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Schon ist der Ort, an den mein Stern mich wies, Ein Splitter vom zerstückten Paradies, Mit seines Meers und Himmels Saphirreine, Dem warmen Duft durchsonnter Pinienhaine, Der Rebe die von Baum zu Baum sich schwingt, Wie wenn sich Hand in Hand zum Tanz verschlingt, Toskanas Bächlein mit Zypressenauen, Dem Spiel der Wolkenschatten überm blauen Gebirge, das in keuscher Nacktheit ruht Und abends bei der Purpurwolken Glut In einen lichten Riesenamethyst, Durchscheinend, ohne Fehl, verwandelt ist. Und wer vergäße je der Sprache Klang, Die auf den Lippen hinschmilzt wie Gesang! Natur ist hold, doch herrlich ist vor allen Der stumme Wohllaut dieser Säulenhallen, Wo eine Welt von Marmor geistdurchweht Mit unbewegten Augen göttlich steht Und auf die Menschensaat die ringsum sprießt Noch einen Abglanz ihrer Schönheit gießt, Der Zeit gemahnend, da in diesen Reichen Ein Menschenfrühling aufging ohnegleichen. |
(Aus »Immer zu Zweien«) |
Nicht als ob dieses Bild augenblicks den entzückten Sinnen aufgegangen wäre. Das nordische Auge war damals nicht geschult, ohne weiters die Herrlichkeiten des Südens aufzunehmen, es war ja nicht wie heute durch Lichtbild, Film und andere Hilfsmittel vorbereitet. Jakobsen schildert in einer seiner Novellen eine schönheitsuchende Nordländerin, die nach lebenslanger Sehnsucht endlich in Italien angekommen sich befremdet und tief enttäuscht findet. So schlimm erging es mir freilich nicht, aber doch mußte auch ich erst lernen, klassische Landschaft zu sehen. Die monumentale, von innen durchleuchtete Nacktheit der großen südlichen Linie, der plastisch zugeschnittene Baumwuchs mit der strotzenden Dicke der Blätter, das ganze reiche in sich ruhende Sein, das nur zu den Augen sprach, wollte mir in seiner Stille und Unbewegtheit beinahe leblos wie ein Staffeleibild erscheinen. Pinien und Zypressen sind schweigsame Bäume; wo waren die säuselnden Blätter, die singenden Wasser, die Vogellieder meiner Heimat? Erst mußte die Romantik des deutschen Naturwebens in meiner Erinnerung zurücktreten, bevor mir das hesperische Land »die Schöne im Olivenkranz / die nachgeborne Schwester Griechenlands« wurde, und der zarte Silberglanz der stillen Ölwälder, die von allen Seiten das heroische Stadtbild umschlossen, mir unverlierbar in die Seele wuchs.
Aber die Stadt, die Stadt war bezwingend auf den ersten Anblick und stilgebend für immer! Begreiflich Edgars Hochgefühl, der sie sich so rasch erobert hatte und nun Mutter und Geschwister wie in seinem Eigenen herumführte. Florenz, dieses Wunder von Hoheit und Traulichkeit, war wie ein einziger 149 großer Palast mit Gängen und geschmückten Sälen, denen der kostbare Belag von großem, unregelmäßig geschnittenem, festverfugtem Bruchstein, auf dem sich's so leicht und federnd ging, erst recht das Ansehen eines Innenraumes gab, und vertraulich wie in einem solchen bewegte sich auch das Leben der Bewohner auf Straßen und Plätzen. Zum freundlichen Einstand heftete mir gleich bei der Einfahrt in Florenz eine Blumenverkäuferin unentgeltlich ein Sträußchen an, und als wir vom Bahnhof nach unserem ersten Quartier in der Via della Scala fuhren, da klang mir der weiche Hufschlag auf dem edlen Pflaster so wohlig und irgendwie bedeutsam in die Ohren – und er klingt mir auch jetzt noch so, wenn ich wieder einmal dort in einen der kleinen Einspänner steige und mir von dem altvertrauten Hall bezeugen lasse, daß ich wirklich nach Florenz zurückgekehrt bin. Die klimatischen Unterschiede, die heute fast verwischt sind, und das gelassene Tempo jener Tage ergaben damals die ganz besondere Atmosphäre, jene Straßenbilder von unbeschreiblicher Anmut und Natürlichkeit, wie ich sie in meinen »Florentinischen Erinnerungen« aber niemals in der Wirklichkeit mehr finden kann. Die autodurchraste, radiodurchgellte Stadt ist innerlich ein anderes Wesen geworden als die Stille Königin, in deren Bannkreis ich gelandet war und nun all die unbeschreibliche Neuheit des südlichen Daseins in mich aufnahm. Die flutende, müßige, nach gar nichts gaffende Menge der Spaziergänger, die sich so höflich wie in Gesellschaft aneinander vorüberbewegten, die auf den Gehsteigen sitzenden Kaffeehausgäste, alle mit der Zeitung in der Hand, die hochgekämmten Mädchenköpfe an den Fenstern, wie schien es allen doch so wohl zu sein in ihrer glühenden 150 Septembersonne. Niemand hatte Eile; die Uhr des Palazzo vecchio ging immer falsch, der mittägliche Kanonenschuß von der Festung regelte das Leben der Bewohner. Auf den hohen Bänken der alten Palazzi lagen die Blumen zum Verkauf und durchdufteten die ganze Stadt, Obsthändler mit ihren Karren – ein in der Heimat noch ganz unbekannter Anblick – zogen umher und boten Früchte von niegesehener Pracht und Fülle aus. Der Ponte vecchio lockte mit seiner Doppelreihe der altberühmten Juweliersläden, in denen es gleißte von zauberhaftem Gestein. Der schauerliche mittelalterliche Pomp der abendlichen Leichenbegängnisse mit Larven und Fackeln folgte mir bis in meine Träume. Schlaf gab es wenig, denn das Straßenleben mit Gesang und Guitarrenklang dauerte die halbe Nacht: wenn auch die Petroleumlaternen nur schwache Helle gaben, der hohe, weitgespannte Himmel selbst mit seinem unerhörten Sternenglanz übernahm die Beleuchtung. Die Monumente blieben vorerst noch stumm, sie gaben nichts her von ihrem Wissen. Zweckfremd und wundersüchtig, wie meine ganze Jugend verlief, sah ich die herrscherliche Stadt wie eine Persönlichkeit voll Reiz und Adel an, mit der ich fortan zu leben, mich mit ihrer Eigenart einzurichten hätte. Ihr mit Eifer und System, mit Stadtplan, Reiseführer, Museumskatalogen ernstlich und erschöpfend zu Leibe zu gehen, wie es für heutige Reisende das Selbstverständliche ist, konnte ich schon deshalb nicht unternehmen, weil die Stellung des weiblichen Geschlechts in südlichen Landen noch eine so orientalisch niedrige war, daß die Sitte den jungen Mädchen verbot, sich unbegleitet auf der Straße zu bewegen. Als Fremde war ich ja dieser Sitte nicht pflichtig, aber sie stand 151 mir allerwärts durch das Aufsehen, das ich erregte, hindernd im Weg, und ich hatte doch niemand, der mit mir ging.
Im übrigen vollzog sich die Anpassung ohne Schwierigkeit, ein Heimweh konnte nicht aufkommen, schon weil der Wurzelstock mitverpflanzt war und die beiden Zurückgebliebenen, Alfred und Erwin, in Bälde nachkamen. Die Sprache war mir längst vertraut, die andern lernten sie schnell beherrschen, sogar die siebzigjährige Josephine radebrechte bald ein bißchen Italienisch, das ihr unser Jüngster, unser Balde, beibrachte, und kleine drollige Mißverständnisse, wie daß sie einmal berichtete, in unserer Abwesenheit sei die Tante Saluti (tanti saluti – viele Grüße) dagewesen, erregten jedesmal Baldes innige Heiterkeit. Dem Kranken kam das damals noch so wohlig milde Klima von Florenz in beglückender Weise zustatten; er konnte viel in der freien Luft sein oder am offenen Fenster sitzend die Heilstrahlen der Sonne genießen, die bereits im Januar den Vorfrühling ankündigten und sogar schon erste zarte Wiesenblümchen hervortrieben. Die winzigen Kamine in unserer ersten Dauerwohnung am Viale Principessa Margherita, der alten Festung San Giovanni gegenüber, standen da als Sinnbilder ihrer eigenen Entbehrlichkeit. Zu allen Fenstern sahen grüne Anlagen herein, und von der nordwärts gelegenen Küche ging der weite Blick bis nach dem Uhrturm von Fiesole, dessen Zifferblatt hell herüberblinkte. Das offene Kohlenfeuer auf dem gemauerten Herd, das durch Wedeln mit dem Strohfächer unterhalten wurde, brachte eine reizvolle Ursprünglichkeit in das Tagesleben; es erinnerte an Mörikes »Schön ist der Flamme Schein, es springen die Funken«. Heiter und sorglos wie nie zuvor und niemals wieder 152 schaute damals mich das Leben an. Die stete Angst um mein Mütterlein ließ mich eine Weile los; sie stand ja erst im Anfang der Fünfzig, wenn sie auch, zeitlos wie eine Sibylle, mit ihrem tiefvergeistigten Gesicht aus der Vorwelt herüber zu leben schien. Sie regierte nach wie vor den Hausstand, aber seine eigentliche Führung lag in Josephinens erprobten Händen, was ihm sehr bekömmlich war; da ihm von drei Seiten die Beiträge in gleicher Höhe zuflossen, war er bei der Wohlfeilheit des damaligen italienischen Lebens leicht zu bestreiten. Edgars Stellung war in kurzer Zeit schon völlig gesichert, ich besaß literarische Verbindungen verschiedener Art, darunter mit einem Stuttgarter Verlag, für den ich auf italienische Romanliteratur zu fahnden hatte. Vor allem zählte ich auf meinen alten Freund Adolf Kröner (später Cotta Nachfolger), wohl die machtvollste Persönlichkeit in dem damaligen deutschen Buchhandel, daß er, sobald ich mit etwas Eigenem hervortreten könne, in einem der vielen ihm gehörenden oder von ihm abhängenden Blätter Platz dafür schaffen würde. So geschah es auch, und meine hochgesinnte Gönnerin und Freundin, Frau Rosalie Braun-Artaria in München, half als Schriftleiterin der »Gartenlaube«, die gleichfalls in Kröners Besitz war, wirksam nach. Das stieß mein Schifflein eine Strecke vorwärts, in anderem Sinne war es auch hemmend, denn Freund Kröner war ein viel zu vorsichtiger Geschäftsmann, um nicht sein Ohr immerdar am Herzschlag der bürgerlichen Gesellschaft zu haben und streng darauf zu achten, daß nichts eingeschwärzt wurde, was nicht nach allen Seiten vor der ängstlichen Zensur jener Zeit bestehen konnte, denn jeder noch so unschuldige Seitensprung brachte ihm den 153 Abfall tausender von Abonnenten. So stark wirkte in diesem freien und klaren Geiste der wirtschaftliche Sinn, daß er sich ordentlich für die Kulturaufgabe begeistern konnte, eine Nummer der »Gartenlaube« zusammenzustellen, die gleicherweise Herrn und Frau Geheimrat wie auch ihrer gefühlsseligen Köchin eine schmackhafte Kost böte. Aber die Anfängerin hatte nicht zu fragen, wo sie gedruckt sein wollte, sie durfte froh sein, überhaupt unterzukommen, und mußte nur sorgen, Stoffe zu vermeiden, bei denen die Schere ein lebenswichtiges Organ verletzen konnte. Wenn ich literarischen Rat brauchte, so standen außer Paul Heyse auch noch die gelehrten Freunde der Eltern, Vollmer und Hemsen in Stuttgart, die dem Werden des jungen Mädchens mit Anteil folgten, für mich im Hintergrund.
Unsere in der Heimat zurückgebliebenen Bekannten, die unserem Aufbruch kopfschüttelnd als einem Rennen ins Unheil nachgeschaut hatten, stellten mit Erstaunen fest, daß vielmehr der Stern des Hauses im Aufstieg war. Es hatte bisher im weiteren Kreis der Familie ein alter Aberglaube geherrscht, der auf einige begabte, im Mißgeschick untergegangene Vorfahren zurückging, als ob ihre Glieder weder Glück noch Stern hätten, und unseres Vaters hohes aber siegloses Ringen schien den Unglückspropheten recht zu geben. Aber in Edgars jungen Händen zerbrach der böse Bann, als er Mutter und Geschwister aus der heimischen Enge hinausführte in frisches Wasser. Dieses Florenz wurde ein Sehnsuchtsziel für viele, und der Reisestrom brachte bald den einen, bald den anderen Heimatgenossen, der sich an Ort und Stelle überzeugen mußte, was aus uns geworden. Auch Besuche aus der 154 Jugendstadt kamen, und da war es nun merkwürdig, wie alle mich von je schon richtig verstanden und ins Herz geschlossen haben wollten. Auch Taktlose waren darunter, die mir die alten Wunden aufrissen, indem sie, freilich mit Empörung, von den Gehässigkeiten erzählten, die immer noch gegen mich im Schwange seien. Sie erreichten damit das Gegenteil ihrer Absicht sich angenehm zu machen, denn sie stellten ihrem Zartgefühl ein schlechtes Zeugnis aus, und ich sorgte dafür, daß sie nicht eingeladen wurden. Leider fiel gerade in diese erste hoffnungsfrohe Zeit ein trauriger Schatten: das unerwartete Ende unseres guten Onkels Ernst, des einzigen Bruders meines Vaters, der meiner Mutter ein verständnisvoller Berater, uns Kindern ein treugesinnter Vormund gewesen war.
Was den gesellschaftlichen Anschluß betrifft, so hatte ich in Florenz nicht wie in München den Vorteil, den neuen Verhältnissen allein gegenüberzutreten und meine Stellung unter den Menschen der eigenen Person zu verdanken. Die Begriffe des Landes gestatteten einem jungen Mädchen solche Freiheit nicht. Es wäre ein dauernder Gewinn für mich gewesen, zu dem berühmten literarischen Kreis der Donna Emilia Peruzzi, deren große Zeit nach der Verlegung der Hauptstadt freilich schon vorüber war, die aber noch immer bedeutende Menschen um sich sah, Zutritt zu haben. Aber Edgar hatte schon vor unserer Ankunft mit guten Empfehlungen dort Besuch gemacht, und der Ton der Gesellschaft hatte dem Leichtverstimmten, der niemals Zugeständnisse machen konnte, nicht gefallen; so hatte er in seiner herben Schwabenart, die er niemals ganz ablegen konnte, die Beziehungen gleich wieder 155 abgebrochen, daher ich bei unserer Ankunft diese Tür, deren Bedeutung mir übrigens zur Zeit gar nicht bekannt war, schon verschlossen fand.
Den ersten Besuch machten wir mit einer Einführung von Heyse bei einem neapolitanischen Nobile, dem Cavaliere Vincenzo Giusti, in seiner Villa auf dem Romito, wo seine Frau, eine Landsmännin aus dem Schwarzwald, aber eine völlig südliche Schönheit, uns gastlich begrüßte. Dort fand meine erste Bekanntschaft mit dem für deutsche Begriffe äußerst fremdartigen italienischen Lebensstil und den noch halb in dem galanten 18. Jahrhundert stehenden Anschauungen der damaligen Gesellschaft statt, wo noch der Cavaliere servente, zwar nicht mehr unter diesem Titel, aber doch als unentbehrliches Zubehör des Hauses waltete, wo er der Dame zur Seite stand, die Empfänge leiten half usw. Herr Giusti war ein guter Kenner der deutschen Sprache und Literatur, er hatte viele Novellen von Heyse übersetzt und war eben mit einer solchen beschäftigt. Mich erstaunte er einmal durch die Bemerkung, daß im deutschen Roman die Liebe gar keine Rolle spiele. Ich antwortete, soweit meine Kenntnis des deutschen Romans reiche, sei vielmehr die Liebe ihr stehender Inhalt, wurde aber belehrt, daß Liebe zwischen Jüngling und Mädchen, wie der deutsche Roman sie darstelle, überhaupt keine Liebe sei: lieben, mit Leidenschaft lieben könne man nur die Frau eines anderen. Dies war mein erster rassekundlicher Unterricht in Sachen der Erotik, wobei mir der noch nicht geahnte Unterschied zwischen der deutschen und der romanischen Auffassung einer der tiefsten Menschheitsfragen aufzudämmern begann. In der Tat bildete in der Unzahl italienischer 156 Romane, die mir damals zur Sichtung durch die Hände gingen, zumeist wie in der als Vorbild dienenden französischen Literatur der Ehebruch – nicht selten mit der Sühne durch Gattenmord – den unausweichlichen, immer aufs neue abgewandelten Inhalt. Oftmals habe ich die Wissenden gefragt, warum denn überhaupt in südlichen Ländern der Mann heirate, wenn er doch seine Frau für einen anderen nehme und seinerseits gleichfalls bei einem anderen zu Gast gehe. Die Antwort »um eine Familie zu haben« konnte mich nicht von der Güte des Auskunftsmittels überzeugen, weil es ja gar nicht feststand, ob dies nun wirklich seine Familie sei. Doch dies waren, wie gesagt, Überlebsel des Rokoko. Dagegen war es auch nicht ohne Reiz, aus dem Munde meines Gewährsmanns zu hören, welchen Eindruck bei seinen Reisen in Deutschland unser Lebensstil auf den Sohn des Südens gemacht hatte. So erinnere ich mich, wie er einmal vor den staunenden Ohren seiner Landsleute erzählte, daß in Dresden junge Mädchen allein in Gesellschaft geladen würden und daß dann am Schluß des Abends die Hausfrau irgendeinen der anwesenden Herrn mit dem Ritteramt betraue, das Fräulein heimzugeleiten, ihm auch vertrauensvoll deren Hausschlüssel übergebe, den der Paladin nach Öffnung der Tür seiner Dame ehrfurchtsvoll zurückzureichen habe (ein Brauch, dem ich übrigens in deutschen Landen selber nicht begegnet bin). Ich vermochte das ganze Erstaunen der Italiener über diese ihnen prähistorisch erscheinende Sitteneinfalt zu würdigen, denn ich hatte schon Kenntnis von dem italienischen Brauch, der es damals den jungen Mädchen vorschrieb, beim Betreten eines Gesellschaftsraumes vor der begleitenden Anstandsdame, und sei sie 157 die vornehmste, den Vortritt zu nehmen, damit der Schutzgeist sich überzeugen konnte, daß nicht etwa hinter seinem Rücken zwischen dem Schützling und irgendeinem Versucher heimliche Zeichen oder Zettel gewechselt würden. – Herr Giusti zog mich bei seinen Übersetzungen zu Rat und ich ihn bei den meinigen, denn ich überzeugte mich schnell, daß auch eine ausreichende Kenntnis der fremden Sprache keinen ausreichenden Schlüssel für das Verständnis des fremden Werkes bietet, wenn nicht die Vertrautheit mit dem Land und den Lebensbedingungen der Menschen, ja mit allem, was nur dem Eingeweihten verständlich in Winken und Andeutungen lebt, noch dazukommt. Solche Besprechungen, wobei so viele geheime Untergründe und Bezüge freigelegt wurden, gehörten immer zu den anziehendsten Formen der Unterhaltung. Durch die Gefälligkeit Herrn Giustis wurde ich über mancherlei Gewohnheiten, Meinungen und Vorurteile seiner Landsleute aufgeklärt, mit denen ein Fremder lange zusammenleben kann, ohne sie kennenzulernen. Eine besonders unheimliche Anziehungskraft übte auf mich die neapolitanische Jettatura oder das Malocchio aus, worüber mein Gewährsmann genau Bescheid wußte. Es verkehrte in seinem Hause ab und zu ein anderer Neapolitaner aus vornehmer Familie, ein tief unglücklicher Mann, weil er im Rufe stand, ein Jettatore zu sein und darum von allen Seiten gemieden wurde. Freund Giusti, der sich als aufgeklärt gab, aber heimlich doch den Aberglauben nicht los wurde, versicherte, diesem Manne nur auf der Straße zu begegnen, ziehe unvermeidlich ein Mißgeschick, einen Fehlschlag oder sonst etwas Unangenehmes nach sich, so daß ihm die meisten seiner Bekannten auf 158 Straßenlänge auswichen. Daß die Begegnung noch schlimmere Folgen haben könne, ließ er ahnen, ohne es auszusprechen. Seiner weit jüngeren, mit viel Verstand und Mutterwitz begabten Frau, die als Ausländerin gegen diesen Widersinn gewappnet war, machte es Spaß, ihren Mann durch mein Weiterfragen in die Enge getrieben zu sehen, denn der Gegenstand war ihm ganz und gar nicht geheuer. Mit Mühe brachte ich ihn dahin, daß er mir von drei großen Familien in Neapel erzählte, in denen die Jettatura vorzugsweise erblich sei, und zwar in der Weise, daß jeweils nur ein Glied der Träger des furchtbaren Erbfluches werde, der selber von seiner verheerenden Wirkung solange gar keine Ahnung habe, bis er sich rings von aller Welt gemieden, und wenn seine Besuche gar ein Kindersterben oder andere schreckliche Begebenheiten nach sich zögen, einfach ganz aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sehe. Er erzählte davon eine Reihe wahrhaft erschütternder Fälle, die auch Frau Clara nicht leugnete, weil sie sich zum Teil unter ihren Augen begeben hatten, nur daß sie ihnen völlig andere Auslegungen gab. Auf meine Bitte nannte er mir auch zwei der so geschlagenen Familien, den Namen der dritten, allerverderblichsten, wollte er mir nicht sagen, weil ihn auch nur auszusprechen gefährlich sei, bequemte sich aber schließlich ihn auf einen Zettel zu schreiben, den er mir mit abgewandtem Gesicht überreichte, wobei er aus tiefstem Herzen seufzte: Dio ce la mandi buona! (Gott laß es gut vorübergehen!). Daß er dabei unter dem Tisch das neapolitanische Abwehrzeichen machte, verriet mir ein listiger Blick seiner Gattin.
Ich habe, was ich damals im Hause Giusti über die Jettatura 159 erfuhr, die im neuen Italien ausgestorben sein dürfte, später in der Novelle »Der Jettatore« in der »Stunde des Unsichtbaren« verwendet.
Das Haus Giusti war neben zwei Familien freundlicher schwäbischer Landsleute, beide Gasthofbesitzer und von Anfang an zu Edgars Klientel gehörig, unser frühster Umgang in Florenz.
Unsre nächste und für alle Zukunft bedeutsamste Begegnung war die mit Adolf Hildebrand. Der noch junge und wenig bekannte, nachmals so groß gewordene Bildhauer lebte mit seiner schönen Rubensfrau Irene, geb. Schäufelen, geschiedenen Kobell, in seinem köstlichen, selbsterworbenen Besitz, dem alten Kloster von San Francesco, das seine Gattin durch ihre reichen Mittel und ihre gesellschaftliche Kultur zu einem Sitz der Schönheit und des verfeinerten Lebensgenusses machte. Die Anknüpfung geschah nicht ohne eine gewisse kitzliche Besonderheit, die sich jedoch in Wohlgefallen auflöste. Adolf Kröner, der die schöne Lebensgenießerin aus den bacchantischen Tagen ihrer ersten Ehe kannte, hatte einmal beim Champagner, als sie sich in glückjauchzendem Übermut vermaß, daß diese Liebe ewig dauern müsse, mit ihr eine verwegene Wette auf das Gegenteil eingegangen. In einem scherzhaften Brief an meine Mutter ließ er die schöne Frau neckend an die verfallene Wette erinnern und gab seinen Anspruch auf zugunsten der von ihm empfohlenen Landsleute, die er freundlich zu empfangen und ihnen den Einstand in Florenz zu verschönern bat. Mama, die kein Arg bei der Botschaft hatte, ließ sie den Brief sehen, aber Frau Irene in ihrem neuen, so viel tieferen Glück mochte nicht gern an die Vergangenheit erinnert sein 160 und war sichtlich von deren Wiedererweckung nicht ganz angenehm berührt. Doch mit dem Takt der großen Welt und ihrer angeborenen Verbindlichkeit antwortete sie, jene Irene sei tot und könne also für keine Wetten mehr einstehen; die neue wisse jetzt erst, was Liebe sei, aber sie freue sich über den willkommenen Besuch und bitte dem Vermittler ihren Dank zu sagen. Noch schöner und freier fiel die erste Begegnung mit ihrem Gatten aus, der wenige Minuten später mit seinen Siegfriedaugen ins Zimmer trat. Er hatte uns schon am Tor empfangen und ins Haus gewiesen, war aber von uns seines äußerst jugendlichen Aussehens und seiner bescheidenen Haltung wegen für einen Werkstattgehilfen angesehen worden. Um ihn war im Gegensatz zu seiner Gattin keine spielerische Grazie, nichts von gesellschaftlichem Glanz; er war durch und durch Natur und sagte mit jedem Wort genau was er meinte, aber was er meinte war immer etwas Besonderes und zugleich doch merkwürdig Selbstverständliches. Ich habe von dieser bedeutendsten Erscheinung unsres florentinischen Kreises schon zweimal eingehend erzählt. Zuerst in meinen »Florentinischen Erinnerungen« durch eine Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag und später, zehn Jahre nach seinem Hingang, in einem ihm eigens gewidmeten kleinen Buche »Der Meister von San Francesco«, denn die Freundschaft, die sich an jenem Septemberabend in Florenz entspann, sollte ungetrübt durch vierzig Jahre bis zum Tode des Meisters und noch darüber hinaus in der Überlebenden weiterdauern. Sie wurde durch einen schnellen Gegenbesuch des Paares angebahnt, und bei dem ersten im Hause Hildebrand eintretenden Krankheitsfall durch die Berufung Edgars fest verklammert, der fortan durch 161 alle Jahre seines Lebens die Familie ärztlich betreute und allen den rasch aufeinanderfolgenden Sprößlingen ins Leben half.
Seltsam berührt es mich in der Erinnerung, daß Böcklin, der damals am Lungo Mugnone sein lustiges und lüsternes Meergesindel malte, mir eines Tages unter vier Augen ernsthaft bedeutete, daß er als Vater mir nicht erlauben würde, im Hildebrandschen Hause zu verkehren, weil es für ein junges Mädchen nicht statthaft sei, eine Frau zur Freundin zu haben, die von ihrem ersten Gatten weggegangen sei, um mit einem andern zu leben. Er hatte sehr strenge Begriffe von der Ehe, der Basler Meister, von dem es ja bekannt war, daß er sich kein anderes weibliches Modell gestattete als seine schon stark ins Formlose übergehende römische Lebensgefährtin. Um welchen geistigen Gewinn ich ärmer geblieben wäre, wenn ich aus bürgerlicher Ängstlichkeit die Warnung befolgt hätte und ein Haus gemieden, dem ich nachträglich den stärksten Einfluß auf meine Entwicklung zuschreiben muß, ist nicht auszudenken.
Auf dem gleichen Stockwerk Tür an Tür mit uns wohnte ein russisches Schwesternpaar, die Fürstinnen Galitzin, von denen die ältere, Sophie, mit ihrem Kosenamen Sonja, vermählte Potemkin und Mutter eines kleinen Mädchens, die meiste Zeit ohne ihren Mann lebte, der sich, nachdem er das Vermögen seiner Gattin durch Luxus aufgezehrt hatte, mit allerlei Beschäftigungen auswärts herumtrieb und nur ab und zu schnell einmal nach Florenz kam. Die jüngere, Tatjana oder Tanja, war meines Alters, und zwischen uns entspann sich eine leidenschaftliche Freundschaft. Beide Schwestern waren hochgewachsen und schön, die ältere sogar eine 162 wirkliche Schönheit, an byzantinische Madonnen erinnernd, dabei trotz ihrer Herkunft aus dem russischen Hoch- und Hofadel und aus ursprünglich märchenhaftem Reichtum so anspruchslos, daß die beiderseitigen Lebensverhältnisse keine Schranke bildeten. Freilich hatte der alte Fürst, ihr Vater, der als großer Musikfreund immerzu mit eigener Kapelle reiste und in allen Hauptstädten Europas Konzerte für geladene Gäste gab, durch geradezu orientalischen Aufwand sein Riesenvermögen verschwendet, so daß nicht viel auf die beiden Schwestern und den in der russischen Kriegsmarine dienenden Bruder gekommen war, und Herr Potemkin hatte, wie gesagt, noch seinerseits nachgeholfen, weshalb der Lebensstil der beiden Schwestern sich nicht allzuviel von dem meinigen unterschied. Durch sie kam ich in Verkehr mit der russischen Kolonie, die gewiß von allen in Florenz eingenisteten Fremdenkolonien die anziehendste, weil weitherzigste und freieste war, und die hohe Achtung, die in diesen Kreisen allem Geistigen gezollt wurde, überbrückte jeden Unterschied, war doch das zaristische Rußland das einzige Land, wo Geist und Bildung ohne weiteres dem Adel gleichstellten. Edgar war schon vor unserer Ankunft als allgeschätzter junger Arzt in diesen Kreisen heimisch gewesen, und auch das in keine Kategorie zu bringende Wesen meiner Mutter, für das dem konventionell gebundenen Italiener jedes Verständnis mangeln mußte, fand unter den Russen, denen ihr kurländisches Blut sich ohnehin immer nahe gefühlt hatte, die richtige Einreihung. Gesprochen wurde nur Französisch, da die Schwestern kein Deutsch konnten; auch die schwachen Reste des Russischen, die mir aus meinen Tübinger Studien und meinen Übersetzungen 163 geblieben waren, mußten gelegentlich herhalten. Nur daß man einmal einen Serben neben mich setzte, der keine als seine Muttersprache kannte, und wir beide uns angstvoll abmühen mußten, aus den gemeinsamen slawischen Elementen der beiden Sprachen unter dem Lachen der Anwesenden wie unserem eigenen eine Unterhaltung zustande zu bringen, das fand ich grausam. Aber es wurde mir erklärt, daß sich schon alle anderen der Reihe nach mit dem unverdaulichen Bissen abgequält hätten, da sei es nicht mehr als billig, daß auch ich einmal dran komme.
Die leichte und feine Luft dieser Kreise, ihre ebenso vornehme wie natürliche Haltung taten mir so wohl, daß ich mich willig nach ihrer Weise modelte und auch mit einer geringeren geistigen Ausbeute zufrieden war, weil mir die Verbindung von gesellschaftlicher Hochzucht und erdnaher Nahrhaftigkeit immer neue gegensätzliche Anziehung bot. Was mir Tatjana von ihrer Jugend auf russischen Gutshöfen erzählte, von den rasenden Schlittenfahrten durch die Steppe über Stock und Stein, wo es nichts zu besagen hatte, wenn einer der Insassen unterwegs abhanden kam und später aus dem Schnee wieder hervorgesucht werden mußte, das gab mir ein Gefühl jener Grenzenlosigkeit des russischen Raumes und der sich darin abzielenden menschlichen Möglichkeiten, woraus die Russen ihre berühmte »schirokaja natura« (weite Natur) ableiten. Ich, die ich mein Leben lang vor engen Begriffen, engen Wänden und engen Tälern mit gleichem Schrecken floh, fühlte mich darin der slawischen Seele verwandt. Und wie in der Frühzeit mit der geliebten LiliEine Gestalt aus meinem »Jugendland« hielt ich es mit den russischen 164 Freundinnen wieder, nur daß die Drehung der Spirale mich unterdessen um einen erweiterten Umlauf höher geführt hatte: ich nahm in mich auf, was sie mir Neues, Reizvolles boten, stellte mich bewußt auf ihren Standpunkt, ging in alle ihre Belange ein. Ich las und lobte mit ihnen die oberflächlichen französischen Romane, die ganz Europa entzückten, und wenn die reifere Sonja gelegentlich einen kritischen Einwand erhob, gab ich der geliebteren Tanja recht, denn auf ein bißchen mehr oder weniger Kitsch, gemessen an dem, was ich zu Hause las, kam es da gar nicht an. Es war dies keine Untreue gegen mein wahres Selbst und keine Unwahrheit gegen die Freundschaft, sondern ich trennte mich bewußt in zwei Hälften, von denen die eine sich dem Augenblick anpaßte, um vom Druck des Alleinseins entlastet einmal die Süßigkeit liebender Gemeinschaft zu kosten, so wie man zur Faschingszeit ein Maskenzeichen anlegt, um an einem festlichen Abend teilzunehmen – nicht daß die Freundschaft eine Maske gewesen wäre, nur die Anpassung war es, durch die ich leichter zu der Freundschaft kam. Die andere Hälfte hütete indessen in unsichtbarer Tiefe ihre alten Götter, die sich nicht in Gesellschaft mitnehmen ließen. Ich war wieder jung, unwahrscheinlich jung, seelisch und körperlich; die erlebten traurigen Jahre strich ich mir selber aus der Rechnung.
Von den zwei Schwestern war Sonja die ausgezeichnetere, hoch und schmal, mit dem seltenen Gegensatz der schweren blauschwarzen Flechtenkrone und den tiefblauen, dunkelbewimperten Augen; die Madonna vom Kaukasus nannte sie ein gemeinsamer italienischer Freund. Aber man kam ihr nicht nahe, denn sie war sehr schüchtern, was in einem leichten 165 Stottern seinen Anlaß hatte und als Kälte erschien, so daß ihre Zurückhaltung andere zurückhaltend machte. Dabei hatte sie das weichste, gütigste Herz; ein Zug, den sie mir einmal von sich als eine Schwäche erzählte, war dafür tief bezeichnend. An einem Gesellschafts- und Spielabend in hocharistokratischem Petersburger Zirkel wurde ein junger Offizier aus dem vornehmsten Regiment als Falschspieler entlarvt und schmachvoll ausgestoßen. Der Skandal war ungeheuer, die Gesellschaft brach sogleich auf und strömte die Treppe hinunter an dem Gebrandmarkten vorbei, der sich bleich und verzerrt auf einem Treppenabsatz an die Wand drückte. Als die fürstliche Sonja vorüberging und den Jammermenschen sah, da erbarmte sie die entwürdigte Menschheit in einem, der soeben noch ihresgleichen gewesen war. Persönlich ging er sie nicht das geringste an, aber sie trat hinzu und reichte ihm vor aller Augen die Hand. Natürlich fanden es ihre Bekannten lächerlich, und sie lachte sich auch selber ein wenig aus, aber ich schloß sie für diesen Zug in mein Herz, denn ich wußte, was es sie bei ihrer Schüchternheit gekostet haben mußte, und daß auch hinter dem Mitleid die Erkenntnis stand, daß im Grunde die Richter und Rächer ebensowenig taugten, weil sie doch alle auf ihre Weise so oder so Falschspieler des Lebens waren.
Aber Tatjana stand mir trotzdem näher. Wir hatten beide – sie noch, ich wieder – das Jungmädchenlachen, das grundlose, aus bloßer Freudigkeit entspringende, das in mir soviel Zerpreßtes, schmerzlich Erdrücktes entband. Sonja lachte nicht, sie lächelte nur: On ne rit plus quand on est mariée, sagte sie. Tatjana war einer der selbstlosesten Menschen, die mir begegnet sind, überall trat sie zurück; sie, die selber so schön war, 166 suchte nur immer mich zu schmücken und vorzuschieben, wenn wir zusammen ausgingen, denn sie führten mich in alle Häuser ein, wo sie verkehrten. Wenn ich mich für ein Fest ankleidete, kam sie mit Blumen, die sie mir ins Haar oder ans Kleid steckte, kniete zusamt ihrer cameriera am Boden, um mir die Schleppe gefälliger zu raffen. Ihren kostbaren Schmuck legte sie niemals an, weil ich dergleichen nicht besaß und mir nichts von dem ihrigen schenken ließ. War ich in der allerersten Jugend meinen Jahren weit vorangeeilt, so blieb ich jetzt in den Zwanzigen dem Leben gegenüber grüner als mein wirkliches Alter und hatte auch an frühen inneren Erfahrungen manches nachzuholen, denn seltsam blühten mir alle Blumen und reiften mir alle Früchte außerhalb ihrer Jahreszeit. Diese Mädchenfreundschaft, wie sie bei anderen in die Schulzeit zu fallen pflegt, lebte wie die Verliebtheit zwischen Jüngling und Mädchen, sonst ein Vorspiel zu dieser, in stetem Auf und Nieder der Gefühle, in Zürnen und Schmollen, in Lachen und Weinen, in schmerzlicher Abwendung und in beglückter Wiederversöhnung, worüber die fertigere Sonja lächelte: es war die Jugendunruhe, die, was sie besitzt, gleich wieder aufs Spiel setzen muß.
Mein Balde, jetzt achtzehnjährig, aber in der Seele durch sein langes Leiden völlig Kind geblieben, mit seinem edlen altdeutschen Gesichtsschnitt bildschön wie aus einem Dürer herausgetreten, hatte sich, so wie es ihm als kleinem Knaben bei Lili ergangen war, in meine edle Freundin mit verliebt. Sie merkte es, und aus Dankbarkeit küßte sie ihn eines Tages; das kränkte ihn jedoch, denn er wollte nicht als Kind behandelt sein.
167 Da der ewige Trieb nach dem Meere, der von klein auf mit mir ging, noch immer nicht gestillt war und meine Mutter mir nicht gestatten wollte, allein einen der berühmten Strandplätze aufzusuchen, was auch nach Landesbegriffen sehr anstößig gewesen wäre und mir Belästigungen zugezogen hätte, erbarmten sich die Freundinnen meiner und fuhren mit mir nach Livorno. Als die Gegend flacher und flacher wurde und endlich ein blauer Streifen am Horizont erschien mit einem senkrechten Strich darauf, das erste Segel eines Meerschiffs das ich sah, da wollte mir vor Entzücken das Herz aus dem Leibe schießen. Thalatta! Thalatta! An dem schönen Klippenstrand von Antignano fanden wir eine weite, ins Meer hinausgebaute Badehütte, deren Vorderseite fast in ganzer Breite nach dem Meere offen war. Schwimmanzüge hatten wir keine mitgebracht, das machte meinen unbefangenen Russinnen nichts aus, ohne Umstände warfen sie die Kleider ab und tauchten ins Wasser, verwundert ob meines Zögerns. Da tat ich das gleiche, und wir schwammen hinaus ins Tiefe, dessen wundervolles Tragen ich zum ersten Male empfand. Es war ein herrliches Schwimmen, das außer uns selbst kein Menschenauge sah, bis hinter einer Klippe ein Boot voll junger Leute herauskam und uns zu schleuniger Umkehr nötigte.
Nun hatte ich endlich Seewasser gekostet und blieb fortan dem Meere für immer verhaftet.
Als der Hochsommer kam, stand es fest, daß wir drei Freundinnen zusammen ein Seebad aufsuchen würden. Ich konnte mir das gestatten, denn ich hatte aus den von Deutschland mitgebrachten literarischen Aufträgen einen kleinen Überschuß über das tägliche Leben hinaus erzielt. Die Wahl des Ortes 168 wurde mir überlassen, und bei mir stand von vornherein fest: Rimini! Der Name hatte mir's angetan, es hing den drei gleichen Vokalen etwas vollkommen Zauberhaftes an, das nicht von dem darüber hingegossenen Glanz der großen Dichtung ausging, sondern wie mit persönlichem Zwang auf mich wirkte. Wir mieteten eine Wohnung in der kleinen glühend heißen Stadt, mit deren steinernen Zeugen des Mittelalters ich leider damals nicht viel anzufangen wußte; zu wenig hatte sich noch das städtebauliche Sehen bei mir entwickelt, das um jene Zeit noch Fachbesitz der Eingeweihten war, und auch von der Vergangenheit Riminis hatte ich so gut wie keine Kenntnis. Die spitzigen Pflastersteine der engen Straßen, auf denen man wie auf Nadeln ging, entlockten mir nur die erstaunte Frage, ob denn die zarten Damen und die stolzen Kavaliere am Hof der Malatesta eiserne Schuhe getragen hätten, und der Name Isotta, die italienische Form meines eigenen, als Straßenbezeichnung gab mir ein Rätsel auf; ich kannte bislang nur eine Francesca, keine Isotta da Rimini. Das einzige, was mich von Denkmalen anzog, war der große Torbogen des Augustus und der Steinblock, von dem Cäsar nach der Überschreitung des Rubikon zu seinen Soldaten gesprochen hatte. Aber diesen weltberühmten Schicksalsfluß zu sehen war mir nicht vergönnt, niemand wußte mehr, wo er einstmals floß oder welcher der jetzt vorhandenen Flüsse, die bei Rimini ins Meer gehen, diesen Namen getragen hat, und man weiß es bis heute nicht.
Doch dies alles versank vor dem Glück der Wundernähe. Rimini liegt ja nicht unmittelbar am Meere, man mußte eine halbe Stunde zwischen staubigen Bäumen in der 169 Straßenbahn fahren, ehe der Silberschimmer der Adria in Sicht kam. Jeder Tag war ein Geschenk des Himmels; die Vormittage wurden teils im Wasser, teils im Sande liegend verbracht, nach der Mahlzeit und Siesta im verdunkelten Hause fuhr man wieder hinaus und badete aufs neue. Wie oft verwünschte ich die Philisterei meiner Heimat, die mich verhindert hatte, mir schon von klein auf ebenso sichere Vertrautheit mit dem Wasser zu erwerben wie Tatjana, die darin wie in ihrem Elemente lebte: kaum daß sie sich hineingeworfen hatte, war sie auch schon außer Blickweite. Einmal geriet ich wirklich in Gefahr, als ich ihr folgte. Dem Strand von Rimini war in mäßiger Entfernung vom Ufer unsichtbar eine Düne vorgelagert, auf der die Schwimmer, nur bis zur Brust im Wasser, zu rasten pflegten. Dorthin strebte ich wie gewöhnlich, als plötzlich der ganze Schwarm zerstoben war. Als ich keinen Grund unter den Füßen fand, schwamm ich weiter und geriet immer mehr ins Tiefe, bis mir aufging, daß ich den sicheren Rastort unbemerkt überschwommen hatte. Umkehrend sah ich die Düne nach wie vor unkenntlich und das Ufer mit den Badenden bedenklich weit entfernt, und ich suchte mir vor allem völligen Gleichmut einzureden. Ein bolognesischer Graf, den ich vom Kasino her kannte, ersah von fern die Gefahr und kam mit schnellen Stößen heran. Er rief mir zu, wenn ich versprechen könne, vollkommen ruhig zu sein und ihn keinenfalls am Halse zu fassen, so werde er mich ganz bequem und sicher ans Ufer bringen. Ich gab meiner Stimme einen so fröhlichen Klang, daß er sich vertrauend näherte und mir seine Schulter zur Stütze bot, damit ich die linke Hand darauf legte, während ich mit der rechten rudernd von dem vortrefflichen 170 Schwimmer schnell vorangetragen wurde, bis wo man festen Grund hatte. Ich habe öfters in kritischen Augenblicken, sei es zu Pferd, sei es auf einem Gletscheranstieg, die Erfahrung gemacht, daß man vor sich selbst ein wenig Komödie spielen muß und sich sicherer geben als man sich fühlt, um tatsächlich Sicherheit zu empfinden und zu verbreiten.
Rimini! Aus einem Ozean von späterem Lebenskampf und Lebensleid steigt dein Strand wie eine Insel der Seligen für einen kurzen Augenblick in meiner Erinnerung auf. Ich war wie Aschenbrödel, die mit Mond- und Sternenkleidern kommt um im Königssaale zu tanzen. Alle Wünsche erfüllten sich von selbst. Ich sehe mich zu Pferd in der Begleitung eines Offiziers auf dem nassen Sande hinfliegen unter der anrollenden Welle, die je und je die Pferde bis zu den Knien besprengt, oder auch ein Stück weit durch das seichtere Uferwasser reiten. Ich sehe mich mit den zwei schönen Schwestern am Strande liegend mir die Haare trocknen, während das reizende Kind daneben im Sande spielt, oder vom Bootsrand in die Tiefe springen – Freuden, die ich von da an in jedem Sommer an einem noch viel schöneren Strand genießen sollte, die aber nie so hauchzart und lichtgeboren wiederkehrten wie in jenem ersten Jahr an der silbrigschimmernden Adria. Das liebevolle Schwesterherz, das mir durch ein Wunder zugefallen war, fing all mein Glück wie in einem hellgeschliffenen Spiegel auf. Ein paar Strophen einer festlichen Erinnerung umflattern mich noch, worin die Innigkeit dieses Verhältnisses dankbar festgehalten ist. 171
Wir schritten einig oft zum Fest geschmückt,
Uns in des Tanzes Wogen rasch entschwindend,
Und haben, im Gewühl uns wiederfindend,
Verstohlen, innig uns die Hand gedrückt.
Wenn dich delphinengleich die Welle hob,
Folgt ich getrost dir in dein Reich, das nasse,
Du standst und winktest nach von der Terrasse,
Wenn ich auf schnellem Roß vorüberstob.
Und wenn der Vollmond überm Meere stand,
Dann schritten wir am Ufer fest umschlungen
Und tauschten kindliche Erinnerungen,
Vom Schwarzwald ich und du vom Wolgastrand.
Auch an geistiger Anregung fehlte es nicht. Unter den Badegästen befand sich der Professor und Senator Mantegazza, der durch seine großen Reisen und naturwissenschaftlichen Werke einen Weltruf besaß. Er war ein schöner, ungemein anziehender Mann, dessen Gespräch durch sein weites Blickfeld fesselte, denn er war in beiden Hemisphären heimisch, und was er Wissenschaftliches einmischte, kam weniger aus der Studierstube als aus dem unmittelbaren Leben. Ich habe später seine öffentlichen Vorträge an der Universität zu Florenz gehört, wo er eine große und begeisterte, großenteils weibliche Gemeinde hatte; seine Rede sprühte von Geist und Feuer, er sprach auf erhöhter Bühne auf und nieder gehend zu seinen Hörern nicht lehrhaft, sondern wie ein Hausherr zu geladenen Gästen. Was er vortrug, war der Darwinismus seiner Zeit, man brachte davon nichts Wesentliches nach 172 Hause. Sein Buch über die Liebe war in alle Sprachen übersetzt und von der ganzen Frauenwelt – wohl zumeist nur heimlich, ob seiner dazumal erschreckenden Kühnheit – gelesen; heute nach den über uns hingegangenen wissenschaftlichen Ausartungen würde man, wenn es noch aufläge, über seine Harmlosigkeit erstaunen.
An jenen Abenden in Rimini zeichnete er mich vor allen durch seine Unterhaltung aus, weil es ihn freute, deutsch zu sprechen. Da entfiel ihm einmal die Bemerkung, daß die unmittelbaren Erben der Griechen die Italiener seien, was mich sehr betroffen machte, denn ich hatte stets gehört und geglaubt, daß die Nachfolge des hellenischen Geistes bei meinem Volke sei, und ich kannte auch die gewaltigen Leistungen und Opfer, welche die italienische Renaissance für die Wiedergewinnung des Griechentums gebracht hatte, noch nicht. Ich trug also einen kleinen Dorn in der Seele herum, bis ich genügend selbständige Erfahrung gewann, um zu erkennen, daß beide Teile recht haben, weil der griechische Geist ein so unendlich weiter ist, daß kein heutiges Volk sich rühmen kann, ihn allein zu besitzen, da jedem Kulturvolk ein besonderes Erbstück davon zugefallen ist.
An einem Abend im Kasino wurde ich auf einen wie mir schien bejahrten Herrn mit gedunsenem Kopf und schwerer Körperlichkeit aufmerksam gemacht, der nicht weit von uns allein an einem Tische saß, von allen Vorübergehenden mit besonderer Auszeichnung gegrüßt.
Es sei Carducci, raunte mir mein bolognesischer Graf zu, ob ich ihn kennenlernen wolle, dann würde er mich zu ihm führen.
173 Ich sah auf und verneinte, wo jede andere mit Entzücken Ja gesagt hätte. Es war die gleiche bedauernswerte Torheit, die ich viele Jahre später genau so wieder beging, als Böcklin mich in Zürich fragte, ob ich Gottfried Keller kennenzulernen wünsche. Beide Male war es die Furcht, über der poesiewidrigen massigen Körperlichkeit den beschwingten Dichtergenius entschweben zu sehen. Ich konnte es der Natur nicht verzeihen, wenn sie eine hohe Begabung geschaffen hatte und dann zu geizig war, sie mit einer würdigen Außenseite zu bekleiden; lieber noch die Elendshülle eines Leopardi, als das behäbig bürgerliche Äußere der beiden genannten Großen. Ich habe überhaupt nie den Drang gehabt, von dem Dichter, der seine Züge so unwidersprechlich selber in seinen Vers meißelt, auch die ihm von den Eltern mitgegebenen zu sehen, die ihm – seinem höheren Ich – häufig so gar nicht ähnlich sind.
Vor allem aber mochte ich jenes Abends an nichts Literarisches erinnert sein. Ich wollte nicht von dem italienischen Dichter nach meinem Vater gefragt sein, weil ich ja nicht antworten konnte:
Er war ein deutscher Dichter,
Bekannt im deutschen Land,
Nennt man die größten Namen,
Wird auch der seine genannt.
Der gute Kenner der deutschen Literatur, für den Carducci galt, hätte, so schien mir, stutzen müssen, daß ihm der Name fremd war. Denn die Italiener, die so stolz sind auf ihre geistigen Größen, wissen nichts von einem unterdrückten 174 Dichtergenius: was sie nicht von Ruhm bestrahlt sehen, das glauben sie darum auch keines Ruhmes wert. Ich hätte ihm von dem Ariost-Übersetzer Hermann Kurz erzählen können, aber damit hätte ich den deutschen Dichter in den Abglanz eines fremden Gestirns gestellt. Nein, mein Vater sollte mir erst aus dem Grabe steigen, wenn die Zeit bereit war, seine volle Größe zu verstehen. Also keine Dissonanz in diese festlichen Tage. Jetzt wollte ich nichts als jung und frei sein, mir selbst zum Märchen werden, mit dem Sternenkleid aus der Nußschale im Königsschloß tanzen, die Tragik, in die ich hineingeboren war, vergessen.
Und nun bereitete mir der Zufall in jenem weitgespannten Rahmen ein flüchtiges Idyll von solchem Schmelz und solcher Zartheit, daß es kaum in Worte gefaßt sein will und doch bedeutsam genug war, um sich für immer in mein Gedächtnis zu prägen.
Als ich aus dem Ablegeraum, wo ich mir meinen abgetretenen Gewandsaum richten ließ, wieder zu unserer Tafelrunde trat, hatte sich neben meinem leeren Stuhl ein reiferer Mann von edler Haltung und schöner soldatischer Erscheinung niedergelassen, der von der Gesellschaft mit offensichtlicher Auszeichnung behandelt wurde. Er war, wie ich erfuhr, anläßlich eines Manövers an der Spitze seines Reiterregiments in die Gegend gekommen und hatte an unserem Tisch eine ihm befreundete Familie aus seiner Garnisonsstadt begrüßt. Bei meinem Erscheinen erhob er sich und wurde zunächst mir, dann erst den zuvor schon dagewesenen beiden Fürstinnen und dem Rest der Gesellschaft vorgestellt. Daß es aussah, als hätte man meine Zurückkunft abgewartet, um diese Zeremonie vorzunehmen, 175 mochte ihn von vornherein auf mich hinweisen, wenn man ihm nicht zuvor schon von mir gesprochen hatte; so richtete er auch seine ersten Worte an mich. Es ist ein seltsames Ding, wenn zwei Menschen, die noch vor Minuten nichts voneinander wußten und nicht die fernste Beziehung gemeinsam haben, sich beim ersten Begegnen durch geheimen Zwang zusammengezogen fühlen, daß sie mitten in der Gesellschaft miteinander allein sind, eines auf das andere bezogen und doch gegenseitig nichts voneinander wissend. Was wir redeten, war gewiß nicht mehr als was gebildete Menschen bei der ersten Begegnung zu reden pflegen, aber ein herzerweiterndes beiderseitiges Wohlgefallen ging dabei spürbar hin und her und breitete sich zu einem allgemeinen Glücksgefühl aus, in dem die Erde als etwas ganz Vollkommenes erschien. Ich spürte wohl, daß ich nicht etwa einen bedeutenden oder besonders geistreichen Mann vor mir hatte, wohl aber eine Persönlichkeit von fester und gebietender Prägung, von der eine große Sicherheit und ungewöhnliche Anziehungskraft ausging. Mit der Liebenswürdigkeit des Südländers mischte sich in ihm der Ernst des Nordens, denn er war Lombarde. Wir sprachen beide den ganzen Abend nur miteinander, er kannte Deutschland, nannte mit Wohlgefallen meine Heimatstadt Stuttgart, und ich empfand es mit Stolz, die Tochter einer großen Nation zu sein, denn Deutschland stand damals auf der Höhe seines Glücks. Das ist das Wunder, dachte ich. Die andern rückten leise weg, um nicht dazwischenzutreten. Ab und zu kam der eine oder der andere meiner Kavaliere, dem ich einen Tanz versprochen hatte, dann begleitete mich der Ankömmling, den die Sporen am Tanze hinderten, zur Saaltüre und sah zu. Ich wurde aber immer 176 schnell des Tanzens satt und kam zurück, um die unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen, bis man uns ungestört beisammen ließ. Unerwartet und zu meinem hellen Schrecken bat mein Partner mit soldatischer Geradheit über den Tisch hinüber eine ihm befreundete vornehme Dame, mich für den nächsten Karneval zu sich einzuladen, was von ihrer Seite mit Herzlichkeit geschah und von ihrem Gatten noch dringender wiederholt wurde, mit dem Versprechen, alles zu meiner Annehmlichkeit dienende für mich tun zu wollen. Der Graf, so wurde mein neuer Bekannter angeredet, verstärkte die Anerbietungen, indem er sich für die ganze Zeit meines Aufenthalts mit allem, was in seinen Kräften stand, mir zur Verfügung stellte. Ich dankte lächelnd, wenn auch mit wehem Herzen, ich könne von Hause nicht abkommen. Das Märchen paßte ja nicht in den wachen Tag. Es tue ihm leid, weil er nur wenige Tage bleiben könne, sagte er, indem wir unser Sondergespräch fortsetzten, aber er verstehe wohl mein Nein und dürfe es mir nicht vorwerfen. Er würde sich jedoch dadurch nicht abhalten lassen mich wiederzusehen, sondern im Winter Urlaub nehmen und selber nach Florenz kommen. Ich hatte aus der Haltung der Gesellschaft begriffen, daß ich einen Mann aus vornehmem Geschlecht und von glänzender Lebensstellung vor mir hatte, von dem ausgezeichnet zu werden für eine Ehre galt und der natürlich von vielen begehrt war; um so weniger schien mir bei der Kürze der Bekanntschaft ein Entgegenkommen am Platze. Ich mußte an eine Häuslichkeit denken, in der sich wohl die völlig unkonventionellen Russen zurechtfanden, aber schwerlich ein Träger festen gesellschaftlichen und geistigen Herkommens. Dazu Mütterleins unbewachte Reden und 177 Edgars plötzliche Ablehnungen, die häufig nur Folge überstarker beruflicher Nervenspannung waren, und es schrie aus meiner Seele nein und abermals nein. Ich hätte sagen müssen, daß unser Haus kein geselliges sei, weil mir ein Bruder an langem Leiden hinsterbe und meine Mutter keine Besuche empfange. Aber mir schauderte davor, die traurige Wirklichkeit in das Märchen hineinzuziehen, da sich doch beide niemals miteinander vertragen konnten; so ließ ich alles zu Boden gleiten. Nur nicht den Zauber brechen, nur nicht über das Wunder der Stunde hinausdenken. Aber wenn es zu Ende war, mit dem Sternenkleid aus dem Königssaal fliehen und dem Suchenden keinen goldenen Schuh, woran ich zu finden war, zurücklassen.
Er fühlte den Widerstand und schlug mir nun bei der nächsten Begegnung einen ihm befreundeten Salon in Florenz vor, wo viele angesehene Fremde verkehrten und wo ich mich leicht hätte einführen lassen können. Dort meinte er, würde sich bei seiner Hinkunft ein Wiederbegegnen am zwanglosesten einleiten lassen. Ich schwieg. Ich sah da keine Brücke und es gab auch keine. Vor allem war schon mein Stolz viel zu groß, um anders denn als gleiche vor einem Werber stehen zu wollen; ich glaubte ja auch gar nicht, daß ein Mann mich durch Namen und Stellung zu mehr machen könnte, als ich mich von Geburt aus fühlte. Und zu dem allem noch Mamas Abscheu vor dem Soldatenstand. Ich freilich dachte auf diesem Punkt wie auf so vielen Punkten anders: hatte doch sie selbst, die Soldatentochter, mir, o Widersinn! aus ihrem väterlichen Blut ein Wohlgefallen an militärischen Schauspielen, an Waffenübungen und Reiterzügen und eine wahre Lust an der 178 Darstellung kriegerischer Abenteuer vererbt. Mehr Eindruck machte mir ein Wink der welterfahrenen Sonja: in der Uniform liege die Begrenzung, die das Wort selber aussagt. Die Begrenzung, das traf! Gebundenheit an unverwischbare Prägungen und nicht zu entwurzelnde Anschauungen, die den Einzelnen zur Gattung machen, war mir immer tief unheimlich. Wieviel besser der Wildwest und das Reiten auf Präriepferden, das einmal meine Jugendhoffnung gewesen war! Es machte mich wohl glücklich, meine alte Sehnsucht nach lebendiger hoher Kulturform und Schönheit auf dem klassischen Boden gestillt zu sehen und mich darin wie mitgeboren zu bewegen, aber es war nur eine Gastrolle die ich spielte; dauernd hätte ich nicht in ihren Bindungen und Schranken leben können. Dem Dichter ist das Gehen von Sphäre zu Sphäre nicht zu persönlichen Zwecken gegeben: er muß als Bruder neben dem König und dem Bettler stehen, von keiner Daseinsform sich verwirren lassen und in allen heimisch sein, er selber aber darf keinen Stand haben. Das lag mir im Gefühl, bevor es in mein Bewußtsein trat. Meist empfand ich mich ja nicht einmal als Zeitgenossin sondern als Bürgerin einer Welt, die erst kommen würde, wenn ich nicht mehr war. Aber vielleicht waren diese Tage doch die schönsten meiner Jugend, gerade weil sie so unwirklich waren, und ich sie so ganz nur als Poesie genoß, deren Erinnerung ich vor jeder späteren Dissonanz bewahren wollte. Wenn ich neben dem ritterlichen Mann durch die Säle ging an der spalierbildenden Jugend vorüber und uns ein Beifallsmurmeln durch die Reihen folgte, so freute ich mich, weil er es mitvernahm; und wenn die jungen Offiziere mit liebevoller Verehrung ihren früh zu hoher Stellung 179 gelangten Kommandeur nannten, so freute ich mich wieder. Eines war es, was mich vor allem an der edlen Erscheinung anzog und was die innige Bezauberung nährte: daß in seiner Haltung nicht eine Spur von Leichtfertigkeit lag und mehr Ehrfurcht vor dem weiblichen Geschlecht, als ich sie sonst bei romanischen Männern gefunden hatte. Nur den augenscheinlichen Sinn, der sich hinter seinen Worten barg, mußte ich mir gewaltsam fernhalten.
Noch erinnere ich mich einer gemeinsamen Meerfahrt am letzten Abend, wo der Liebenswürdige beim Aussteigen meine Hand festhielt und etwas abseits von den anderen schnell und dringend abermals die Frage stellte: Wo also sehen wir uns wieder?
Im Paradies, antwortete ich leichthin, in dem angenommenen Tone bleibend – ein verhängnisvolles Wort, bei dem mir gleich selber nicht wohl war und das mir später erst recht aufs Herz fiel. – Nein, so lange werde er nicht warten, – mehr konnte er nicht mehr sagen, weil die Gesellschaft sich abschiednehmend dazwischendrängte. Nur noch ein stummer Händedruck und ein langer Blick, dann gingen wir auseinander, und am nächsten Morgen war die Phantasmagorie zerstoben, die Gegend leer.
Der Besuch, den ich weit mehr fürchtete als wünschte, wurde nicht zur Wahrheit. Nur einmal, bald nach der Heimkehr, erreichte mich noch ein flüchtiger Beweis, daß ich nicht vergessen war. Der Winter ging hin und das Frühjahr brachte die Nachricht von seinem Tode.
Es war ein wiederkehrender Zug in meinem Leben, daß in das »Neigen von Herzen zu Herzen« sich der Tod mischte. Hatte 180 ich ihn in früher Jugend zu zärtlich angeblickt, als ich ihn so schön und ernst neben meinen frühsterbenden Lieblingshelden stehen sah, daß er nun immer in meiner Nähe sein wollte? Aber er suchte nicht mich, er wollte nur von mir verherrlicht sein. Und ich stand jedem dieser Toten mit einem bangen Schuldgefühl gegenüber, weil ich noch hatte, was er nicht mehr besaß, das atmende Leben. So als ob ich bei der Geburt von dem pulsenden Lebenselement mehr für mich gefaßt hätte, als mir zukam, und es nun denen, die ich liebte, die mich liebten, immer wieder daran fehlen müsse.
An jenem Maitag, als ich über der Traueranzeige Ströme von Tränen weinte, legte Tatjana ihre Wange an die meine und weinte innig mit: Vous ne savez pas - je l'ai aimé aussi. Das edle Herz hatte sich von meiner Hinneigung mitreißen lassen, war aber liebevoll wie immer in den Hintergrund getreten.
Ein Menschenalter sollte vergehen, bis ich noch einmal den Namen nennen hörte, der in Rimini mein Herz bewegt hatte. Zugleich erfuhr ich auch von der Wirrung, die nach jenen Tagen in das Leben des ritterlichen Mannes störend eingriff; eine Wirrung, bei der er die ehrenhafteste Rolle spielte. Weibliche Nachstellungen von höherer Seite hatten ihn veranlaßt, lieber als seiner Pflicht und Ehre zu fehlen, sich in eine kleine entlegene Garnisonsstadt versetzen zu lassen, wo ihn eine vielleicht durch Unlust und Widerwärtigkeit beförderte Krankheit schnell hinwegnahm. Er war der heißen Tränen, die um ihn flossen, wohl wert gewesen, und es war nicht grundlos, daß unter den vielen Begegnungen meines Lebens gerade diese flüchtige, ohne Fortsetzung gebliebene mir mit den zartesten, aber 181 unverwischbaren Pastellfarben in der Seele haften blieb. – Bald ging nun auch das Verhältnis mit Tatjana zur Neige. Aus Rußland kam die alte Fürstin, ihre Mutter, eine kleine dicke, äußerst sonderbare Frau, durch und durch ancien régime aus der Zeit der Leibeigenschaft und so unwissend wie es ihre Generation und ihr Stand mit sich brachten. Sie sprach ein sehr schlechtes Französisch, und Russisch konnte sie, wie ihre Töchter klagten, so gut wie gar nicht. Man hätte sie wie sie ging und stand in einen Roman Turgenjews oder einen frühen Tolstoi hineinstellen können. Die Wohnung neben der unsrigen wurde jetzt zu klein, der Schwiegersohn Potemkin kaufte weit draußen auf Mont' Ughi um lächerlich geringen Preis die eben feilstehende historische Villa, wo die berühmte Verschwörung der Pazzi angezettelt worden war. Die alte Fürstin war zu dem ausgesprochenen Zwecke gekommen, sich mit der Verheiratung ihrer jüngeren Tochter zu beschäftigen. Diesem Plan war eine Freundschaft, die so viel Platz in Tatjanas Leben ausfüllte, hinderlich; sie beschränkte also unseren Umgang, der ohnehin bei der großen Entfernung und den damals noch unentwickelten Verkehrsverhältnissen nur schwer aufrechtzuerhalten war. Die Freundinnen sahen sich nur selten mehr in dem neuen Raum, noch seltener bei mir in dem alten. Tatjana war immer schwachen Willens gewesen, so durfte ich ihr nicht verargen, daß sie die herrschsüchtige Mutter zwischen uns beide treten ließ. Bald darauf wurde sie mit einem italienischen Diplomaten verlobt; der Zar hatte die Tochter des alten aber verarmten Fürstenhauses standesgemäß ausgestattet. Sie kam als Gesandtin an einen Balkanhof, was ihrer stillen, immer etwas menschenscheuen Art 182 wenig entsprach. Wir tauschten nur noch seltene Briefe; da unser Bund auf keine geistige Gemeinschaft, nur auf herzliche Neigung und Vertrauen gegründet war, konnte er in der Ferne nicht anders als durch die zärtliche Erinnerung fortbestehen.
Aber nach meiner Erfahrung kann keine innerlich gute Saat, die einmal gegrünt hat, spurlos untergehen. Wenige Wochen vor Ausbruch des Weltkriegs, wer klopft da eines Tages in München an meine Tür? Sonja, die seit vierunddreißig Jahren für mich Verschollene. Die lange Zwischenzeit versank im Nu vor der lebendigen Gegenwart, wir standen uns gegenüber, als ob wir uns gestern verlassen hätten. Sie war ganz und vollständig die alte, mit der schönen Würde ihrer Haltung und der Wärme ihres Herzens, nur daß sich durch die blauschwarzen Flechten einige weiße Fäden zogen und daß ihre hohe Gestalt leise vom Leiden berührt war, über das sie mit den Worten: il faut bien que j'aie quelquechose ergeben hinwegging. Vor dem Reliefbild meiner Mutter und der Büste meines Balde brach sie in eine solche Flut von Tränen aus, daß ihr feines Tüchlein schnell durchgeweint war und ich nicht Ersatz genug herbeischaffen konnte, um sie zu trocknen. Sie weinte um meine Toten, als ob es ihre eigenen wären! In Ebenhausen wohnte sie mit Tatjana, die nicht sofort mitgekommen war, weil sie, einsam und menschenscheu geworden, zuvor wissen wollte, ob ich sie noch liebte. Beide Schwestern waren verwitwet und, wie ich sehen konnte, wieder in beschränkter Lebenslage wie ehedem, aber noch immer durch und durch fürstlich in Gesinnung und Wesen. Sonja, die immer geistiger gewesene, hatte sich's nicht nehmen lassen, aus der Ferne meinen Weg zu verfolgen und sich sogar 183 Bücher von mir zu kaufen, die sie ja nicht lesen konnte. Wir verbrachten ein paar schöne Nachmittage, Unvergeßliches zurückrufend, teils bei ihnen auf dem Lande, teils in der Stadt bei mir, wo mein Jugendfreund Mohl aus den frühen Tübinger Tagen, der nach vierzig in Rußland verbrachten Jahren in München Anker geworfen hatte, um seine letzten Jahre neben mir zu verleben, zu seiner Freude Gelegenheit hatte, wieder einmal russisch zu sprechen, und auch mein Ohr an die lang vergessenen Laute sich wieder gewöhnte. Nur zu bald wurden die beiden zugeflogenen lieben Vögel durch den Kriegsausbruch hinweggesprengt. Aber der von allen Seiten losbrechende blindwütige Völkerhaß vermochte die wiederverbundenen Herzen nicht mehr zu trennen. Sonja, die Tätige, Getreue, war es, die meinen Postverkehr mit dem italienischen Freunde, der mir mein verwaistes Haus in Forte dei Marmi brüderlich betreute, solange es in ihrer Macht stand, vermittelte. Man behauptet so gern, daß nur ein Volk die Treue kenne. Sie ist eine Wunderblume, aber freilich eine seltene, die überall wächst, wo Menschen wohnen.
Nun muß ich das Steuer wieder drehen, um aus dem vorweggenommenen Jahr 1914 in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzukehren.
Anfang 1882 neigte sich der kurze Lebenstag unseres Balde zum Ende. Vier Jahre lang hatte das damals noch so milde Klima von Florenz mit seinem kurzen sonnigen Winter und 184 seinen gleichmäßig glühenden Sommern, die der Kranke in glückseliger Dankbarkeit am Golf von Spezia verbrachte, ihm die Widerstandskraft gestärkt. Unter Vögeln und Blattpflanzen, immer mit Alleinstudium beschäftigt, um den versäumten Schulunterricht zu ersetzen, hatte er als der geliebte Mittelpunkt des Hauses trotz der körperlichen Beschwerde, die sein schweres Herzleiden mit sich brachte, doch kein ganz und gar unglückliches Dasein geführt. Seine edle, noch halb kindliche Jünglingsgestalt mit den schönen, tief vergeistigten Zügen und dem Ausdruck einer unsagbaren jungfräulichen Reinheit und Zartheit ist das ergreifendste Bild, das mir die Erinnerungen meines Lebens zeigen. Sein Bruder Erwin hat ihn so in seinem letzten Sommer unter einem Limonenbaum sitzend mit dem Blick aufs Meer gemalt. Ich sehe ihn noch, wie er in seinen guten Stunden durch die Straßen von Florenz ging, häufig einen um den Arm gelegten Schal achtlos am Boden nachziehend, mit langsamem, vorsichtigem Gang, um das Herz nicht zu beunruhigen, aber innerlich tief lebendig und stets zu allerlei Humoren aufgelegt. Wie jenes Tages, wo er mit einem großen verschnürten Paket auf dem Arm eilig und ängstlich durch die Porta San Gallo zu gelangen suchte, an den Mautwächtern vorüber, die natürlich wissen wollten, was in dem Pack sei. Nichts, nichts, bitte lassen Sie mich vorbei, war die aufgeregte Antwort, ich habe nichts Zollbares. Jene bestanden auf ihrer Pflicht und nötigten den ertappten Schmuggler mit ihrer Hilfe die Schnüre abzuwickeln. Unter dem verschnürten Pack befand sich ein zweiter ebensolcher, der gleichfalls geöffnet wurde unter Baldes fortwährender Beteuerung, daß ja ganz gewiß nichts in dem Pack 185 sei. Um so eifriger wurden die Zöllner, immer neue Schnüre abzuwickeln, bis in dem allerletzten und kleinsten Päckchen richtig das angegebene Nichts zum Vorschein kam. Der kleine Streich, zu dem auch die Zollwächter lachten –, o glückliche Zeit, wo die Organe der Obrigkeit das Lachen noch kannten –, machte ihm eine diebische Freude.
An meinen frühen literarischen Versuchen, die auch teilweise ihm zur Unterhaltung geschrieben waren, nahm er herzlicheren Anteil als die anderen Brüder; noch unlängst fand ich mit Rührung einen Stoß Blätter von seiner Hand mit Abschriften meiner damals entstandenen Märchen. Er war aber kein kritikloser Bewunderer, sondern sah mir scharf auf die Finger, denn er hatte sich bei seinem vielen Lesen ein sehr feines literarisches Unterscheidungsvermögen angeeignet. An seinem letzten Geburtstag war meine Kasse so leer, daß ich ihm nichts mehr kaufen konnte, deshalb schenkte ich ihm ein unentbehrliches Stück meines literarischen Rüstzeugs, das italienische Wörterbuch, das mir zu meinen Übersetzungen diente, mit der Absicht, mir von dem nächsten fälligen Honorar ein neues anzuschaffen. Er schrieb noch seinen Namen ein; zu der Neubeschaffung kam es nicht mehr, denn frühe genug fiel das kleine Werklein, das doch den Zweck erfüllt hatte ihm etwas Liebes zu tun, an mich zurück. Zerblättert und vergilbt wie es ist, erinnert es mich doch immer wieder an den kleinen Schmerz, da ich es opferte, und den großen, als es wieder mein wurde. Die Gestalt dieses jung verlorenen Bruders ist in mir nicht nur durch die geschwisterliche Liebe, sondern fast mehr noch durch eine tiefe künstlerische Freude lebendig geblieben. Ich habe seine zarte Schönheit in verschiedenen Gestalten meiner 186 Dichtungen wieder aufleben lassen. So als Olaf Hansen in dem Roman »Der Despot« und vor allem in der Novelle »Genesung«, wo er mit seinen persönlichen Besonderheiten, wenn auch in erfundenen Verhältnissen und in einer anderen Umgebung dargestellt ist. Ich wollte ihn als Walter Friese mit dem Abenteuer auf der Lagune ein letztes holdes Glück finden lassen, wie dem Armen in der Wirklichkeit keines zuteil geworden ist. Ach, nur die Geschöpfe der Poesie dürfen am Glück sterben, von denen der Wirklichkeit fordert die Natur den herben Wegezoll.
Seine letzten Tage verschlingen sich mit einem andern Sterben zu einem besonders düsteren Ausschnitt aus meinen Erinnerungen.
Nach dem Wegzug meiner russischen Freundinnen hatte eine verwitwete Engländerin, Mrs. Helen Wilkinson, die Wohnung neben der unsrigen inne. Sie war eine Vierzigerin von schmiegsamem Wesen, dunkelhaarig, nicht hübsch, doch von gefälliger Erscheinung, und wußte sich auf eine taktvolle Weise den Menschen angenehm zu machen. Ich hatte sie schon zuvor als Patientin meines Bruders in einem der Nebenhäuser am Viale kennengelernt, wo sie an Diphtherie erkrankt und von ihrem Mädchen aus Ansteckungsfurcht im Stich gelassen worden war. Man hatte damals nicht so leicht wie heute Pflegerinnen und barmherzige Schwestern an der Hand; weil Not an Mann ging, hatte Edgar, der wußte, daß ich nicht furchtsam war, mich gebeten auf einige Tage hinüberzuziehen und ihr beizustehen. Bei dieser Gelegenheit schloß sie sich mir tiefbedürftig an, und wir pflegten uns auch 187 nach ihrer Genesung noch häufig zu sehen. Sie war augenscheinlich eine Frau mit unglücklicher Vergangenheit, deren sie keine Erwähnung tat; man erfuhr nur später von ihren Landsleuten, daß ihr Gatte auf der Hochzeitsreise wahnsinnig geworden sei und den ganzen Rest seines Lebens im Irrenhaus verbracht habe. Katholikin, in einem englischen Kloster erzogen, wo es noch strenger herging als in den Klöstern katholischer Länder, hatte sie einen ungewöhnlich engen Horizont und äußerst beschränkte Kenntnisse auf allen geistigen Gebieten; man konnte kaum über irgendeinen höheren Gegenstand mit ihr sprechen, ohne von ihrer Unwissenheit überrascht zu werden. So hatte man ihr unter anderem vor ihrem Eintritt in die Welt aufs schärfste eingeprägt, ja der teuflischen lutherischen Erfindung keinen Glauben zu schenken, als ob jemals ein unwürdiger Papst auf Petri Stuhl gesessen hätte, und daran hielt sie auch gewissenhaft fest, was immer man ihr vom Gegenteil erzählen mochte. In späteren Lebensjahren spürt wohl niemand den Drang, solche kindliche Einstellungen berichtigen zu wollen, nachdem sie schon ein Menschenalter hindurch in einem denkschwachen Hirn genistet haben. Aber in den Zwanzigen hat man so viel Zeit und Kraft, daß man nirgends unmögliche Aufgaben sieht. Wir hatten also lange Auseinandersetzungen über diese und andere Fragen, wenn ich mich auch hütete irgend an ihre religiösen Dogmen als an ihre unverrückbare Grundlage zu rühren; diese waren mir immer und überall unantastbar. Nur auf geschichtlichem Boden suchte ich ihre Irrtümer zu widerlegen. Dafür gab sie mir ihre Literatur in die Hand, und mir grauste vor den Schrecknissen, worein die arme gequälte Seele schon im voraus für den Fall 188 des geringsten Zweifels verstrickt und versponnen war. Jede Einrichtung hat ihre edlen und ihre unedlen Vertreter. Ich habe späterhin sehr verehrungswürdige katholische Geistliche kennengelernt, die meine damals von dem ganzen Stand gefaßte Meinung gänzlich umstießen. Von den Beichtvätern meiner armen Helen Wilkinson muß ich sagen, daß sie leider zu der andern Gattung gehörten. Gegen die Anfechtungen ihres Blutes setzten sie ihr mit den härtesten Bußen zu, die ihren von Haus aus schwachen Kopf ins Wanken brachten und ihr hinfälliges Nervensystem bis zur Hysterie aufpeitschten. Als ich sie zuerst kennenlernte, schlief sie in keinem Bette, sondern auf einem niederen hölzernen Schragen, der neben ihrem Lager stand, nicht breiter als ein Sarg; sie durfte sich niemals ganz satt essen und trank dafür, um sich, wie sie meinte, bei Kraft zu halten, Tag und Nacht starken Tee. Daß ihr Beichtvater ihr, um sie von weltlichen Gedanken zu entwöhnen, die Brillantringe von den Fingern gezogen hatte, erzählte sie später zwar nicht mir, aber meiner Mutter. Als Edgar von dem Schragen hörte, schickte er ihn ohne weiteres zum Zusammenschlagen und Feueranzünden in die Küche, nötigte sie mehr Nahrung zu sich zu nehmen und untersagte ihr den Tee. Mit der Sicherheit seines Auftretens und seinem menschlichen Verstehen, nicht zuletzt mit seiner großen persönlichen Anziehungskraft machte er solchen Eindruck auf sie, daß sie sich ganz in seine Leitung gab und ihm mit unbegrenzter Gläubigkeit anhing. Gekräftigt durch seinen männlichen Einfluß, faßte sie Mut, sich ihrer Peiniger zu erwehren: als sie zum letztenmal nach Fiesole hinaufwanderte, um sich von einem hohen Geistlichen zu verabschieden, der bis dahin ihr 189 Gewissen gelenkt hatte und jetzt abberufen war, reichte ihr dieser ein Geschenk, von dem er sagte, daß sein fleißiger Gebrauch ihr sehr zustatten kommen würde. Helene wickelte es aus dem Papier: es war eine Geißel! Da raffte sich in ihr die lange mißhandelte Würde empor, sie legte das Geschenk mit den Worten: I did not ask for that auf den Tisch und empfahl sich für immer.
Nach diesem Akt der Rebellion kam auf einmal ihr ganzes Wesen in siedende Gärung: ihre dargebrachten Opfer schienen ihr sinnlos und ins Leere geworfen. Nicht mit inneren Geisteskämpfen, wofür ihre Denkkraft viel zu schwach war, sondern mit einem jähen Ruck, völlig triebmäßig, warf sie alles bisher für wahr Gehaltene von sich. Daß es Menschen gab, die das Rechte wollend ihren Weg dennoch ohne Zerknirschung und Selbstzerfleischung gingen, das löste ihre Grundanschauung auf. Aber zugleich mit der Befreiung kam ein grenzenloser Jammer über sie. Ich hörte, jung und lebensunerfahren, wie ich noch war, mit mitleidigem Schauder die Notschreie der verzweifelten Seele um eine versäumte Jugend, ein nichtgelebtes Leben: Was hab ich jetzt? Es ist zu spät geworden. Gebt mir die schönen Jahre wieder! klagte sie unaufhörlich. Von allem Bisherigen innerlich losgerissen, klammerte sie sich nur um so fester an ihren Arzt, an mich und, als sie sie kennenlernte, erst recht an unsere Mutter. Sobald die Nebenwohnung frei geworden war, zog sie dorthin; sie ließ sogar eine früher vorhandene, später zugemauerte Verbindungstüre zwischen den beiden Wohnungen wieder öffnen und huschte mehrmals des Tages herüber, um meiner Mutter beizustehen, mit Balde Domino zu spielen oder sich sonstwie 190 nützlich zu machen. Doch erkaltete das Verhältnis zwischen uns zweien ein wenig, denn ich entdeckte, daß ihr Wohlwollen für mich doch nicht ganz aufrichtig und ihr Charakter auch nicht frei von Zügen weiblicher Kleinlichkeit war.
Gerade um die Zeit, wo sich Baldes Zustand so erschreckend verschlechterte, erkrankte auch Helene Wilkinson. Sie hatte in eisiger Winternacht bei einer Feier die Orgel gespielt und sich dabei schwer erkältet; wahrscheinlich hatte aber das Übel schon zuvor in ihr gesteckt und war nur durch die Erkältung so jäh und heftig ausgebrochen. Edgar sah den Fall vom ersten Augenblick sehr ernst an, denn zu der Lungenentzündung gesellte sich schnell eine Gehirnhautentzündung. Sie lag die meiste Zeit im Delirium. Ich ging zwischen beiden Krankenbetten hin und her und hatte keinen leichten Stand, denn Mütterlein regte sich auf, wenn ich den kranken Bruder verließ, und Edgar wollte die sterbende Patientin nicht ganz allein in bezahlten Händen wissen. Frau Wilkinson hatte in guten Tagen versäumt ihr Testament zu machen, sie war auch noch nicht in einem Lebensalter, das diesen Schritt auferlegt; jetzt wollte sie ihn angesichts des Todes nachholen. Dreimal wurde nach dem englischen Konsul geschickt, und jedesmal weigerte sie sich ängstlich, wenn er kam, und wollte den Akt noch verschieben. Statt des weggeschickten Konsuls trat unversehens eine strenge schwarze Gestalt über die Schwelle. Die Kranke erschrak und sah mich flehend an, ich ging dem Eintretenden entgegen und sagte, daß ich auf Befehl des Arztes jetzt niemand zu ihr lassen dürfe, weil sie äußerste Schonung nötig habe; sobald sie geistlichen Beistand wünsche, würde ich sogleich nach ihm schicken. Er glitt stumm hinweg, und 191 die Kranke dankte mir durch einen Blick, in dem die ausgestandene Angst lag. Geistlichen Beistand verlangte sie keinen mehr, aber als sie ihr Ende nahen fühlte, quälte sie sich um das nicht gemachte Testament. Sie ließ sich von mir einen großen Bogen Papier und Bleistift reichen und schrieb und schrieb, sah mich fragend an und schrieb weiter, jedoch nicht einen einzigen geformten Buchstaben, nur Striche und Haken ohne Sinn. Dazu schrie sie stöhnend immerzu dasselbe sinnlose Fieberwort, daß man sie weithin hörte. Edgar fand mich verzweifelt, weil ich nicht erriet, was sie wollte; doch er versicherte, daß sie selber nur noch einem dunklen Antrieb gehorche, aber nicht mehr denke. Als der Geist schon entwichen war, lag noch immer ihre Hand mit dem Bleistift auf dem Papier, eine schöne Hand, die Erwin in dieser ergreifenden Stellung in Gips goß. Später erfuhr man, was sie vermutlich noch sagen wollte: daß sie ein Versprechen hätte einlösen und durch letztwillige Verfügung für ein uneheliches Kind ihres Mannes sorgen sollen, das nun durch ihr Versäumnis schutzlos zurückblieb. Die Hand, die sich so tragisch verspätet hat, blieb viele Jahrzehnte lang, bis über den Weltkrieg hinaus, als Andenken aufbewahrt. Als ich im Jahre 1925 von der italienischen Regierung mein lange beschlagnahmtes Eigentum in Forte dei Marmi zurückerhalten hatte, fand ich auch die Hand Helene Wilkinsons wieder und habe sie mit anderen Zeugen einer fernen Vergangenheit unter den Pinien meines Gartens begraben.
Als der Arzt die erloschenen Augen zugedrückt hatte, glitt ich ganz leise in die eigene Wohnung hinüber. Ich wollte Baldes Zimmer nicht betreten, um nicht die Luft des Todes 192 mitzubringen, sondern legte mich in dem meinigen lautlos zur Ruhe. Ich hatte zum erstenmal sterben sehen und lag wie erschlagen. Aber als es auf Mitternacht ging, wurde leise von drüben her geweckt: es waren Männer gekommen, um die Entschlafene in den mitgebrachten Sarg zu legen; warum das in tiefer Nachtstunde geschehen mußte, weiß ich nicht. Damit Edgar nicht gestört würde, der bei einer anstrengenden Praxis außer dem Hause und der Pflege des sterbenden Bruders der Ruhe noch bedürftiger war als ich, ging ich selber noch einmal hinüber und wohnte auch noch diesem traurigen Verfahren beim Schein der matten Kerzen bei. Das Schaurige des Vorgangs wurde durch den Anblick der Toten gemildert, deren wieder geglättete und seltsam verjüngte Züge von einer Schönheit glänzten, die sie nie im Leben besessen hatte.
Das alles war so still vor sich gegangen, daß der kranke Balde gewiß keinen Ton vernommen hat. Dennoch fragte er von diesem Tage an niemals mehr nach seiner Leidensgenossin, wie er sonst täglich, wenn ich von drüben kam, getan hatte. Das überfeine Wahrnehmungsvermögen der Sterbenden hatte ihm alles durch die Luft zugetragen.
Am 3. Februar, der auch der dritte Tag ihrer Krankheit war, schloß Helene Wilkinson die Augen. Balde kämpfte noch weiter bis zum siebenten. In der letzten Nacht, als nicht nur die Hoffnung, sondern selbst der Wunsch, das geliebte Leben noch weiter zu fristen, vor dem qualvoll ringenden Herzen ersterben mußte, beschwichtigte der tapfere brüderliche Arzt die unerträgliche Atemnot mit immer stärkeren Schlafdosen, bis sich gegen Morgen ein unbeschreiblich holdes, aber jenseitiges Lächeln über dem Angesicht des endlich ganz entschlummerten 193 Kämpfers ausbreitete. Es war das gleiche rätselhafte Lächeln wie auf dem berühmten Gipsguß, der für die Totenmaske eines unbekannten, aus der Seine gezogenen schönen Mädchens gilt. Wir waren zu dreien die ganze Nacht um ihn geblieben. Die Mutter hielt noch seine Hand, ich saß am Kamin, dessen Glut ich alle die Stunden her gleichmäßig unterhalten hatte – das letzte, was es für ihn zu tun gab.
Zwei Tage später senkten wir den Lieben, ganz mit Blumen bedeckt, in jenem stillen Wallgarten oberhalb San Miniato ein, dem kleinen, damals noch fast unbenutzten Friedhof der Nichtkatholiken, der als ein Rest von Michelangelos Befestigungsbauten hoch und schön auf die Arnostadt hinunterschaut. Außer der Familie waren nur Hildebrand, der mit brüderlicher Teilnahme den schönen entschlafenen Jüngling hatte in den Sarg betten helfen, und Marchese Guerrieri, ein anderer Freund des Hauses, erschienen. An dem gemauerten Grab wurde der Sarg noch einmal geöffnet, weil alle im Glanz des sonnigen Wintertags das strahlende Siegerlächeln noch ein letztesmal sehen wollten. Keiner, der nicht beim Anblick seiner Gipsmaske, die ich noch heut bewahre, bekennen müßte noch nie ein Totenbild von so ergreifender Schönheit gesehen zu haben.
Hier sei es mir gestattet, für den Frühgeschiedenen, der der Ärmste unseres Hauses war, aber nach seiner Anlage hätte vielleicht der Reichste sein können, wie er der Liebenswerteste war, ein paar Strophen eines späteren Gedichtes niederzulegen, damit nicht sein Grab allein von allen Gräbern der Familie durch mich ungeschmückt bleibe. 194
– Er war der Allgeliebte. Wie das heiligste
Palladium des Hauses, das der Feind bedroht,
Umstanden schirmend Mutter und Geschwister ihn,
Auf den die Parze mit gezückter Schere sah.
Kindlicher Weisheit war er voll, der Blumen und
Der Vögel Freund, zu keinem irdischen Tun bestimmt.
Und doch ein Sonnenstreiter. Wie er kämpfte, litt,
Aus Leidensnächten hell und sieghaft auferstand,
Wie keine Trauer jemals um sein frühes Los,
Kein Neid ihn je beschlich auf der Geschwister Lenz,
Ein Weiser halb und halb ein Kind und ganz ein Held.
Vier Jahre gab die Südlandssonne liebend noch
Zum Kampf ihm Kraft, zuletzt in banger Winternacht
Trat Jener ein, vor dem die Liebe machtlos wird.
So leis er kam, wir spürten fröstelnd gleich: Er war's!
Auch er erkannt' ihn, doch mit Trauer nicht noch Furcht.
Und wie sein Atem rang, die Brust im Kampfe flog,
Auf seinem Mund verblühte doch das Lächeln nicht.
Träg schlich die Nacht. Das Feuer schürt' ich im Kamin
Als letzten Dienst und sah's am Morgen funkenweis
Verglimmen. So verglomm das junge Leben auch.
Doch als der Tag durchs Fenster sah, da standen wir
Bewundernd vor des Todes heitrer Majestät.
Wie schön er dalag! Im Triumph des Jugendtods!
Ein Lächeln still auf noch beseeltem Angesicht,
Wie nach der Schlacht die Fahne, die gerettete,
Den toten Sieger deckt!
Und unter Blumen senkten wir ihn droben ein,
Wo von dem Wall, den Michelangelo gebaut, 195
Ein stiller Garten niederblickt aufs Arnotal,
Ein weltvergess'nes Plätzchen, recht für den gemacht,
Der wie ein flüchtiger Gast aus andern Welten kam. – – –
Die Tage, die auf diesen Auszug folgten, sind mir in einer dunklen und dumpfen Erinnerung. In der Frühe nach der Sterbenacht war Alfred aus Venedig angekommen, verzweifelt, den kleinen Bruder nicht mehr zu finden, den er wie einen eigenen Sohn geliebt hatte. Nun warf sich seine wilde Angst auf die Mutter, wie sie es tragen würde. Ich war im gleichen Fall wie er, denn allzuoft hatten wir sie sagen hören, daß sie Baldes Tod nicht würde überleben können. Wie sehr irrte sie sich und wir mit ihr! Als der Fall eintrat, hatte sie nicht einen Augenblick der Schwäche. Ihre unverwüstliche Lebenskraft trieb sie gleich zu neuen Taten der Treue. Wie unsere siebzigjährige Josephine, die an den Folgen eines leichten Schlaganfalls darniederlag, sich heimlich erhob, um den geliebten Jüngsten noch einmal zu sehen, aber vor seinem Sarg an einem zweiten Anfall zusammenbrach, wie meine Mutter dadurch aus ihrem Schmerz gerissen wurde und sich jetzt mit Selbstverständlichkeit der Pflege ihrer eigenen früheren Pflegerin widmete, habe ich in ihrer Lebensgeschichte erzählt. »Heldenhaft« pflegt man ein solches Verhalten zu nennen oder »opferselig« – es gibt so wenig Bezeichnungen für eine außergewöhnliche Natur. Diese beiden paßten nicht: sie wußte so wenig von Heldentum wie von Opfer, ihr Tun war ihr natürlich wie der Gebrauch ihrer Gliedmaßen. Man mußte sie ganz gewähren lassen, es war gut für sie. Der einzige, der sie an dieser neuen Darbringung hindern wollte, war Alfred, der mit 196 der gleichen Leidenschaft wie ich, nur ohne alle Überlegung, an der Mutter hing. Sie zu verlieren war auch ihm der furchtbarste aller Gedanken; noch in seinen reifen Mannesjahren äußerte er wiederholt, daß er es eher ertragen könnte, eines seiner Kinder sterben zu sehen als die Mutter. Auch in der Denkart war er am abhängigsten von ihr; mit wahrem Staunen fand ich einmal spät nach beider Hingang einen Brief von ihm an sie, wo er schrieb, daß der Fremdenmangel in Venedig zu einer bedenklichen Flaute in seiner Praxis und somit auch in seinen Einnahmen geführt habe (ein Zustand, der bei dem schlechten Wirtschafter kein seltener war), daß ihm aber jetzt die Behandlung einer Fürstlichkeit in Aussicht stehe. Und der Sohn bittet die Mutter um die grundsätzliche Weisung, wie er sich in solchem Falle zu verhalten habe, indem er ganz kindlich hinzufügt, die Sache wäre ja sehr nützlich, »wenn Du es aber nicht willst, so tue ich es nicht«. Von einem zahmen Muttersöhnchen brauchte das nicht wunderzunehmen, aber bei dem tollen Patron, der Alfred zeitlebens war – das nachwachsende Geschlecht nannte ihn nicht anders als den Zio matto –, hatte solche aus innerstem Herzenstrieb geborene Unterwerfung unter die Maßgeblichkeit des mütterlichen Willens etwas beinahe Prähistorisches, wie ein Nachklang aus jenen Zeiten des Mutterrechts. Er suchte damit unbewußt gutzumachen, was er in seiner wilden Knabenzeit an ihrer Seelenruhe gesündigt hatte, aber manchmal machte es geradezu den Eindruck, als ob zwischen diesem Sohn und der Mutter die Nabelschnur noch gar nicht zerschnitten sei. Die Fürsorge, mit der er sie zu umgeben suchte, war ebenso rührend wie bedrängend, weil nicht auf ihr Temperament 197 berechnet, denn Mama gehörte zu den Menschen, die sich durchaus nicht päppeln lassen, solange sie sich selber regen können. Die Kissen, die er ihr in den Rücken stopfte, die Schals, die er um ihre Schultern legte, flogen nur so in die Luft; ein Schemel, unter die Füße geschoben, konnte sie wild machen. Daß er ihr in jenen traurigen Tagen durchaus mehr Nahrung aufnötigen wollte, als sie gewohnt war und hätte ertragen können, führte zu einem beständigen Kampf zwischen ihm und mir. Der Arzt, der so liebevoll verständig mit seinen fremden Patienten umging und gerade die kleinen Dinge so gut verstand, daß er am Krankenbette fast noch wohltuender erschien als sein genialer, stets aufs Ganze gehender Bruder, verlor, wenn es sich um die heißgeliebte Mutter handelte, alle Einsicht. Er ging in die Küche und köchelte selbst mit vielem Aufwand von Eiern, die sie nicht leiden konnte, und Wein, woran sie nicht gewöhnt war; ich mußte versprechen ihr das alles beizubringen und goß es natürlich in der Stille weg. Es war ja eben ihre frugale, ja geradezu asketische Lebensweise, die ihr bis ins fünfundachtzigste Jahr hinein über alle Leiden des Körpers und der Seele hinweg ihre wunderbare Spannkraft erhalten sollte. Durch längere Zeit glaubten wir alle, die große Fassung die sie zeigte sei trüglich, und fürchteten einen plötzlichen Niederbruch. Alfred getraute sich gar nicht in sein Venedig zurück und hielt mit seinem aufgeregten und aufregenden Eifer das ganze Haus in Atem. Ich hatte Mama von dem Toten weg in mein Zimmer geholt, Alfred drängte mich hinaus und setzte sich in den Kopf, selber bei ihr wachen zu wollen, wozu er nicht imstande war, weil der Wille bei ihm nicht Herr wurde über die Erschöpfung. Er sank denn auch gleich auf meinem 198 Bett in schweren Schlaf. Keine Möglichkeit ihn zu wecken und aus dem Zimmer zu entfernen, wo seine Gegenwart nur hinderlich war. Ich sehe mich selber stehen, wie ich, weil kein Anruf half, ihn in den Armen aufhob und, weil er immer wieder zurückfiel, ihn schließlich in der hellen Verzweiflung an seinen kurzen starken Haaren in die Höhe zog, worüber er am Ende zu sich kam, auch nicht im geringsten beleidigt war, das treue Herz, sondern sich gern überreden ließ, in sein eigenes Bett zu gehen. An einem der nächsten Abende erbot sich Erwin, der wieder einmal vorübergehend im Haus wohnte, zur Nachtwache. Aber er hatte davon seine eigene Vorstellung, denn er brachte gleich seine Matratze mit herein, die er auf den Boden legte und sich darauf, um in die Decke gewickelt sogleich wie sein Bruder in unerwecklichen Schlaf zu fallen, worüber sogar die kranke Josephine im Nebenzimmer lachte. Ich machte bei dieser Gelegenheit die oftmals wiederholte Erfahrung, um wieviel schwerer es dem männlichen Geschlechte fällt sich ohne eisernen Zwang von oben her, wie ihn der Soldat gewöhnt ist, des Schlafs zu erwehren; schon die Jünger am Ölberg haben das bewiesen. Von den Brüdern hatte nur Edgar so feine und feste Nerven, um es an Überwindung der körperlichen Bedürfnisse und an unbegrenzter Fähigkeit des Wachbleibens den Frauen des Hauses gleichzutun. Er hatte in der traurigen Zeit unsre Wachen geteilt und dazu das Schwerste, die Verantwortung, getragen als starke Führernatur, die er bis zu seinem Ende bleiben sollte. 199