ganze Blickfeld sich verändert. Auch von den ausgeprägten Gestalten, die von außen her meinen Weg gekreuzt haben, sind die meisten entweder schon in Sonderabhandlungen dargestellt, oder sie stehen irgendwo verkleidet in meinen Büchern, dann freilich so verwandelt und ineinander umgegossen, daß sie sich selber nicht mehr erkennen würden noch ihre Glieder an sich zu nehmen vermöchten, da das eine vom einen, das andere vom andern stammt, und diese gemischten Bestandteile nunmehr natürlich wie bei Lebenden ineinandergreifen und neue Individualitäten bilden. Ich glaube, der große Schöpfer hält es auch nicht anders, als daß er seine Gebilde immer wieder mischt und anders zusammensetzt. Wie sollte ich solche vertauschten Glieder wieder voneinander lösen und jedem das seine zurückgeben? 11 Die selbstgeschaffenen Bilder sind dem Urheber, der sie mit Teilen seines eigenen Wesens verkittet, glaubhafter und wesentlicher als die leibhaften Vorlagen, die, nachdem sie einmal diesen Dienst geleistet, in der Erinnerung zurücktreten und verblassen. Was die Dichtung sich einmal zueigen genommen hat, das gehört ihr für immer und kommt für die Rückversetzung in die Wirklichkeit nicht mehr in Betracht. Ja, selbst mein eigenes Leben ist zum großen Teile nicht mehr mein, da es schon durch hundert Kanäle, in Spiegelungen und Parallelen und in wirklichen Episoden, die einmal mein waren und jetzt den erfundenen Personen gehören, von mir abgeflossen ist und damit ebenfalls auf weite Strecken für die Selbstbiographie unbrauchbar geworden. Bleibe es, wohin ich es gegeben habe, sonst müßte manches, was hier nur noch flüchtig gestreift werden kann, einen viel weiteren Raum auf diesen Blättern einnehmen.

Wenn ich mich nun trotz der beschränkenden Umstände doch zuletzt noch von meinem Vorsatz, die Feder nicht mehr zur Selbstdarstellung einzutauchen, abwendig machen lasse, so bewegen mich dazu vor allem die mannigfachen irrigen Vermutungen über mein Werk und Leben, denen ich besonders bei Gelegenheit meines achtzigsten Geburtstags in der Presse begegnet bin. Diese zu berichtigen liegt mir nicht nur als Einzelpersönlichkeit, sondern auch als Trägerin wertvoller Familien- und Kulturüberlieferungen ob. Man kann aber gegen solche Mißverständnisse nicht im einzelnen angehen, man kann nur an Stelle der Verzeichnungen das richtige Bild setzen, wozu außer mir selbst niemand in der Lage ist, weil sich mein Leben zum größten Teile außerhalb Deutschlands abgespielt hat und von seinen früheren Zeugen nur noch wenige am 12 Leben sind. Daß ich nicht mehr mit der Fülle bunter Einzelheiten und in der klaren zeitlichen Abfolge berichten kann wie in den Schilderungen »Aus meinem Jugendland«, versteht sich von selbst. Vom andern Zeitufer her verwandeln sich die Gestalten, die die Räume unserer Erinnerung bevölkern, aus selbständig handelnden Personen mehr und mehr in symbolische, sie werden die unbewußten Träger schicksalformender Zeit und Lebensgewalten, treibender und hemmender, mit denen man sich am Ende auseinanderzusetzen hat.

Es kann sich also nur um das Wagnis einer Sinndeutung des eigenen Daseins handeln, und dies ist es ja auch ganz eigentlich, wozu ich aufgerufen bin.

Freilich, hier stutze ich aufs neue. Kann aus einem stillen Einzelgeschick, das abseits von dem großen Strom der Zeitgeschicke verlaufen ist, überhaupt so etwas wie ein versteckter Sinn, wie eine absichtliche Führung herausgelesen werden? Ist es nicht ausschließlich eine Sache der Träger des Weltgeschehens, uns zu sagen wie sie wurden, was sie sind, und wohin sie zielen? Das Amt des Dichters ist ein leiseres und so schwer mit Worten zu umzirken. Denn die künstlerischen Befruchtungen gehen im Dunkel vor sich, und das menschliche Leben in seinem Ablauf weiß wenig von sich. Ich habe das Menschenwesen, das ich mit dem Wörtlein »Ich« bezeichnen muß, nie so lange und tief ins Auge gefaßt wie die äußeren Erscheinungen, und die Feder, die sich mit ihm beschäftigen soll, ist bei der ungewohnten Aufgabe immer in Versuchung, auf ein Außerpersönliches abzugleiten. Seine Bedeutung für mich bestand vor allem darin, daß es geistiges Auge war, mein Auge, Organ, die Gegenstände 13 wahrzunehmen, und Mittelpunkt, in dem die Ströme des Lebens sich kreuzten, nicht selber Gegenstand der Betrachtung. Wo ich den Blick auf mich selber richten will, sehe ich mich wie dunkel geführt nach dem Unerreichlichen wandern. Indessen habe ich doch stets in meinem Dasein etwas Gleichnisartiges gespürt und sehe die überdauerten Zeiten und Zustände sich in seinem langen Laufe spiegeln. So sei denn der Versuch gemacht, von dem was mitteilbar ist, eine Anschauung zu geben.

Hier muß ich nun zunächst einer persönlichen Eigenheit gedenken, die mir erst ganz spät durch den mir fremden Zwang, mich mit mir selbst wie von außen her zu befassen, ganz deutlich bewußt wurde: daß mir nämlich die Zeit niemals ein linearer Begriff gewesen ist. Die Dinge erschienen mir nicht im Verfolg, eines aus dem anderen abgeleitet und eines das andere ablösend; sie umstanden mich im Ring als zeitlos gleichzeitige Gegenwart. Es gab da nichts eigentlich Vergangenes, nicht Anfang und Ende, Jugend und Alter, sondern der Kreis hielt alles beisammen, im Kreis war das Leben ewig. Keine Entwicklung vollzog sich bei mir linear, sondern immer nur durch Erweiterung des Kreises, der sich durcheinanderschob, mit mir langsam in der Spirale aufstieg und mit zunehmenden Jahren die Dinge nur aus immer zunehmender Höhe zeigte. Meine Lieblingsfächer, denen ich von klein auf leidenschaftlich nachging – auf eigene Hand wie gezwungenermaßen alles was ich trieb –, waren die Mythen, Sagen, Mären der Völker, nicht Geschichte, nicht fertige Literatur; diese stand mir erst an zweiter Stelle – sondern ihr Rohstoff: Volkskunde, Volksgesang, Sprache, Sprachen mit ihrem unterirdisch verschlungenen Wurzelwerk: alles Geistige, was zeitlos 14 und gleichsam vegetativ lebt, war mir natürliche Heimat. Wollte ich mit der Geschichte denken, so bedurfte es einer inneren logischen Umstellung, ich mußte aus dem Kreis in die Linie treten. Ebenso geht auch mein eigenes Schaffen nicht linear, sondern im Kreise vor sich, als läge die ganze Arbeit wartend in einer unsichtbaren Tiefe und brauchte nur gehoben zu werden. Wo beginnen? In den seltensten Fällen vom Anfang her, sondern es blitzt vom Boden auf – irgendein Glied der Kette – schnell muß es festgehalten werden, denn schon blitzt es an einer anderen Stelle, an einer dritten und vierten, der Stift darf sich eilen um nachzukommen. So geht es weiter, bald da, bald dort, ohne Zusammenhang. Es sind lauter Stücke des Ganzen, bestimmt die Entwicklung nach einem vorschwebenden aber noch nicht streng festgesetzten Plan zu schieben und dadurch erst volle Klarheit auch in diesen selbst zu bringen, fertige Bausteine, die wenig oder gar nicht mehr zubehauen werden müssen und ihre Stelle im Bauwerk haben, die auf sie wartet. Geht eines dieser Stücke zu Verlust, so daß es willensmäßig ersetzt werden muß, und es findet sich später das Verlorene wieder, dann zeigt sich erst, wie viel frischer, treffender, ursprünglicher die erste Eingebung gewesen. Nun umringen sie mich im Kreis, die von selbst Gekommenen, aber damit erst beginnt, und nicht selten unter großen Wehen, die eigentliche Arbeit: nun sollen sie zu ineinandergreifender Ordnung gefügt und gegliedert, aus dem üppiggesproßten Nebeneinander ein logisches Nacheinander gemacht werden. Und hier fühle ich deutlich, wie sich das elterliche Blut in mir gemischt hat. An Stelle des Chaotischen, das ich als Erbteil meiner höchst genialen, aber allem Planmäßigen abholden, im 15 Urstoff wesenden Mutter in mir kenne, tritt nun das Blut des Vaters mit dem strengen Zwang zur Gesetzlichkeit und läßt mich nicht ruhen, bis ich diese ganze lose Gesellschaft wie eine Koppel wildweidender Fohlen zusammengespannt und zu richtiger Gangart fest in die Zügel genommen habe. Dieser Zwang von der anderen Seite her, ohne den ein bewußtgewolltes, rhythmisch-abgewogenes Kunstgebilde unmöglich wäre, duldet kein romantisches Durcheinander, kein unorganisches Gefüge, und er waltet um so strenger, je größer die Anarchie, durch die er sich durchzuringen hat. Daß eine solche Arbeitsweise nicht erleichternd ist, liegt auf der Hand, aber sie hat den Vorteil, daß sie jedes künstliche, erzwungene Füllsel ausschließt, weil sie immer mehr Stoff zur Verwendung hat als sie aufbrauchen kann, und darum nur Entstandenes, nichts Gemachtes verwendet. Wie der Maler, der sich nie genug tut, unter sein Werk ein pingebat, kein pinxit schreibt, so gibt es auch für meine Arbeit kein Fertigwerden, weil sie mit mir geht, sich dreht, von allen Seiten zugleich wächst, wie das wallende Leben, aus dem sie geholt ist.

Ganz verwickelt wird der Hergang, wenn durch die heftige Aufwühlung tiefere, unterhalb des zu bearbeitenden Stoffes liegende Schichten der Einbildungskraft in Bewegung gesetzt werden und ihre Gebilde zwischen die oberen drängen. Sie können so gewalttätig werden, daß sie das Strömen der ersten hindern, indem sie sich vor diese schieben. Es bleibt nichts übrig, als schnell auf andere Zettel ihr Ungestüm abladen und zusehen, wie man sich wieder auf den ersten Weg zurückfindet. Auf diese Weise kann aber auch das Chaos Herr werden und alle Gestaltung verschlingen, wodurch mir unzählige 16 Entwürfe in der Hand zerbrochen sind: die andrängenden Rivalen hatten sie nicht geduldet. Durch diese Vorgänge ist die Überzeugung von der Präexistenz der Kunstwerke in mir geweckt worden, die ich in jüngeren Jahren verschiedentlich ausgesprochen habe: daß sie in irgendeinem undenkbaren Raum fertig weilen und daß, wer sie ans Licht bringt, nur ihr Finder, nicht ihr Schöpfer ist, wenn sie auch während der Hebung die Züge von ihm annehmen.

Mit ähnlichen Schwierigkeiten hat sogar die Darstellung des eigenen Lebens bei mir zu kämpfen: indem Erlebtes, Gedachtes, Gewolltes, Erreichtes und Unerreichtes mich in bewegtem, mit mir wandelndem Kreise umstehen, kommt bei der leisesten Berührung alles ins Wallen, so daß sich keine magere Gerade ergeben kann. – Ein Tagebuch habe ich nie geführt: Tagebücher, diese Tummelplätze des Selbstkults, erschienen mir stets, soweit sie sich nicht auf das Verzeichnen von Geschehnissen beschränken, durch die Belichtung von Keimvorgängen, die kein Licht wollen, und durch vorzeitiges Kristallisieren des Werdenden als schädlich, wenn nicht gar als schamlos. Die Hand sträubte sich sogar, Namen niederzuschreiben, die im Begriffe standen im Leben eine noch nicht ausgesprochene Bedeutung zu gewinnen. Alles Namennennen ist Magie: die Recken des Nordlands hielten es sogar für todbringend, während des Kampfes mit Namen gerufen zu werden. Durch Bereden wird jedes stille innere Weben gestört; ihm darf sich nur in geweihten Stunden das Wort der Dichtung nähern, die es gleich nach ihren eigenen Gesetzen leise umgestaltet. Also muß bei den Aufzeichnungen über mein Leben die innere Folge und Wahrheit an Stelle der genaueren 17 Chronologie stehen; ich werde erzählen, wie der wallende Kreis es mit sich bringt, bald vor-, bald zurückgreifend, ohne die Erinnerung in eine künstliche Linie zu zwängen.

So günstig nach der Meinung der Astrologen die himmlischen Gestirne auf meine Geburt schienen, so ungünstig, ja unfreundlich war die äußere, die bürgerliche Konstellation, die mich empfing, und der Widerstreit der beiden Einflüsse begleitete mich durchs Leben. Der günstige trat in allem Naturgegebenen zutage: zunächst in der Abstammung, in dem Hineingeborensein in ein durch die höchsten Belange veredeltes, ganz von den großen Zielen der Menschheit erfülltes Elternhaus, weshalb ich mir ein höheres Leben nicht zu erkämpfen brauchte, sondern es durch die Geburt besaß. Ferner in der glücklichen Saugekraft, die mich fast ohne Leitung das mir Zukommende, mir Verwandte schnell erfassen, das Nichtverwandte, Nichtgemäße ablehnen ließ, wodurch sich frühe in mir ein unzerstörbares Weltbild gestalten konnte. Hinzuzählen darf ich noch einen wahrhaft brüderlichen Frater Corpus, der mich in nichts belästigte oder hemmte, und eine Innenwelt, in der kein brütendes Ich als »dunkeler Despot« sich selber Unheil spinnend und wehbereitend saß – ein Vorteil, der mir erst im Lauf des Lebens an den vielen gegenteiligen Beispielen die ich sah bewußt geworden ist. Aber mehr als für alles andere danke ich der Gottheit für das schönste ihrer Geschenke die Fähigkeit zur Freude die mir auch in tiefdunklen Tagen niemals ganz abhanden kam und die mich aus den trübsten Erfahrungen stets aufs neue meine Fahne retten ließ mit dem Wahlspruch: Mensch, sei immerzu dein eigener lachender Erbe – und wenn es unter Tränen wäre.

18 Der Einfluß der bösen Gestirne äußerte sich vor allem in dem herben Dichterlos meines Vaters, das auch das Schicksal seiner Kinder und vorwiegend das der Tochter überschattete. Ich habe ihn in meiner Hermann-Kurz-Biographie geschildert, wie er in unserer Mitte stand in seiner gebietenden und doch so milden Größe wie ein König ohne Land; wir Kinder fühlten die Bedeutung seiner Werke, bevor wir sie selber lesen konnten, aus der Begeisterung unserer Mutter und der wenigen ihm gebliebenen Freunde, und fanden doch seinen Namen nicht vom Ruhm umstrahlt, sein Verdienst weit unter dem Werte eingeschätzt, von viel Geringeren verdunkelt, den Ertrag seiner Arbeit in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer inneren Größe. Die Mutter hatte uns gelehrt, daß es eine Ehre für uns war, weniger zu haben als die Kinder der befreundeten Häuser, die keinen deutschen Dichter zum Vater hatten, aber dieses Los war nichtsdestoweniger eine der frühen Belastungen, mit denen ich ins Leben trat. Noch in die Fremde folgte mir die Pein, daß ich denen, die mich nach meinem Vater fragten, nicht sagen konnte, wer dieser Dichter gewesen, dessen Namen niemand nannte: der Tochter allein hätte man ja nicht geglaubt. Aber lieber wollte ich ihn ganz im Dunkel wissen als nur halb gewürdigt und bei den Geistern zweiten Ranges unter seinen Zeitgenossen eingereiht. Meine Brüder haben gewiß die Sachlage nicht minder herb empfunden als ich, allein sie konnten nichts dazu, darum schwiegen sie: ihnen lag nur ob, auf ihren eigenen vorgezeichneten Wegen ihrer Herkunft Ehre zu machen, und das haben sie getan. Mir aber war von der Vorsehung mit dem Erbe des väterlichen Berufs auch der Auftrag mitgegeben, der langen Ungerechtigkeit entgegenzutreten, 19 für den Verkannten, Halbvergessenen den Platz im Nationalheiligtum seines Volkes, der ihm zukam, einzufordern. Jede Literaturgeschichte, die schweigend über ihn wegging oder ihn nebensächlich abtat, jede mißkennende oder unzulängliche Kritik trieb mir mit schmerzhaftem Stachel die Mahnung von neuem ins Herz. Aber durfte ein junges, noch ganz ungeschultes Mädchen, das nichts war noch hatte, nicht einmal einen schirmenden, fördernden Lebenskreis, hoffen, ihrer Stimme dereinst soviel Gehör zu verschaffen, da sie doch erst die eigenen Fähigkeiten reifen lassen mußte, den Kampf, der seine Kraft zu früh gebrochen hatte, gegen eine ideallose Zeit für sich selber aufnehmen und aus noch erschwerterer Stellung, der weiblichen heraus, durchführen, bevor sie mit ihrer Sache auch der seinigen dienen konnte? Das zu hoffen war Vermessenheit, ich hoffte es doch, wenn auch nur in einer vorschwebenden Ahnung, in einem Lichtstrahl, der aus verhüllter Zukunft herüber fiel: daß es dennoch so kommen werde. Ich habe oftmals in Zeiten, wo ich nicht wußte, wo aus noch ein, dergleichen unausschaltbare innere Gewißheit gehabt, daß mein Ziel irgendwie mich finden werde, daß ohne gewaltsames Drängen die Zeit selber mir die Frucht reifen werde. In jener Nacht des 10. Oktober 1873 zu Tübingen, als mein Bruder Edgar, damals ein blutjunger Arzt, bei dem jählings geschiedenen Vater allein die Totenwache hielt, gelobte er ihm, dem ererbten Namen durch die eigene Laufbahn Auszeichnung zu erwerben: er hat dieses Versprechen in seinem pfeilgeraden sicheren Lauf glänzend gelöst. Ich blieb in meinen magischen Kreis gebannt, wo die Enden beisammen sind, und mußte auf Ort und Stunde warten, um das meine, noch kühnere, zu lösen.

20 Der zweite hemmende Einfluß, der über meinem Leben stand, war mein Geschlecht. Kaum dürfte je die Frau in Deutschland niedriger gestanden haben als im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, in das meine Jugend fiel. Daß es eine Bettina, eine Karoline Schlegel, eine Günderode, gegeben hat, Frauen, von denen ihre Zeit, die ja auch die Zeit Goethes war, die Färbung mit empfing, das wirkte nicht mehr nach, es lag als bloßer Wissensstoff eingesargt in der Literaturgeschichte. Eine Pflicht zur Ausbildung der Töchter kannte weder der Staat noch die Familie, es stand ganz bei den Eltern, ob und was sie diese lernen lassen wollten. In den bürgerlichen Kreisen, auch in den gebildeten, soweit sie nicht wohlhabend waren, begnügte man sich oft genug damit, ihnen die häuslichen Arbeiten beizubringen und sie zu unbezahlten Dienstboten heranzuziehen, besonders wenn das Studium der Söhne die elterlichen Mittel erschöpfte. Und wenn auch bessergestellte Häuser die ihrigen zur Schnellbleiche in irgendein französisch sprechendes Institut schickten, der Geist, der die Erziehung durchwaltete, blieb der gleiche. Erwachsen, hatte ein solches Mädchen keine dringendere Aufgabe, als sich nach dem künftigen Ernährer umzusehen, der die Sorge für sie übernahm und dem sie nun mit ihrem ganzen Sein zu dienen, nach dem sie sich bis zur völligen Aufgabe ihres eigenen gottgeschaffenen Selbst zu modeln hatte. Der scharfe Wettbewerb auf dem Heiratsmarkt lähmte jedes höhere Streben und verdarb auch den weiblichen Charakter. Selbst das hohe Amt der Mutterschaft vermochte ihn nicht mehr zu heben, denn wenn der Wettlauf unter Zurückdrängung der Mitbewerberinnen gewonnen war, so begann er bald aufs neue und fast noch 21 schärfer um die Zukunft der heranwachsenden Töchter. Es fragt sich, ob nicht die physische Mutterschaft, die ihr Hegen und Sorgen auf den Kreis der eigenen Geburten beschränkt, unter Umständen dem höheren Muttertum im Wege ist: ausschließlich auf einen Punkt gerichtete Liebe macht liebeleer gegen die anderen. Darum gehörte wirkliche Frauenfreundschaft, ja, nur ein echtes Wohlwollen von Frau zu Frau zu den seltensten Ausnahmen. So blieb nicht nur der Geist der Frau völlig unentwickelt und in einen umlaufenden Kreis von Kleinigkeiten gebannt, ohne Aussicht auf das Große und Ganze, auch ihr Seelenleben war entwürdigt und entadelt. Schlimmer noch als der tatsächliche Zustand war es, daß dieses öde, verkümmerte Gebilde als Idealbild der deutschen Frau die bürgerliche Gesellschaft beherrschte. Gehe ich fehl, wenn ich die Gestalt des Gretchen dafür mitverantwortlich mache? Es ist ein seltsames Verhängnis, daß gerade der Dichter, der dem Wesen der Frau am nächsten kam und es in vielfachen Spiegelungen am echtesten dargestellt hat, die Gestalt erschuf und mit dem Schmelz der höchsten Poesie umkleidete, die die deutsche Frau um Jahrhunderte zurückwerfen half. Der Gretchenkult war ein allzu bequemer, man konnte ihr in Hemdärmeln dienen, sie stellte keine kulturelle Forderung an den männlichen Partner und erhöhte sein Selbstgefühl durch ihre tiefe Unterworfenheit. Noch tönt mir aus Jugendtagen das vielgesungene Brautlied in die Ohren: »Mein hoher Herr, du willst herab dich lassen / beseligend zu deiner armen Magd.« Heine dagegen sang frivol: »Den Leib möcht ich noch haben, / den Leib so zart und jung, / die Seele könnt ihr begraben, / hab selber Seele genung.« Demütige Magd oder Weibchen 22 – Leib ohne Seele – das machte der männliche Formungswille aus dem handlichen Plastilin. Und das Plastilin kam ihm willig entgegen, es war stolz auf seine Hörigkeit die keine Mühe kostete, es trug seine geistige Armut wie einen Schmuck, worin der Liebeszauber steckt. Manche gab sich sogar aus Gefallsucht ärmer und schwächer als sie war. Sie durfte ja gar keinen geistigen Besitz mit in die Ehe bringen, sie hatte das weiße Blatt zu sein, auf das der Mann seine Schrift eintrug. Eine Schrift, die auch wieder zu löschen war im Fall einer zweiten Ehe, denn sie pflegte nicht allzutief einzudringen. Ihrer Wißbegier, wenn sie solche hatte, wurden alle Gegenstände zerkleinert wie einem Vögelchen in den Schnabel gesteckt. Ich kenne eine Damenbücherei aus dem vorigen Jahrhundert, wo sich noch ein Kuriosum befindet, eine »Sternkunde für Damen«! Alle Gebreiten des Lebens gehörten ausschließlich und unweigerlich dem Manne, die Frau galt in der Gesellschaft nur als sein Anhängsel, auch wenn sie zufällig die Bedeutendere war; verwitwet fiel sie in ihr Nichts zurück. Als Unvermählte blieb sie lebenslänglich mißachtet und auf die Seite geschoben. Nur selten gelang es einer, durch große künstlerische Leistung auf irgendeinem Gebiete diesen Bann zu brechen. Sonst war es ein Kleben im Pech, mit leerem Kopf und unterdrückten Lebensinstinkten, im Herzen nur die Angst, den rechten Zeitpunkt zu verpassen. Wieviel einfacher und natürlicher lebte sichs doch im Volke; bei Töchtern aus guten Häusern waren Schwermut und Wahnsinn keine seltene Erscheinung. Da kam dann freilich der Mann als Erlöser und konnte nicht lange daraufhin angesehen werden, ob er der Rechte sei: die Sache war eilig, nach zwanzig hörte schon meist die 23 Jugend auf, denn der Durchschnittskäufer verlangte die frischeste Ware. So blieb die Frau ein unerlöster Mensch und ein durch und durch gefälschtes Erzeugnis einer falschen Zivilisation; ihr wahres Wesen kannte niemand, auch sie selber nicht. – Von Schiller stammt der Ausspruch, daß die Frau nicht nur kein geistiges Eigenleben besitze, sondern daß der Mann auch in ihrem Geist keine dauernde Pflanzung anlegen könne. Goethe hat ihr wenigstens das Recht zugebilligt, dabei zu sein, »wenn kluge Männer reden«. Vergaßen die Dichter, daß am Aufgang der Dichtung ein Frauenname steht, vor dem das klassische Altertum sich neigte, der ewige Name Sappho? Wo von der Einzigen eine Strophe laut wird, da versinken die Jahrtausende zwischen ihr und uns. Sie nennt ihren Quittenbaum, und wir hören den lauen Regen Ioniens durch seine Zweige rauschen; steht er nicht unten in unserem Garten? Die Griechen stritten nicht, ob solche Höhe der Frau erreichbar sei, sie ließen die Wahrheit der Erscheinung gelten. – In Athen war die Frau durch Gesetz und Sitte unterdrückt, aber die Dichtung des Sophokles hob sie auf die höchste, menschlicher Natur erreichbare Stufe. Auch hinderte die öffentliche Meinung Aspasia nicht, über Perikles und durch Perikles über Athen zu herrschen. Ebensowenig konnte die Stimme der Allgemeinheit jene Priesterin der eleusinischen Demeter schrecken, die sich allein dem von der ganzen Priesterschaft gegen den Alkibiades geschleuderten Bannfluch zu widersetzen wagte. –

Mit welcher Herrlichkeit treten auch die Shakespeareschen Frauen, die Töchter des Geistes der Renaissance einher! Wie gebietend die königliche Hetäre Kleopatra und das »Überweib« Lady Macbeth. Wie viel Geist, Entschlossenheit und 24 Tatkraft in dem holden Mutwillen einer Porzia, einer Beatrice, in der hingebenden Liebes- und Treuepflicht einer Imogen. Nirgends eine in Demut ausgelöschte Persönlichkeit. Solche Wesenszüge strömen aus der Dichtung ins Leben über und bauen das Wunschbild, dieses hilft die Wirklichkeit bauen. Auch Gottfried Kellers Schweizerinnen stehen kraftvoll und hochwüchsig auf der mütterlichen Erde. Wie aber stand es in der Literatur des vorigen Jahrhunderts um das Bild der deutschen Frau? Man blättere in den Werken des feinen Paul Heyse, des damaligen Lieblings der Leserwelt, den man den Frauenlob jener Tage nennen könnte; wie zerblasen sein Frauenideal und wie spielerisch fast durchweg in seiner Dichtung das tragische Ringen der Geschlechter. Da gibt es meist nur einen holden mädchenhaften Eigensinn zu überwinden, der sich gegen den überlegenen Willen des Mannes aufbäumt, um schnell zerknirscht mit süßen Reuetränen zu seinen Füßen zu sinken, womit das Problem Mann und Weib gelöst ist. Kein heutiger Mann, und wäre er der rückständigste, würde an der Frau, wie jene Tage sie forderten, sein Genüge finden. Die Langeweile, die von der ungeistigen Frau ausging, trieb den geistigen Mann vom Familientisch fort ins Wirtshaus zu Seinesgleichen. Der Grund, warum der Trunk in deutschen Landen zurückgegangen ist, liegt nicht allein in der schlechteren Wirtschaftslage, sondern auch darin, daß der gebildete Mann jetzt bei der gebildeten Frau zu Hause geistige Nahrung findet. Denn auch dem Manne war mit der Entwertung der Frau persönlich nicht gedient. Der Fehler, der in der Rechnung lag, verdarb vielfach auch ihm das Dasein. Im Zusammenleben mit einer kleinlichen, hintergründigen, über 25 Umwegen und Hintertreppen herrschenden Hälfte sanken auch ihm die Flügel, wenn er solche hatte, nieder.

Was große Gelehrte wie Jakob Grimm und J. J. Bachofen über den chthonischen Urgrund des Weibes und ihr aus der Erdverbundenheit hervorgegangenes Übergewicht über das männliche Prinzip in der Vorzeit sagen, das findet man auch heute noch in den meisten alten Ehen. Der Mann ist der Eroberer der Natur, ihre Füllen und Gnaden aber hat die Frau zu verspenden. Hat er in seiner Vollkraft sich die Natur dienstbar gemacht, so beginnt er im Altern sein allmähliches Erliegen vor ihr zu ahnen, und nun klammert er sich an die Frau als an die der Natur immer vertraut Gebliebene, jetzt auch biologisch Stärkere – was keineswegs immer mit ihren meist jüngeren Jahren zusammenhängt – und sucht ihren Schutz. Die Frau wird zur Mutter des Mannes, und der Mutter hängt er wieder wie in der Kinderzeit am Kleid. Man sieht auf der Straße mehr alte Ehepaare wo die Frau den Mann stützt als umgekehrt. Wenn ein alterndes Paar sich untereinander Vater und Mutter nennt, so meint sie den Vater ihrer Kinder, er meint seine eigene Mutter. Eine Reihe der trefflichsten, männlichsten Männer sah ich im Alter die haltbedürftigen Söhne ihrer Frauen werden. Wenn es die Männer voraussähen, so würden sie begreifen, daß es nicht in ihrem Vorteil liegt, die Frau klein und schwach zu wollen, ganz abgesehen von dem Einfluß auf den Nachwuchs: denn wie ihre Frauen sind, so werden sie selbst am Ende ihrer Tage sein.

Die Frage hatte aber auch noch eine andere Seite, die über das Einzelschicksal hinaus ins Allgemeine wirkte. Da die 26 Menschheit ein Ganzes ist und nur durch den Kunstgriff der Natur in zwei Hälften geteilt, um sie besser zu verbinden, so mußte durch die Verkümmerung des einen Geschlechts das andere mitgeschädigt werden, und mittelbar die ganze Nation. Denn die Frau schafft das äußere Gepräge einer Kultur; sie ist die Erzieherin des Mannes zu Form und Schönheit, und ihr feinerer Tastsinn ist berufen, seine starre, abstrakte Sachlichkeit zu mildern. Es braucht nun einmal den Sporn des Eros um die Sitten zu verfeinern und das Leben zu veredeln. Der Mangel an Takt und äußerem Anstand, die Schroffheit, hinter der sich oft nur gesellschaftliche Unsicherheit verbarg, und was sonst noch das Ausland dem Deutschen vorwarf und zum guten Teil heute noch vorwirft, nachdem es mit diesen Dingen besser geworden – denn wie lange dauert es, bis eine geprägte Meinung sich berichtigt –, war in dem mangelnden gesellschaftlichen Einfluß der Frau begründet. Weshalb auch die deutsche Kultur nie imstande war, eine Gesellschaft mit bestimmtem äußerem Formcharakter zu bilden wie die romanische oder die angelsächsische und damit für den deutschen Menschen die kennzeichnende Silhouette zu prägen, die ihn einheitlich und gefällig von den Nachbarn abgehoben hätte. Daß er daheim die Form verschmähte, trieb ihn dazu, sie auswärts um so rückhaltloser zu bewundern und nachzuahmen. Weil er sich für sein Deutschtum kein gesellschaftsfähiges Kleid geschaffen hatte, legte er im Ausland das seine ab, und nahm – wie oft hat es mich gewurmt! – die äußere Form des Wirtsvolkes an.

In seinem Werk über das Mutterrecht sagt der große Bachofen über die gynäkokratische Weltperiode als die »Poesie der 27 Geschichte«: »Sie wird dies durch die Erhabenheit, die heroische Größe, selbst durch die Schönheit, zu der sie das Weib erhebt, durch die Beförderung der Tapferkeit und ritterlichen Gesinnung unter den Männern, durch die Bedeutung, welche sie der weiblichen Liebe leiht, durch die Zucht und Keuschheit, welche sie von dem Jüngling fordert: ein Verein von Eigenschaften, die dem Altertum in demselben Lichte erschienen, in dem unsere Zeit die ritterliche Erhabenheit der germanischen Welt sich vorstellt. Wie wir so fragen jene Alten: Wo sind jene Frauen, deren untadlige Schönheit, deren Keuschheit und hohe Gesinnung selbst die Liebe der Unsterblichen weckten, hingekommen? – Wo aber auch jene Helden ohne Furcht und ohne Tadel, die ritterliche Größe mit tadellosem Leben, Tapferkeit mit freiwilliger Anerkennung der weiblichen Macht verbanden? Alle kriegerischen Völker gehorchen dem Weibe, sagt Aristoteles, und die Betrachtung späterer Weltalter lehrt das gleiche: Gefahren trotzen, jegliches Abenteuer suchen und der Schönheit dienen, ist ungebrochener Jugendfülle stets vereinte Tugend.« (Vorrede zum Mutterrecht S. 18Aus: Der Mythus von Orient und Okzident ).

Und an anderer Stelle:

»Daß in der Herrschaft des Weibes und seiner religiösen Weihe ein Element der Zucht und Stetigkeit von großer Stärke enthalten war, muß besonders für jene Urzeiten angenommen werden, in denen die rohe Kraft noch wilder tobte, die Leidenschaft noch kein Gegengewicht hatte in den Sitten und Einrichtungen des Lebens und der Mann sich vor nichts beugte als vor der ihm selbst unerklärlichen zauberhaften 28 Gewalt der Frau über ihn. Der wilden ungebändigten Kraftäußerung der Männer traten die Frauen als Vertreterinnen der Zucht und Ordnung, als verkörpertes Gesetz, als Orakel angeborener ahnungsreicher Weisheit wohltätig entgegen. Gern erträgt der Krieger diese Fessel, deren Notwendigkeit er fühlt. – – In dem Bewußtsein der in seine Hand gegebenen Herrschaft muß das Weib jener alten Zeit mit einer, späteren Weltaltern rätselhaften Größe und Erhabenheit erschienen sein. Der spätere Verfall seines Charakters hängt wesentlich mit der Beschränkung seiner Wirksamkeit auf die Kleinlichkeiten des Daseins, mit seiner Knechtstellung, mit dem Ausschluß von aller größeren Tätigkeit und dem dadurch herbeigeführten Hang zu verstecktem Einfluß durch List und Intriguen zusammen. Solche Weiber an der Spitze eines Staates und diesen als wohlgeordnet gepriesen zu sehen, das läßt sich allerdings mit unserer heutigen Erfahrung nicht vereinigen. – – Wie lassen sich die heutigen mit der Urzeit, zumal der germanischen, messen? Das Bewußtsein der Herrschaft und Machtbefähigung veredelt Leib und Seele, verdrängt die niederen Wünsche und Empfindungen, verbannt die geschlechtlichen Ausschweifungen und sichert den Geburten Kraft und Heldengesinnung. Für die Erziehung eines Volkes zur Tugend in dem alten derben, nicht in dem schwindsüchtigen Sinne heutiger Zeit, gibt es keinen mächtigeren Faktor als die Hoheit und das Machtbewußtsein der Frau. Es ist jedenfalls tiefe Bedeutung in der Erzählung, wonach der Römer Heldenvolk von Sabinerinnen ganz amazonischer Erscheinung abstammt. Solchen Frauen können keine Weichlinge und keine gleißenden Wollüstlinge gefallen.« (Mutterrecht, Kreta S. 125) 29 Mögen auch manche Schlüsse des großen Forschers und Pfadfinders wissenschaftlich umstritten sein, der sittlichende Einfluß der Frau, wie ihn Bachofen in Mythe und Frühgeschichte der Menschheit erkennt, wird sich niemals wegleugnen lassen. Man hat so oft Goethe seinen Zug zum Adel, zur Hofgesellschaft vorgeworfen, als ob der Frankfurter Bürgersohn sich damit eines Mangels an Mannes- und Bürgerstolz schuldig gemacht hätte. Und doch wissen wir es aus seinem eigenen Munde, daß eine allseitige Ausbildung der Persönlichkeit im bürgerlichen Stande gar nicht zu erlangen war. »Er hat Person«, sagten unsere Klassiker von einem, der mit dem Anstand des Weltmanns auftrat, und das gab es nur in den höheren Kreisen; der bürgerlich Geborene hatte bloß ein Amt aber keine Person. Er war Schullehrer, Amtmann, Notar, aber als Persönlichkeit hatte er sich auszulöschen, wollte er nicht wegen fratzenhafter Anmaßung verlacht sein. Höhere Umgangsformen waren sonst nur noch auf der Bühne zu gewinnen, wo Wilhelm Meister seinen Kursus durchmacht, der ihn erst befähigen muß, unter den Vornehmen als Gleicher zu stehen. Sollte nun derjenige Deutsche, dem es bestimmt war, seinem Volk auf einem Kulturweg voranzugehen, wo es ihn bis heute nicht eingeholt hat, auf die Entwicklung seiner beispielhaften Persönlichkeit von vornherein verzichten? Gewiß lag der Reiz, den Frau von Stein auf ihn ausgeübt hat, wesentlich in der Selbstverständlichkeit vollendeter Weltformen und dem genauen Wissen, »was sich ziemt«, worin sie ihm Lehrmeisterin war. Aus Kindheitstagen erinnere ich mich noch gewisser unwahrscheinlich grotesker Gestalten der älteren Generation, die aus Unschick und 30 Blödigkeit über ihre eigenen Beine stolperten. Nicht einmal im Besitze seiner Gliedmaßen war vielfach der deutsche Mann, bevor er durch die allgemeine Dienstpflicht gedrillt, durch den Sport geschmeidigt, durch gesellschaftlichen Umgang, den Umgang mit gebildeten Frauen, verfeinert wurde. Es ist klar, daß wo die Frau eine kulturelle Bedeutung hat, der Mann niemals in solchem Grade äußerlich ausarten kann, weil sie sich nicht mit dem ersten besten begnügen und weil sie auch auf das Werden des Sohnes ein Auge haben wird.

Als ich in Florenz lebend zum erstenmal von der in Deutschland eingeleiteten Bewegung zugunsten des Frauenstudiums und der höheren Frauenberufe las, schüttelte ich den Kopf; ich hielt davon so wenig wie der verbissenste Frauenverächter. Zu gut war mir der weibliche Ungeist bekannt, wenn ich auch unterdessen weibliche Gemütseigenschaften hatte schätzen lernen. In Frauengesellschaften ging ich nie, und wenn ich vor der Türe umkehren mußte bei der Entdeckung, daß nur weibliche Gäste am Teetisch saßen. Die Armut der Belange und die Unfähigkeit zur Begriffsbildung, die jedes ernstere Gespräch verhinderten, wirkten auf mich wie lähmendes Gift. Wie gründlich sollte ich späterhin umlernen, als mir in Deutschland ein neues, in geistigem Lichte herangewachsenes Frauengeschlecht entgegentrat. Es hatte genügt, den Blickpunkt auf den Mann zu ändern und den Sinn für das Überpersönliche zu wecken, so stand die Frau – nicht wesensgleich, aber ebenbürtig neben ihm. Ich darf die tapferen Wegbereiterinnen rühmen, denn ich habe nicht zu ihnen gehört. Sie haben den Nachkommenden einen Boden geschaffen, auf dem sich wohnen und werken läßt. So glücklich war die Welt noch 31 nicht, in die ich Ende des Jahres 1853, am Tag der Wintersonnenwende, trat.

 

Da meine Geburt mit der Neugeburt des Lichtes unter dem Zeichen des Steinbocks, dem Juelfest unserer germanischen Vorfahren, zusammenfiel, so wurde die nahe Weihnacht auf diesen Tag vorverlegt. Es gab für mich somit nur ein Fest im Jahre, aber dieses war ein kosmisches, woran die ganze Erde teil hatte. Nach meinen kindlichen Begriffen verlor ich zwar den zweiten Gabentisch des Jahres, doch auf dem Tag, der mich gebracht hatte, lag eine höhere Weihe, ein feierlicherer Nachdruck. Die damit gegebene Vorausbedeutung erfüllte sich bei meinem Heranwachsen in dem Sinn, daß in dem großen Geschwisterkreis das meiste Licht auf die einzige Tochter fiel, daß ich aber gemäß den Anschauungen der Zeit mit allen irdischen Ansprüchen hinter den Brüdern verschwinden mußte. In meinem späteren Leben, als ich den lichtsuchenden Charakter des Steinbocks erkannt hatte, fühlte ich mich ihm dienst- und lehenspflichtig und stellte mir ihn oder sein astronomisches Zeichen zum Sinnbild und Wappen auf.

In »Dichtung und Wahrheit« bemerkt Goethe, das ganze Leben eines Menschen hänge von dem Jahrzehnt seiner Geburt ab: zehn Jahre später zur Welt gekommen und sein Lebensgang wäre ein völlig anderer geworden. Wieviel mehr gilt das von einem Frauenleben! Zehn Jahre später, und ich hätte meinen Weg schon nicht mehr so ungangbar gefunden, mein Erscheinen wäre nicht so unbegreiflich fremdartig gewesen und so erbittert bekämpft worden, wie es auf dem Riß zwischen zwei Zeitaltern, einem das langsam sich zum 32 Ausklingen anschickte und dem von mir unbewußt vorausgenommenen neuen, der Fall war.

Auf diesen Riß war ich zunächst ganz ohne mein Zutun schon im unmündigen Alter gestellt worden. Ich hatte ja zur Mutter eine Frau, deren Haltung zu dem damaligen Frauentum im stärksten Gegensatz stand. Da sie aus altem Adel stammte, dazu äußerst fortschrittlich war, konnte sie auf die bürgerlichen Vorurteile heruntersehen; ihr waren bessere Bildungsmöglichkeiten zu Gebote gestanden, sie hatte sich auch auf eigene Hand weitergeholfen und brachte zwar kein systematisches Wissen aber ein weites Gesichtsfeld und eine unendliche Begeisterung für alles Große und Schöne, für Dichtung, Sprachen, Philosophie und Geschichte, besonders die des Altertums, mit in die Ehe. Was sie nur teilweise erreichte, wollte sie in der Tochter vollendet sehen. Aber die Mittel fehlten, denn es war einer der Fälle, wo die Knabenerziehung die elterliche Kasse erschöpfte. Ihr Heim war jetzt kein freiherrliches mehr, sondern das höchst bescheidene eines deutschen Dichters, dem die Stumpfheit seiner Zeitgenossen den Erfolg vorenthielt. Für mich gab es keine französischen und englischen Bonnen, keine im Latein unterrichtenden Hauslehrer wie einst für sie. Von den Mädchenschulen fanden die Eltern, keine Schule wäre besser. So unterrichtete sie mich selber, aber freilich ohne Ordnung und Methode und selbst ohne festen Stundenplan, je nachdem die häuslichen Geschäfte ihr gerade Zeit ließen. Ich habe ihr das Lehren leicht gemacht, obwohl ich keinen richtigen Lernkopf hatte und Wissen als Häufung von Tatsachen mich nicht im geringsten reizte; die Dinge liefen mir von selbst entgegen und ich ihnen, weil ihre feurige Phantasie 33 schnell die meinige entzündete und alles lebendig machte. Von den Schulaufgaben der Brüder, die sie abhörte, fielen auch nahrhafte Bröcklein ab und wurden mir zugetragen. Im übrigen mußte ich mir helfen, wie ich konnte; ich las unglaublich viel, auch in fremden Sprachen, die von selbst an mir hängen blieben. Freilich mußte ich später die schnelle Entwicklung büßen, da ich immer wieder an den Grundmauern nachzubessern hatte. Zum Griechentum, das lebenslang unser beider Heimat blieb, lieferte sie mir zuerst den Schlüssel, indem sie mir in ganz früher Kindheit die beiden großen homerischen Gesänge in die Hand gab. Ihre Gestalten wurden mir das Vertrauteste was ich hatte; ich kannte sie alle persönlich, sie wuchsen mit mir, und ich sah sie auch gar nicht als Vorzeitriesen, außermenschlich und fremdartig, wie sie dem Grünen Heinrich erschienen, der sie als Jüngling zuerst kennenlernte. Ihre Maße waren vielmehr der Maßstab, den ich an alle meine Wunschbilder legte, und sie wurden der Anlaß, daß ich mich lebenslang bei den wechselnden Literaturmoden so jämmerlich übel befand, ja viele der berühmtesten Tageserzeugnisse, die der Kritik und dem Publikum wie Kaviar auf der Zunge zergingen, schlechterdings nicht hinunterbrachte. – Erwachsen ließ ich mich dann durch meinen Jugendkameraden Ernst Mohl in die griechische Sprache einführen und gelangte damit aus der Vorhalle in die Cella des Tempels.

Was die Griechen mir gaben, hat auf allen Altersstufen ein neues Gesicht getragen und mich immer zu neuem Dank verpflichtet. Denn dieses Volk hat sich ja immer wieder mit neuen Zügen vor der alternden Welt verjüngt, und ihre Bedeutung wird niemals auszuschöpfen sein. Für mich ging sie über den 34 poetischen Genuß weit hinaus ins Ethische, in die eigentliche Lebensanschauung über. Der tragische Untergrund, auf dem sie stehen, gab schon dem Kinde die Ahnung von der Unsicherheit alles menschlichen Geschicks und daß das Leid mitübernommen werden muß, wenn unserem höheren Ich sein Wille geschehen soll. Diese Erkenntnis, im Gefühl entsprungen, wenn auch noch nicht im Begriff erfaßt, stärkte mich für die Widerwärtigkeiten, denen ich an der Schwelle der Jugend entgegenging.

Jene Art Unterdrückung, die an der gleichen Fähigkeit des weiblichen Geistes zweifelt, habe ich an mir selber nicht erfahren. Geisteswege lagen vor mir, sie gingen strahlig nach vielen Seiten: der Humanismus war mit der Muttermilch überkommen, später brachten die Brüder die Naturwissenschaften ins Haus, freilich nur in den fertigen Schlüssen, nicht mit dem Weg, auf dem sie erarbeitet waren.

Auch das Vatererbe des Humanismus war zunächst nur in seinen Auswirkungen vorhanden, als Lebensstil wie als innere Stellungnahme. Im einzelnen hieß es, das Erbe erwerben, um es zu besitzen; hiefür gab es Wink und Fingerzeig, es gab unermüdliche Anregung von seiten einer Mutter von unerschöpflicher Geistigkeit, aber sprunghaftem, allem System widerstrebendem Naturell. Unser abendliches Lesen der griechischen Geschichte aus dem Herodot war mehr ein Spielen mit Bausteinen als ein wirkliches ernstes Bauen, dennoch hat es uns alle in der Welt der Griechen für immer heimisch gemacht. Nur Erwin, der Zweitjüngste, der als Augenmensch und künftiger Künstler mehr im Sichtbaren zu Hause war, entzog sich diesen Anregungen, hat aber das damals Übersehene in reifen Jahren glühend nachgeholt.

35 Ich wußte nichts von der Umwelt, in der ich lebte, denn ich kannte nur mein Elternhaus. Aber diese Umwelt wußte leider von mir und nahm an dem bloßen Dasein des fremdartigen Kindes, das mit den Heroen und Göttern Griechenlands aufwuchs, Anstoß, denn sie selber war das Rückständigste, was es gab, wennschon die hochgelehrte Universitätsstadt des hochgelehrten Schwabenlandes. Aber diese Gelehrsamkeit glänzte nur auf dem Katheder; in den Familien, die trotz der ausgeprägtesten Männerherrschaft, vielleicht gerade deshalb, ganz das Gepräge der Frau, nämlich der unwissenden, trugen, herrschte die dunkelste Unbildung. Mit meinem Heranwachsen wuchs der Gegensatz. Alles Schöne, wofür ich erglüht war: Poesie und Kunst, Pflege und Stählung des Körpers durch das was man heute Sport nennt und was nur gegen den Widerspruch der öffentlichen Meinung durchzusetzen war, galt für nahezu diabolischen Ursprungs. Am meisten wehrten sich die Mütter und Töchter der kleinen Stadt gegen solch ein junges Menschenwesen, in dessen offenbar verfrühtem Erscheinen sie das Heraufdämmern einer neuen, ihr ganzes Herkommen in Frage stellenden Zeit ahnen mochten. Die Tragik dieser Verfrühtheit, in die mich die Natur gerufen hatte, war die widrigste von den widrigen Schicksalsmächten, die mich an der Schwelle des Lebens empfingen. Daß es mir ohne äußere Hilfe gelang, sie wenigstens teilweise zu überwinden, schreibe ich der Gnade des freundlichen Gestirnes zu, das mich bei der Geburt angeblickt hatte. »Das meiste nämlich vermag die Geburt«, singt Hölderlin, »und der Lichtstrahl, der dem Neugebornen begegnet.« Eine seltsame Naturanlage half dabei nach, die mich die feindselige Außenwelt in Augenblicken, 36 wo ich nicht unmittelbar unter ihr litt, mehr wie einen bösen Traum als wie eine lebendige Wirklichkeit ansehen ließ oder höchstens wie eine wilde Insel, auf die mich ein Schiffbruch verschlagen hätte. 37

 


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