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Εἶς οἰωνὸς ἄριστος, ἀμύνεσϑαι περὶ πάτρης
Homer, Ilias
Daß kein fremder Fuß betrete den heimischen Grund, Stirbt ein Bruder in Polen, liegt einer in Flandern wund Alle schützen wir deiner Grenze heiligen Saum. Unser blühendstes Leben für deinen dürrsten Baum, Deutschland. |
Karl Bröger |
Nun stand es gerade über unserem Haupt, das Gewitter dessen Grollen ich solange voraus vernommen hatte, bis ich am Ende selber nur noch halb daran glaubte. Und jetzt horchten alle auf und staunten, was da werden wollte. Aber auf welch seltsame Weise oft unser Schicksal gelenkt wird. Nachträglich könnte ich mir einbilden, es habe mich das Vorgefühl getrieben, von der jährlichen Reise nach Süden, für die alles bereitet war, abzustehen, und doch erinnere ich mich genau, daß es nur die kleinen alltäglichen Hindernisse waren, die sich mir jedesmal in den Weg stellten, wenn ich glaubte mit allen 554 Geschäften und Aufgaben fertig zu sein und fort zu können, jene wunderlichen Kobolde, deren Schabernack uns das einemal die Freude zerstört, das anderemal wohltätig einen schicksalsblinden Vorsatz hemmt.
Ich kann mir nicht ausmalen, welche innere Zerstörung ich davongetragen hätte, wäre ich draußen vom Kriegsausbruch überrascht worden und all der aufgestaute Haß, der sich über das unglückliche ahnungslose Deutschland ergießen sollte, wäre mir eigenstes unmittelbarstes Erlebnis geworden. Und wahrscheinlich hätte mir gleich die österreichische Mobilmachung den Rückweg versperrt, daß ich gezwungen gewesen wäre, mitten durch die aufgepeitschten Leidenschaften eines gehässigen internationalen Reisepublikums hindurch mir einen anderen Grenzübergang zu suchen. Zum Glück zog mich's persönlich nicht stark nach Süden; bei der vierzehntägigen Wanderung im nördlichen Deutschland war mir alles Deutsche so zärtlich nahegekommen, daß ich nur zögernd schied. Ich packte, aber ich packte langsam. Endlich gab ich mir selbst den Befehl, bis zum 6. August, dem Geburtstag des Mütterleins, den ich noch all die Jahre mit den dortigen Freunden gefeiert hatte, in Forte zu sein. Da kam das unannehmbare Ultimatum Österreichs an Serbien, und jetzt zitterte der Boden Europas. Als Österreich an Serbien den Krieg erklärte, gab es gewaltige Kundgebungen vor der österreichischen Gesandtschaft, die sich durch mehrere Nächte wiederholten. Man sang vaterländische Lieder und den Guten Kameraden. Wird der Brand sich ausbreiten? Das war das einzige, was noch gesprochen wurde. Man wußte, daß unsere Regierenden endlich erwacht waren und taten was sie konnten, um den Frieden zu 555 erhalten. Man hoffte halb und fürchtete das Gelingen ihrer Bemühungen, denn man sagte sich, wenn es sein muß, dann je eher je besser. Die Menge hatte damals im Tritt etwas wie ein Aufstampfen, das nach Entscheidung drängte. Doch erinnere ich mich aus jenen Tagen höchster Erregbarkeit nur einer einzigen Ausschreitung, der Zertrümmerung eines Kaffeehauses am Karlsplatz, wo serbische Studenten durch ihre Haltung öffentliches Ärgernis erregt hatten. Damals war die Stimmung vorübergehend gefährlich, die Polizei trat aber auch gleich mit so nachdrücklichen Warnungen ein, daß es bei dem einen Falle blieb.
Vielleicht wird eine spätere Geschichtsschreibung für diesen Krieg gar keine zureichenden politischen Ursachen finden können, sondern ihn eher einem tellurischen Einsturz, der ganze Kontinente mitreißt, vergleichen. Kann es ein kläglich hilfloseres Schauspiel geben als den letzten Notenwechsel der beiden scheinbar mächtigsten Männer, des russischen und des deutschen Kaisers, unmittelbar vor dem Kriegsausbruch, wie sie sich umeinander drehen, sich stemmen, jeder den andern um Erhaltung des Friedens anflehend, beide unvermögend, das Geschehende noch aufzuhalten, und so ein Nichtwollender den anderen Nichtwollenden mit sich in den feurigen Abgrund reißt!
Nein, dieser Krieg, wie überzeugt ein Teil dem andern die Schuld zuschob, ist kein ausgesuchtes Werk bösen menschlichen Willens gewesen, sondern nur menschlicher Ohnmacht vor dem Durchbruch dämonischer Gewalten. Ob nicht einmal Gelehrte kommen werden und nachweisen, daß es kosmische 556 Strahlen waren, die den Weltkrieg entzündeten, und als er erloschen war, ihn im fernen Osten neu aufleben ließen?
Ich hatte um jene Zeit keinen Haushalt und ging zum Mittagstisch in eine Pension in die Türkenstraße. Dort war eine laute, schlecht erzogene Russengesellschaft beisammen, die sich über den Tisch herüber mit Semmeln bewarf und sich gegen die Einheimischen so herausfordernd betrug, als ob wir schon im Krieg mit Rußland und sie die Sieger wären. Sie gingen mir so auf die Nerven, daß ich mir wegdecken ließ zu einer netten kleinen amerikanischen Familie, die von Anfang wärmste Hinneigung zu Deutschland zeigte. Nach der englischen Kriegserklärung sagte mir der Mann, ein Dr. Henry, in seinem fast unverständlichen Deutsch: Es ist eine Verschworung. Wenn ich nicht hätte Familie, ich würde gehen freiwillig für Deutschland. – Die Stadt wimmelte damals von Amerikanern, die vom Morgen des 5. August an alle ihre Landesfarben trugen, zur Unterscheidung von den Engländern, eine Sitte, die dann auch bei uns allgemein wurde. Diese Amerikaner betätigten warmen Anteil und wurden wiederum von der Stadt mit großer Auszeichnung behandelt, bis sie mit Sonderzügen und Sonderschiffen in ihre Heimat zurückkehren konnten. Meine Russen dagegen waren schon vor der Mobilmachung samt und sonders wie aufgescheuchte Spatzen davongeflogen. Einer, der lange dagewesen und still auf seinem Zimmer gearbeitet hatte, wurde durch die unerwartete Ankunft seiner Frau und Kinder aus Rußland in solch zornige Überraschung versetzt, daß er augenblicklich mit ihnen heimreiste, was den schleunigen Aufbruch aller andern nach sich zog. Sie 557 schienen mehr von den kommenden Dingen zu wissen als wir anderen. Mit der Mobilmachung kam die Spionenriecherei, die zwar nicht grundlos aber doch sehr übertrieben war und einmal sogar mich selber ansteckte, daß mir ein Mensch verdächtig wurde, der bei einem Auflauf abseits stand und hastig in ein Merkbuch schrieb, gewiß das letzte, was unter erregten Volkshaufen einem wirklichen Spion einfallen könnte. Als ich es bedachte, mußte ich über mich selber lachen, begegnete aber gleich darauf meinem Kyrios, der gleichfalls einen Verdächtigen aufgetrieben hatte, und nun wurde mir angst und bange vor dem Massenwahn, der augenblicks den ruhigsten Kopf ergreifen konnte. Einmal wurde ernstlich vor dem Trinkwasser gewarnt, es sei vielleicht vergiftet, doch nach ein paar Stunden ließ der Magistrat nach vorgenommener Untersuchung das Gegenteil versichern. Französische Offiziere suchten mit Gold für Rußland über die Grenze zu kommen, seitdem wurden alle Autos angehalten und wenn sie nicht gehorchten, beschossen, wodurch viel Unheil geschah; auch feindliche Flieger weckten Beunruhigung, bis die Militärbehörde durch Anschläge warnte, auf sie zu schießen, es seien die Unsern. Dazu herrschte immerfort das herrlichste Sommerwetter, jetzt doppelt willkommen der ausrückenden Truppen und der noch nicht eingeheimsten Ernte wegen, für die die Frauen und Knaben aufgeboten wurden. Nie war die Stadt so voller Blumen, jeder Balkon ein kleiner Garten, die Türkenkaserne, wo das Leibregiment, der Stolz der Münchner, einquartiert war, ein Meer von blühenden Geranien; das alles hob die Herzen. Alte Prophezeiungen, ob echt oder gefälscht, gingen durch das Land und verkündeten ein wundergroßes Heil aus diesem Kriege; wie mundete der 558 süße Hoffnungstrank. Die nichts von Mystik wissen wollten, bauten ihre Sicherheit auf ein still umgehendes Wehrgeheimnis, wonach durch eine künstliche Rheinüberschwemmung das Aufmarschgebiet der Franzosen sofort unter Wasser gesetzt werden könne, und wer den wilden Phantasien nicht glaubte, verließ sich auf die alsbald sichtbar werdenden Wunder unserer Organisation. Daß uns etwas Ernstliches zustoßen könnte, glaubte niemand.
Zögernd schickt sich jetzt die Feder an, von der inneren Erhebung jener Tage zu berichten, die nur wer sie miterlebt hat, richtig fassen kann und auch der nur, wenn er das reine Bild des Anfangs aus den Greueln des Fortgangs und aus der Verworrenheit und Würdelosigkeit des Endes herauszuretten vermag. Wer gesteht sich's noch, wer wagt es auszusprechen, daß dieses Furchtbare zuerst wie eine Gnade über uns kam, wie eine Erlösung aus stumpfer Stofflichkeit und Ichsucht? Welch ein ver sacrum, diese bekränzte, todgeweihte Jugend! Wie der Flügelschlag eines Adlers war es über diese Gesichter hingegangen und hatte die verworrene unzufriedene oder herausfordernd kalte Schrift der Vorkriegsjahre weggewischt. Ihre glühende Bereitschaft zum Opfer und die neuerkannte Heiligkeit des Daseins: es war, als hielten sie mit einem Arm das Leben, mit dem andern den Tod umfaßt. Aber der Krieg, das kriegerische Heldentum, war es denn nicht ein überlebtes Ideal ferner barbarischer Zeiten? Gewiß, die Neutralen sahen es so an und viele von den Unsern auch. Aber ich vermochte nicht so kühl und objektiv zu empfinden, da ich den heiligen Ernst in den verwandelten Zügen meines Volkes sah. Ich 559 wollte mir das Ungeheure, Einmalige, was ich da miterleben durfte, nicht zerdenken. War es ein Irrtum, so würde mich's schmerzen, nicht mitgeirrt zu haben, wo das Gewaltige mich mitaufgehoben und dahingetragen hatte. Der reine Hauch der großen Mythe war ringsum und ließ mich die ersten Kriegsmonate wie Gesänge des Homer miterleben.
Die Tage der Mobilmachung! Unvergeßlich ein nächtlicher Spaziergang mit Mohl im Englischen Garten. Die ganze Sommernacht erfüllt von Soldatenabschied. Jeder Feldgraue mit seinem Mädchen am Arm. Heute gab's das noch, das Mädchen und die Liebe. Von morgen an gab's nur noch die Pflicht und den Kameraden. O dieses Heute. Für viele ihr letztes Heute, das es noch auszukosten galt. Ein nicht endendes Sichverschenken, Sichverströmen. Keine Bank, wo nicht zwei Liebende saßen, kein Gebüsch, hinter dem es nicht flüsterte, und alles war jetzt heilig und groß. Wie ein einziger stummer Liebeszwiegesang stieg es auf zu den Wipfeln des weiten Parks: Ich und Du – Du und Ich und morgen das Ende!
Eine unsägliche Ergriffenheit ließ niemand in diesen Sommernächten zu Hause bleiben. Die sonst so stillen Straßen Münchens fluteten immerzu vom Menschengewühl. Mit dem Fremdesten wurden Reden getauscht, jeder Begegnende war wie ein Verwandter, das gemeinsame Schicksal, das über uns hing, löste die Starre die sonst Mensch vom Menschen trennt. Und tauchte ein bekanntes Gesicht in der Menge auf, so gab es einen Jubel, und auf allen Lippen war das eine Wort: Deutschland. Was gab es jetzt noch zu erhoffen und zu erflehen aus ungeteiltem Herzen als eben den Sieg der deutschen 560 Waffen – und nicht einmal einen zu raschen Sieg, sagte ich leise zu mir selber, damit das Feuer der Läuterung Zeit habe. Es war eine Besessenheit, wie junge Liebe, die mit einem Male die Welt verwandelt, weil nichts anderes neben ihr Raum hat. Die ganze Weltweite des täglichen Denkens zusammengezogen in das Eine: Vaterland! Und dieses Eine zur Unendlichkeit ausgeweitet durch das Gefühl das die Gewähr seiner Berechtigung in sich selber trug. Nicht bei uns allein geschah dies, auch bei den anderen Völkern, von uns ungewußt, loderte das Opferfeuer, in das die Jugend sich bekränzt und jauchzend stürzte. Sie hatten ja keinen Haß, diese todbereiten Knaben, sie kannten den Gegner nicht einmal –, den Haß hatten nur die Hetzer. Es war der unfaßbare Zustand, für den Hölderlin das seherische Wort gefunden hat: Und Völker auch ergreifet die Todeslust / Und Heldenstädte sinken –
Dann der Aufbruch zwischen enggedrängtem Menschenspalier durch die wimmelnden Straßen, alle die graubezogenen niederen Helme mit Eichenlaub, alle Geschütze mit Blumengewinden, Blumen in ihren gähnenden Mäulern wie zu einem Fest, der Marschtakt der singenden Kolonnen, auch Frauen mit im Zug – der eine hatte seine Mutter, der andere sein Mädchen am Arm, der stürmende Marsch riß sie in Riesenschritten mit, denn heute war alles erlaubt. Den Kanonieren auf ihren Protzkästen strecken die jungen Mädchen noch ihre Hände hinauf, die Soldaten fassen und drücken sie, und immer wieder ein Rufen und Winken der Abziehenden in die Menge hinein: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein« – und Wir schaffens schon – bis die Musik in der Richtung des 561 Bahnhofs verhallte und die weite Ludwigstraße, die schönste Münchens, fortan leer und ohne Leben lag. Und dann das atemlose Horchen ins Leere hinaus. Auch wer keine Angehörigen im Feld hatte, war doch mit seinem ganzen Herzen draußen. Allenthalben sah die erregte Phantasie Vorzeichen: so finde ich in meinen Papieren aus dem August 1914 ein seltsames eben beobachtetes Wolkenspiel eingetragen: Im weißen Cumulus entstand ein edler Männerkopf mit kühner Nase, lockenumwallter Stirn, der langsam rückwärts nach Osten segelte. Eine formlose weiße Wolke rückte ihm nach. Ich mußte denken: wenn er sich jetzt plötzlich in einen Totenkopf verwandeln würde? Kaum gedacht, geschah es; die edel geformte Nase sank ein, der Mund öffnete sich weiter und weiter, die Zähne fletschten. Die weiße Wolke zog ihm jetzt schneller nach (mir unverständlich, weil ein Wind sie trieb), erreichte, durchdrang ihn langsam, bis auch er sich in Formlosigkeit auflöste. Es gab mir einen Stich ins Herz, ich mußte an das große Männersterben denken und an die edelsten Gesichter, die sich jetzt in nichts auflösten.
In den frühen Augusttagen kam Thole, der, weil ungedient, noch nicht einberufen war, und sagte, die deutsche Jugend erwarte von mir ein Lied. Ich schwankte. Unseren Urmüttern, die im Notfall selber in den Kampf eingriffen, stand es an, den ausziehenden Männern das Schwert zu segnen. Aber eine Frau von heute? Doch ehe ich mich's versah, war der Funke übergesprungen und hatte gezündet. Ich sah im Geist eine feierliche Halle, an ihrer Wand ein gefeites Schwert in der Scheide aufgehängt. Torhüter wachen, innen aber liegen 562 heilige Frauen auf den Knien und beten, daß das Schwert nicht von selbst aus der Scheide fahre:
In der Halle des Hauses da hängt ein Schwert,
Schwert in der Scheide.
In seinem Blitzen vergeht die Erd'.
Wir hüten's und beten Tag und Nacht,
Daß es nicht klirrend von selbst erwacht.
Denn uns ist geschrieben ein heiliges Gebot:
Ihr sollt es nur brauchen in letzter Not,
Schwert in der Scheide.
In der zweiten Strophe blühte das Friedensmotiv aus dem Winfeld noch einmal auf:
Wir sind geduldig wie Starke sind,
Schwert in der Scheide.
Wir achten's nicht, was der Neid uns spinnt.
Sie haben uns manchen Tort getan,
Wir litten's und hielten den Atem an.
Die Sonne glüht auf der Ernte Gold.
Friede, wie bist du so hold, so hold,
Schwert in der Scheide!
Aber umsonst, das Verhängnis geht seinen Gang:
Doch der Neid mißgönnt uns den Platz am Licht,
Schwert in der Scheide!
Feinde umzieh'n uns wie Wolken dicht.
Hier stockte das Wort und blieb für mehrere Tage in der Schwebe. Bis es um uns her von Kriegserklärungen wie von 563 platzenden Raketen prasselte, jeder Tag einen neuen Feind brachte und nun auch Italien von unserer Seite wegtrat. Da brach der Schluß wie ein Notschrei heraus:
Zehn gegen Einen in Waffenschein!
Wer bleibt uns treu? – Unser Gott allein.
Die Erde zuckt und der Himmel flammt.
Schwert, nun tu dein heiliges Amt!
Schwert aus der Scheide!
Das Gedicht mit seinem balladenhaften Charakter verbreitete sich im Fluge. Es wurde von allen Blättern nachgedruckt, unzählige Male vorgetragen, vertont, gesungen, auch – leider Gottes – in Schulen zergliedert, auf Postkarten verkitscht. Sah ich aber näher hin, so war es zumeist mißverstanden: sie nahmen es für den Ausdruck des Kriegswillens und vergaßen über dem endlichen Aufruf an das Schwert die fünfmal vorangegangene Mahnung, in der Scheide zu bleiben. Als ich den ersten Kriegsverstümmelten sah, dachte ich an das Lied, und ich meinte in die vorwurfsvollen Augen meiner Mutter zu blicken, die jeden Krieg, auch den gerechtesten, verwarf. Es war ja darum kein Tropfen Blutes mehr geflossen, auch war der Krieg schon Tatsache, als das Lied entstand. Aber es war nun doch eine Stimme weiter in der Welt, die das Schwert verkündete, und ich hatte ja stets dem geformten Wort etwas wie magische Kräfte zugetraut. Doch auch frohe Stunden sollte ich diesem Liede verdanken. Eines Tages kam mit der Feldpost die Überraschung, daß eine ganze Kompanie Soldaten, denen ihr Oberleutnant das Schwertlied vorgelesen hatte, mir aus dem Schützengraben ihren Dank schickten. Als Gegendank schickte 564 ich der Kompanie ein Kistchen Cigarillos, und es entspann sich nun ein heiterer Briefwechsel mit »meiner« Kompanie, deren launiger Wortführer der Leutnant war. Es wurde mir sogar mitgeteilt, daß die im nächsten Graben liegenden Angehörigen einer anderen Kompanie von der Sache Wind bekommen hätten und damit umgingen, mich ihnen wegzukapern, vor welcher Verlockung ich sehr gewarnt wurde. Es schienen engere Landsleute zu sein, Württemberger, wie aus der Art ihres Humors zu schließen, ein prachtvolles Geschlecht. Bald darauf kamen sie, wie mir auf dem Kriegsministerium gesagt wurde, in den Vogesen unter schweres Feuer. – Dieser Gruß aus den Reihen der Kämpfenden war mir die erste Erfüllung der vor den Toren Athens empfangenen Verheißung. Ich sah mich aus meiner Verinselung hineingezogen in die Gemeinsamkeit des Volksgeschicks, ein zugehöriges Stück des gewaltigen Ganzen, dem aus dem gewaltigen Ganzen Antwort kam. Wer konnte mir sagen, ich hätte keine Kinder? Waren sie nicht alle meine Söhne, die da draußen? Aber lieber noch nannte ich sie meine jüngeren Brüder, weil mir selber das Leben so neu und jung geworden war.
Ein ähnlich starkes Echo, nicht so brausend aber vielleicht nachhaltiger, sollte ein anderes, unmittelbar von der Stunde gefordertes Lied finden. Der Bund Deutscher Frauenvereine bat mich, ein aufmunterndes dichterisches Wort an die Frauen des Volkes zu richten, die unter den ungewohnten, auf sie herabstürzenden Lasten zu erliegen drohten. Man hat es ja heute schon nahezu vergessen, was damals die deutsche Frau zu leisten hatte. Nicht nur, daß ihr die Ernährung und Erziehung der Kinder allein oblag, sie brachte die Ernte ein – ich sah 565 einmal ein achtzigjähriges Weiblein hochoben auf dem Heuwagen schaffen –, sie bestellte das Feld für den Winter, wurde Trambahn- und Eisenbahnschaffner: zu ihnen sprechen, war eine schöne und heilige Aufgabe. Es mußten die einfachsten und ursprünglichsten Vorstellungen aufgerufen werden und in den einfachsten ursprünglichsten Worten. Ich schrieb das Gedicht »Die deutsche Mutter«. Hier gab es wieder zwei Stellen, die mich innerlich bedrängten:
Mutter, wann kehrt der Vater nach Haus?
– Wann die Ernte geholt unser Fleiß.
Er zog zum Ernten nach Frankreich hinaus,
Dort sichelt er rot und heiß.
Dieses Sicheln war mir furchtbar. Ich brachte es beinahe nicht über mich, die Worte stehenzulassen. Aber sie konnten nicht fehlen, sie kamen aus den Dingen selbst und lagen im Zug der Sprache die sie herantrug. Ich mußte denken, wie leicht der Dichter mit erfundenen Schrecken umgehen kann, die er mit künstlerischer Freude auf- und abschwellen läßt – aber sie lebendig aus dem Leib der zuckenden Wirklichkeit herauszuholen, war das nicht so etwas wie böser Zauber? Und dann die dritte Strophe des Frage- und Antwortspiels:
Mutter, du gibst uns nur schwarzes Brot?
– Danket Gott, der's beschert!
In Frankreich glühen die Scheunen rot,
Dort sitzt der Hunger am Herd.
Wieder wollte sich die Feder sträuben die das niederschrieb. Es war mir, als trüge ich selbst – mit Grausen – den roten 566 Hahn dort hinüber. Ich konnte ja das feindliche Nachbarvolk nicht hassen, so wenig wie sie uns noch vor kurzem gehaßt hatten, ehe die furchtbare Kriegsgeißel unsere Armeen dahineintrieb. Ich sah im Geiste die Verwüstung ringsum: niedergebrannte Dörfer, fliehende Einwohner, weggetriebene Herden, hungernde Kinder, – das alles lag in den Worten, die ich niederschrieb, und ich konnte sie doch nicht ungeschrieben lassen. Aber waren sie vielleicht weniger wahr, wenn man sie verschwieg? Wenn der da oben diese Dinge geschehen ließ, war es dann frevelhaft, sie bei Namen zu nennen? Dennoch, es war mir nicht völlig wohl bei dem Beifall und der ganz unvorgesehen großen Verbreitung, die dem Gedicht zuteil wurde; keins meiner Gedichte ist so unzähligemale nachgedruckt worden wie es mit diesem in den Kriegsjahren geschah. Wenn aber dann Schulkinder – denn auch in die Schulen war es eingedrungen – mich »Deutsche Mutter« nannten, so rührte es mich doch. Und am Weihnachtsabend 1915 saßen fern im Westen deutsche Landwehrmänner bei ihrem bescheidenen Fest zusammen und lasen »Die Deutsche Mutter«, die ihnen in ihren Weihnachtspaketen zugekommen war. Da freuten sie sich, daß jemand daran gedacht hatte, ihren Frauen und Kindern aufmunternde Worte zu sagen, und sie griffen zum Bleistift und schickten der Verfasserin einen Dankesgruß mit sämtlichen Namensunterschriften. Das freute mich mehr als je ein literarisches Lob und gab mir den Trost, doch nicht ganz nutzlos in diesem alle Menschenkraft aufrufenden Weltenschicksal zu stehen.
Sein eigenes Volk dürfte nur rühmen, wer die fremden Völker kennt und anerkennt. Ich wußte das Eine, daß der 567 Deutsche in der Billigkeit gegen den Feind allein dastehen würde. Ich sah die ersten gefangenen Franzosen über den Karlsplatz führen, von der Menge mit Achtung empfangen, nicht Neugier noch Gehässigkeit stierte sie an, viele wandten vor dem Unglück die Augen ab. Wie mochten die Unseren im gleichen Falle drüben empfangen werden? Ich gab mich darüber keiner Täuschung hin. Um so höher stiegen mir in den ersten Kriegswochen die Meinen. Ich erwog in meinem Herzen, ob nicht der Dichter künftig darauf verzichten müsse, eine Dichtung zu schreiben, die unter Deutschen spiele, denn zu der richtigen Gewichtsverteilung gehören auch die Schlechten. Aber es gab keine Schlechten in diesem Volk, jeder war ein Ritter und Edelmann, so schien es mir. Es kamen ja bald Erscheinungen im öffentlichen Leben, die mich zwangen Wasser in meinen Wein zu tun, aber damals lebte ich wie im Traum. Die Achtung vor den tapferen Besiegten war es vor allem, was sie mir so ehrwürdig machte. Aber würden die drüben diesen Zug verstehen, die sich den Sieger nur in der Haltung des Colleone vorstellen konnten? Unverwischbar haftete in meiner Erinnerung ein Gespräch, dem ich in ganz jungen Jahren in Paris nicht lange nach dem Siebziger Krieg angewohnt hatte. Sie sprachen von dem Einzug des Deutschen Kronprinzen mit seinem kleinen Gefolge, während draußen der Gürtel der siegreichen deutschen Armee die Stadt umklammert hielt, und sie erklärten sich die ernste schonungsvolle Haltung des siegreichen Heerführers und seiner Paladine nicht als Ritterlichkeit sondern als Gefühl eigener Unterlegenheit angesichts der besiegten Kulturmetropole. – Es gab wohl keine andere Großstadt einer kriegführenden Macht, wo Angehörige eines Feindvolkes noch 568 monatelang nach Kriegsbeginn in den Straßen laut ihre eigene Sprache sprechen konnten, wie es in unserem München geschah, bis die Polizei zum Besten der Taktlosen selber dieser Unvorsichtigkeit ein Ende machte. – Damals hatten die deutschen Gesichter einen solchen Stempel von Ernst und Geschlossenheit, daß man die Neutralen schon von weitem an ihrer kalten unteilnehmenden Miene erkannte, derselben Miene, wie sie auch unsere Jugend vor dem Krieg zur Schau getragen hatte. Diese mit ihrem Opfersinn mochte ihnen jetzt wie lauter Besessene erscheinen, sie uns wie halbe Leichen.
Und währenddessen ergoß sich eine maßlose, allen Sinnes entbehrende, aus tausend Bosheiten, Mißverständnissen, Gehässigkeiten und Verleumdungen zusammengeronnene, seit Jahrzehnten aufgestaute Wut über das unglückliche deutsche Volk und riß nach und nach den halben Erdball zu den rohesten Beschimpfungen hin. Boche! Wer hat je nach Sinn oder Etymologie das Unwort verstanden? Es war da, wie von selbst gekommen; ohne Ursprung ging es durch die ganze Welt und verfratzte jedes deutsche Angesicht zum abscheulichen Zerrbild. Vielleicht hing es mit der Gestalt des geschriebenen Wortes zusammen, das etwas so Breites und Brutales hat, wie man den Deutschen zu zeichnen liebte. Die feindlichen Soldaten verschmähten es. Zu meinem Trost erzählten die Urlauber, daß man es im Feld niemals höre; es war eine Erfindung der Pfahlbürger und Drückeberger im andern Lager; und gleich nach Friedensschluß verschwand es. Die Frontkämpfer haben sich gegenseitig ja nie geschmäht, wie sie auch die ersten waren, sich wieder die Hand zu reichen, – tief erschütterte Schicksalsgenossen, Kameraden.
569 Nach der Lothringer Schlacht, in der Kronprinz Rupprecht die Franzosen geschlagen hatte, wurden die eroberten Kanonen in langen Reihen vor der Feldherrnhalle aufgestellt. Eine unendliche Menschenmenge umwogte sie von früh bis spät. Vor einem Geschütz wandte sich ein Herr aus der Menge an mich mit der Bemerkung, daß von der Bedienung dieses Stückes kein Mann und kein Pferd mehr am Leben sei. Entgeistert starrte ich ihn an, aber er fuhr gelassen fort, mir an den Einschlägen die Wirkung der Schrapnells und der Infanteriegeschosse aufzuzeigen. Ein fesselndes Gespräch entspann sich, woran auch Mohl, der mir stets zur Seite war, teilnahm, und der Unbekannte schloß sich uns immer redend auf dem Heimweg an. Er machte einen feinen und angenehmen Eindruck, aber plötzlich wurde mir unheimlich in seiner Nähe, denn er begann von einem neuerfundenen Flugzeug zu erzählen, von dessen Leistungs und Tragkraft wie auch von den Umdrehungen des Propellers er Zahlen nannte, die nur, so dachte ich, einem kranken Hirn entsprungen sein konnten. Ein Maler sei der Erfinder, der an den verschiedensten Stellen abgewiesen worden sei, weil man die Sache für unmöglich gehalten. Nun aber sei ihm, dem Erzähler, die Erfindung zum Versuch übergeben worden, es habe seine Richtigkeit damit, er habe das Flugzeug auf die Höchstgeschwindigkeit von – er nannte eine mir astronomisch dünkende Stundenkilometerzahl – gebracht. Nur sei es natürlich furchtbar anstrengend; nach einem solchen Fluge schmerzten einen alle Glieder. Ich zweifelte nach diesen Zahlen nicht mehr, einen Geistesgestörten vor mir zu haben, welcher Eindruck noch durch ein krampfhaftes Zucken der Schulter verstärkt wurde. Ich 570 bedauerte ihn herzlich und suchte ihn durch Zwischenreden von der Wahnvorstellung, als ob er ein Flieger sei und alle diese märchenhaften Dinge selber erlebt habe, abzulenken. Mohl dagegen ging auf ihn ein und ließ sich erzählen, wie und in welcher Zahl diese Wundertauben angesetzt werden sollten, um die Übergabe von Paris zu erzwingen. Immer bänger wurde mir zumute bei diesen Reden, aber schließlich stellte sich's doch heraus, daß wir wirklich mit einem Fachmann des Flugwesens sprachen, der an jenem Abend von einem fiebrigen Mitteilungsdrang ergriffen war. Wir nahmen uns beide stillschweigend vor, niemand von dem Gehörten zu erzählen; es war anvertrautes Gut, vielleicht zu gefährlich zum Weitergeben. Was er von der Technik des Fliegens, der Ausbildung und Prüfung der Flugschüler, von der Überwindung des Schwindels, von Anpassung an die Luft und ähnlichem mitteilte, das sind Dinge die heute wohl jeder Schuljunge weiß, nur daß sie jetzt zehnfach übertroffen sind. Damals aber war das Flugwesen in seiner grünen Jugend, und einen leibhaften Flieger hatte ich noch nie gesehen, also konnten die Geschichten, die ich da vernahm, mir schon den Verstand stillstehen machen. Wir dehnten den Spaziergang weit über Mitternacht aus, und ich saß dann noch stundenlang um das Gehörte mit dem ganzen Reichtum der vielseitigsten Wahrnehmungen und all der wunderbaren Erlebnisse niederzuschreiben. Was er von dem Verhalten der Vögel beim Erscheinen ihrer Rivalen in der Luft erzählte, zog mich ganz besonders an: sie ergriffen alle die Flucht beim Surren des Propellers, der oben noch viel lauter sei als unten. Nur der Adler nicht. Dieser stehe über dem Flugzeug, aber er versuche 571 keinen Angriff; von vorn wäre es unmöglich, da würde er durch den Luftdruck zerschmettert, und von hinten greift der Adler überhaupt nicht an.
So oft wir fortab einen Propeller über uns surren hörten, wechselten Mohl und ich einen stummen Blick und sahen ihm lange nach im Gedenken an jenen Flieger, den wir immer wieder einmal zu sehen hofften, aber niemals wiedersahen. Ich hatte bei dieser Begegnung nochmals völlig umgelernt. Solange ich im Ausland lebte, dachte ich mir den deutschen Offizier der Wilhelminischen Zeit so wie ihn unsere Witzblätter darstellten, snobisch, geschniegelt und leer. In den Worten unseres Fliegers zeichneten sich mir zum erstenmal die Grundlinien jenes Typus, der dann in Namen wie Weddigen, Graf Spee, Lettow-Vorbeck, Bölcke, Richthofen und unzähligen anderen unserer See- und Land- und Lufthelden sich so glänzend bewähren sollte. –
In der Rückschau möchte es mir scheinen, als ob ich die vier Kriegsjahre müßig verbracht hätte, weil mir außer dem kleinen, unter dem Titel »Schwert aus der Scheide« gesammelten Gedichtband keine sichtbaren Früchte meines Tuns verblieben sind. Blättere ich aber in Briefen und Aufzeichnungen jener Tage, so sehe ich, daß der literarische Betrieb ganz ebenso weiterging wie in Friedenszeit, nur alles auf Kriegsbedarf umgestellt wie in den Fabriken. Es war erstaunlich, was da alles für Kriegszwecke gefordert wurde: Beiträge für lyrische Sammlungen, für österreichische Albums, für die Heereszeitung usw. Da hieß es denn manchesmal die Poesie »kommandieren«, auch wo sie abgeneigt war, aber nach all der lebenslangen 572 Freiheit war es auch einmal schön zu dienen, sich wie ein Kriegsfreiwilliger ohne Wahl auf den vorgeschriebenen Platz zu stellen. Daneben häkelte ich mit Inbrunst feldgraue Hauben und Pulswärmer, die ich in Mengen, von beigelegten Grüßen an die unbekannten Empfänger begleitet, ins Feld hinaussandte. Bis mir ein Major (der sich aber später als ein hervorragender Geschichtsprofessor herausstellte) in köstlich launigen Versen schrieb, meine Sendung habe einen hellen Schrecken erregt, ob denn die Not in Deutschland schon so groß sei, daß sogar die Muse stricken müsse. Von andern Seiten kam der Notruf, daß die Unterstände nachgerade von den wollenen Hauben und Leibbinden der verehrten Damenwelt völlig überschwemmt seien, und es wurde auf zarte Weise angedeutet, daß dagegen Zigaretten und Schokolade oder Lebkuchen immer eine freudige Aufnahme zu gewärtigen hätten, was ich mir gern gesagt sein ließ. Es gab auch ernsteren Austausch mit solchen, die im Felde das Bedürfnis nach geistigen Dingen nicht verloren hatten. Ein junger Leutnant klagte mir aus einem Heimatlazarett wo er verwundet lag, daß er immerfort in den Zeitungen Kriegsgedichte lesen müsse von solchen die nie im Feld gestanden, während ihm seine eigenen von den Schriftleitungen regelmäßig zurückgesandt würden. Ob denn nur die Nicht-Kämpfer das Recht hätten, vom Krieg zu sprechen? Ich antwortete, die Frage scheine mir nicht richtig gestellt, es handle sich ja nicht so sehr um Kämpfer oder Nicht-Kämpfer als einfach um die Güte des Gedichts. Wenn er mir die seinigen anvertrauen wolle, wie er andeutete, so würde ich ihn gern beraten; denn nachdem es mir nicht geglückt sei, dem Vaterland mit den Werken meiner Nadel zu dienen, so wolle 573 ich mich nun der augenscheinlich dringenderen Aufgabe widmen, meinen ausgerückten jungen Landsleuten in ihren lyrischen Nöten beizustehen. Er antwortete fein und bescheiden, daß er sich mein besonderes Kriegsamt als ein dornenvolles und undankbares denken müsse, und sandte die Papiere. Es waren Sonette; sie zeigten ein feines Gemüt, das sich von innen her der Welt zu bemächtigen sucht und litten dabei an einem eigentümlichen Mangel an Sinnenhaftigkeit, den ich häufig schon an den Versuchen unserer jungen Dichter hatte rügen müssen, im Gegensatz zu den romanischen, die bis im letzten Winkel der Erscheinungswelt zu Hause sind. Auch mein dichtender Krieger gehörte bei inniger Gefühlskraft zu dem Geschlecht, das das Leben weniger erlebt als denkt. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß er aus einer Gelehrtenfamilie stamme und im bürgerlichen Leben Philologe sei, was er bestätigte. Eines der Sonette begann: »In Flandern werden blauer die Kanäle«; da konnte ich ihm gleich an diesem von ihm selber gelieferten löblichen Beispiel zeigen, wie von dem plötzlich aufgehenden Blau seine ganze Dichterlandschaft sich verklärte. Er versprach sich in diese Auffassung einzuleben und die Sonette, so weit er es vermöchte, lebendiger zu gestalten. Im letzten Brief nahm er Abschied; es sei jetzt zum vierten Mal, schrieb er, daß er als geheilt an die Front zurückentlassen werde, und er scheide mit dem unabweislichen Vorgefühl, daß es diesesmal keine Wiederkehr für ihn gebe. Zum Andenken schenkte er mir ein längeres Gedicht an die toten Kameraden, das mich durch eine fast weibliche Zärtlichkeit in Erstaunen setzte. Er sollte leider recht behalten; im Frühjahr 1918 an der Somme traf ihn eine Granate. Die Kameraden trugen ihn 574 mit zerrissenem Leib in den Park eines französischen Schlosses, und in seiner Brusttasche fand man meinen letzten Brief und ein Sonett, mit dessen Umarbeitung er eben beschäftigt war. Seine unendlich liebende einzige Schwester, die ihn nur kurze Zeit überleben sollte, teilte mir sein Ende mit und den sie überraschenden Fund, denn sie hatte von seinem schriftlichen Verkehr mit mir nichts gewußt. Das verwaiste Schwesterherz verschaffte ihrer trauernden Liebe die Genugtuung, die Gedichte als kleine Sammlung im Rainer Wunderlich Verlag in Tübingen zu veröffentlichen. Er hieß Ludwig Knapp und entstammte einer angesehenen Theologenfamilie, die auch einen in Württemberg bekannten geistlichen Dichter hervorgebracht hat. Ein warmes Herz und eine reine Gesinnung, die der Entwicklung der deutschen Dinge hätte zugute kommen sollen, hat bei den Sommekämpfen der unersättliche französische Boden zu sich hinabgenommen. »Ach, der Krieg verschlingt die Besten.«
Bei Erwähnung der Kriegsgedichte steigt mir mit mancher liebenswürdigen auch eine widrige Erinnerung auf, die aber einen tiefernsten Hintergrund hatte. Wiederholt waren mir Berichte vor Augen gekommen, wonach feindliche Verwundete in teuflischer Tücke sogar noch auf die Ärzte und Sanitäter, die sich ihnen widmen wollten, geschossen hätten und damit jeden Anspruch an menschliche Schonung verscherzt. Und jedesmal war mir, als müßte ich in die Welt hinausrufen: Nicht so! Seid barmherzig! Denn unverwischbar haftete in meinem Gedächtnis, was mir einmal in fernen Friedenstagen Freund Vanzetti von einem gemeinsamen lieben Bekannten, dem österreichischen Maler und ehemaligen 575 Husarenoffizier Z. erzählte, wie dieser auf dem Schlachtfeld von Custozza einem verwundeten Italiener, der schwer stöhnend dalag, zu Hilfe eilte und ihm seine Feldflasche an den Mund hielt, der Verwundete aber nach der Waffe griff und zielte, worauf der Helfer ihn für diesen schlechten Dank sogleich niederstreckte. Ich konnte die schnelle Tat mit des Mannes feiner Gemütsart nicht reimen, doch der Erzähler begütigte: Z. war Soldat. Wäre er Arzt gewesen, so hätte er freilich anders gehandelt. Er hätte dann gewußt, daß der arme zerschossene Teufel im Delirium des Wundfiebers lag und in dem Helfer einen Feind sah, der ihn morden wollte. Diese Geschichte hatte sich mir ins Herz gebrannt, und nachdem ich eines Tages einen besonders krassen Fall gelesen hatte, wie ein vorüberreitender Dragoner schnell den hinterrücks angeschossenen Sanitätsmann rächte, wurde mir's zur inneren Notwendigkeit, eine Bitte um Einsicht und Schonung ins Feld hinauszuschicken. In der unmittelbaren Form einer Kriegsballade, die das Begebnis selber darstellte, glaubte ich stärker wirken zu können als durch ein Prosawort, das ja Sache der Ärzte gewesen wäre. Und ich schrieb – nicht aus poetischem Trieb in diesem Falle, sondern einzig aus Gewissenszwang – das Gedicht von dem angeschossenen Samariter, der als Wissender dem Rächer in den Arm fällt:
Halt, Kamerad!
Der Unglücksmann, er weiß nicht was er tat.
In seinem Hirn ist Wahn und Fiebernacht.
Er sieht den Helfer nicht, er sieht die Schlacht.
Laß ihn im Frieden seiner letzten Stunde – –
576 Das Gedicht gab ich einem großen Berliner Blatt, das draußen viel gelesen wurde, zur Veröffentlichung, gewiß, daß der Wind es an die rechte Stelle wirbeln würde.
Aber ich fiel aus den Wolken, als mir gleich darauf die Schriftleitung das Schreiben eines übellaunigen Berliner Lesers einsandte, worin mein »Samariter« als Plagiat – man höre! – an Victor Hugo denunziert wurde. In solcher Stunde ein Diebstahl am Gegner, was konnte es Ehrenrührigeres geben! Ich kannte von Victor Hugos Gedichten nur die »Châtiments«, die mir in früher Jugend in Frankreich geschenkt worden waren und die mich durch ihren endlos rollenden Bombast davon abgehalten hatten, nach anderen Versen dieses Dichters zu greifen. Mir war übel zumute, als ich auf der Münchner Staatsbibliothek mir nun sämtliche Werke Victor Hugos vorlegen ließ und in peinlicher Spannung seine Gedichte Blatt um Blatt durchsuchte; es kostete einen vollen Nachmittag. Endlich in der »Legende des siècles« erkannte ich's: Après la bataille. Gott sei Dank, etwas im tiefsten Grunde anderes. Der Vater des Dichters, ce heros au sourire si doux – denn dieser war der Held des kurzen Gedichts – reitet am Abend in Begleitung eines einzigen Husaren über das vom Feind geräumte Schlachtfeld, da hinkt ihnen ein feindlicher Verwundeter entgegen, der um einen Trunk jammert. Der Angerufene reicht seinem Burschen die Feldflasche mit Rum, damit er den armen Teufel labe, dieser aber, während der Husar sich zu ihm bückt, hebt seine Pistole und zielt ins Gesicht seines Wohltäters. Das Pferd bäumt zurück, der Schuß geht fehl, nur der Hut fällt zu Boden: »Donne lui tout de même à boire, dit mon père.«
577 Das Gedicht war reizend und so einfach, wie ich es dem Verfasser niemals zugetraut hätte; es gefiel mir doppelt, weil es mich so völlig entlastete, denn hier lag der ganze Nachdruck auf der heiteren Großmut des französischen Offiziers; nach dem Beweggrund der irren Tat wurde nicht gefragt. Ich atmete auf. Es genügte, die abgeschriebenen französischen Verse der Schriftleitung zu senden, so erfolgte von seiten des Denunzianten, der sich an das Victor Hugosche Gedicht schlecht erinnert und das meinige zu oberflächlich gelesen hatte, ein griesgrämlicher Widerruf. Die Ehre war hergestellt, aber ein bitterer Geschmack blieb zurück. Nicht daß der Mann im Todesringen zweier Nationen seiner offensichtlichen Vorliebe für französische Dichtung treu blieb – gepriesen jeder der die Kunst aus dem Völkerhaß rettet! –, aber muß er darum die eigene Landsmännin ohne Nachprüfung so unwürdig verdächtigen? Ich konnte mich nicht enthalten noch eine von Freund Mohl aus der Erinnerung beigesteuerte ältere Anekdote mitzusenden, die sich mit dem gleichen Stoff befaßte. Ein schleswigscher Bauernsohn wird nach schwerer Schlacht gegen die Dänen von einem dänischen Verwundeten um einen Trunk angerufen. Nachdem der Verschmachtete einen Zug getan, fährt er plötzlich auf und schießt auf seinen Helfer, zum Glück ohne zu treffen. Da nimmt ihm dieser in aller Gemütsruhe die Flasche wieder ab: Siehst du, dafür kriegst du auch nur die Hälfte, setzt an und trinkt selber den Rest. So wird die halbleere Flasche erklärt, die dieses wohlhabende Bauerngeschlecht im Wappen führt. Also noch ein zweiter Plagiator an dem Franzosen, wenn er sich nicht etwa gar vermessen hat ihm zuvorzukommen. Es sollen auch noch andere 578 Abwandlungen des selben Geschehens aus anderen Feldzügen berichtet sein. Erwähnt habe ich das Erlebnis, weil es immer wieder Kriege geben und ähnliche Fälle sich in der furchtbaren Erregung ereignen werden, ohne daß man zu denken braucht, ein feindlicher Verwundeter sei so sehr Teufel und ein so maßlos dummer Teufel, daß er sich absichtlich des Helfers berauben werde, indem er ihn tötet. – –
Zwischen all der Tragik möge hier auch ein heiteres Erlebnis aus Kriegsbeginn eingeschaltet sein. Thole, dessen Einberufung sich verzögerte, baute noch an einem Haus in der Wittelsbacherstraße. Es war ein Miethaus, und da es einen Spruch über dem Eingang tragen sollte, hatte er sich mit dem üblichen Salve begnügt. Aber die Vorübergehenden murrten laut über das Latein und riefen ihm ihren Tadel zu, bis er gar eine Zuschrift erhielt des Inhalts, er müßte doch wissen, wohin er sich um einen guten deutschen Spruch zu wenden habe. Da kam er denn zu mir und überbrachte die anonyme Aufforderung. Sie war nicht bequem; was hatte ein Miethaus in bewegter Stunde der Allgemeinheit zu sagen? Nur das Äußerlichste vom Wohnen und Umhegtsein:
Dem Herde zum Schutz,
Den Wettern zum Trutz,
Mich gebar
Das eiserne Jahr
und darunter die Jahreszahl 1914.
Diesmal war die Öffentlichkeit befriedigt und die Sache abgetan. Nach einiger Zeit jedoch brachte eine Münchner Tageszeitung in ihrem Beiblatt einen Aufsatz über wunderliche oder 579 rätselhafte Hausinschriften in bayerischen Gauen, zu denen ein späteres Eingesendet aus Leserkreisen noch einen Nachtrag, den unverständlichsten von allen, lieferte. An einem Neubau an der Wittelsbacherstraße sollte der Spruch stehen:
Dem Herde zum Schutz,
Den Vettern zum Trutz usw.
Es war ja damals üblich geworden, die Engländer, die uns mit ihren farbigen Truppen bekriegten, mit bitterer Ironie die Vettern zu nennen; so weit war die Sache klar, aber wie man sich das mit der Trutzburg an der Isar zu erklären habe, die über den Kanal hinüber dräue, war dem Einsender dunkel und den Lesern natürlich auch. Da Thole zur Zeit krank lag, wäre die öffentliche Berichtigung mir obgelegen, ich kam jedoch wegen dringender Angelegenheiten nicht dazu. Als ich dann später einmal den Weg durch die Wittelsbacherstraße nahm, entdeckte ich, daß der Einsender nicht einmal im Unrecht war, denn der Baumeister, der für meinen vierzeiligen Spruch nur über soviel Raum verfügte wie zuvor für das Salve, hatte die Buchstaben so nahe zusammengerückt, daß »Wettern« in der Tat ebenso leicht »Vettern« gelesen werden konnte. – Belustigend war es auch zu guter Letzt, daß ein findiger Silberschmied sich die zwei letzten Zeilen zu eigen nahm und seine unschuldigen Kaffeelöffel mit dem kriegerischen Motto: »Mich gebar das eiserne Jahr« zierte.
Ende August. Atemlose Stille über Deutschland. Was wird sein? Wird die russische Walze, die so gräßlich über Ostpreußen hingegangen ist, auch auf uns hereinbrechen? Ein Name 580 ging um, man kannte ihn noch nicht, aber die Hoffnung klammerte sich an ihn – Hindenburg! Seltsame Legenden wurden von ihm erzählt, geheimnisvolle Absichten ihm zugeschrieben. Wird er der Mann des Schicksals sein? Zwei ungeheuere russische Armeen standen ihm gegenüber. Ihm und seinem Dioskuren Ludendorff. Durch die aufgerissene Tür von Osten fluteten unerschöpfliche Völkermassen herein, um uns zu erdrücken. Das war alles, was wir wußten. Was hatten wir Nichtkämpfer dem losgelassenen Chaos entgegenzusetzen? Nur die ethische Gewißheit unseres höheren Rechtes an das Leben. Andere erstiegen die Spitze des Baumes Deutschland, um vom Wipfel aus, der ihnen Faust oder Zarathustra hieß, den Himmel nach Rettung abzusuchen. Ich grub mich hinunter bis wo die Wurzeln Erdkräfte saugen, zu unseren Volksmärchen und des »Knaben Wunderhorn«, zu allen innerlichsten Aussagen unseres Volksgeistes, um mir die Überzeugung von unserer Unzerstörbarkeit zu stärken. Dieser Volksgeist sollte untergehen, von den blinden Massen überrannt, er, der doch allein von allen das Ganze in sich trug! Umschließt nicht das deutsche Volkslied alle Äußerungen des Menschenlebens, wo die andern nur von der Liebe der Geschlechter singen oder höchstens noch vom Männerkampf, was soviel heißt, als daß der Gott ihnen nur für die Brunstzeit der Jugend die Zunge löst, der Deutsche aber Dichter bleibt sein Leben lang. Und wir warteten. In dieser Wartezeit wurden mir still alle Werte umgewertet. Ich dachte an unsere florentinischen Symposien mit den langen Kunstgesprächen, die so reich waren, weil nicht die Theorien der Kunstliteraten sondern die Erfahrungen der Schaffenden das Wort führten. Erfreulich zu seiner Zeit. 581 Aber was konnte das heute noch bedeuten? Könnte es irgend jemand einfallen zu fragen, auf welche Kunstrichtung etwa der Mann im Osten schwor, der zu unserem Schutze dastand wie ein Vorzeitrecke mit Thors Hammer in der Faust! Man wartete nur und fragte: wird er treffen? Er schlug und traf. Und traf noch einmal. Ein Schrei durchriß die Stille, ein grauenvoller, nicht endender, der Todesschrei der hundertfünfzigtausend Russen, die auf wilder Flucht in den Sümpfen und Seen untergingen. Dieser grausige Schrei, von dem die Welt erbebte, war er Sage oder Wirklichkeit? Ich weiß es nicht. Wir in unserem stillen, weit entlegenen München hörten ihn nur mit der Seele, aber da werde ich ihn hören, solange ich lebe. Wir waren gerettet, und um geringeren Preis konnten wir's nicht sein. Gibt es in der Weltgeschichte ein zweites Beispiel von Rettung durch solchen Riesenuntergang?
Und weiter tobte der Brand über die Länder der Erde, bald hier bald dort zu höchsten Flammen aufschlagend, immer da wo die Unseren im Feuer standen. Namen tauchten aus dem Dunkel, Taten geschahen, zu denen sich die Helden Plutarchs hätten bekennen dürfen. Es ging mir jetzt wie Eichendorff, als er während der Befreiungskriege an Görres schrieb: »Sogar die Dichtkunst erscheint mir läppisch, seit die Stimme des Herrn wieder einmal in der Sprache der Poesie zu den Völkern redet«. Von dieser Sprache gehoben, wurde mir der Krieg, der sich so fern von unseren Augen abspielte, daß er die Schrecken der Wirklichkeit verlor, und der die wunderbaren, wie aus unserem alten Sagenschatz herausgestiegenen Heldenbilder hervorbrachte, immer mehr zum mythischen Kriege, zu einer Epopöe, die in lauter wunderbare Einzelgesänge 582 auseinanderfiel. War nicht der junge ritterliche Weddigen unser wiedergeborener Siegfried? Der tragische Ölfleck auf dem Spiegel der Irischen See, der die Stelle verriet, wo U 29 von dem verkappten Kriegsschiff in die Tiefe gesendet wurde, war unserer Empfindung so etwas wie die Stelle im Tann, wo der Spieß Hagens dem Wälsungen in den Rücken fuhr. Darum sträubte sich auch das Volk noch Wochen danach, als schon U 29 vom Admiralstab als verloren gemeldet war, sich seinen Lieblingshelden mit den kühnen Kameraden für immer eingeschlossen im engen eisernen Sarg auf dem Grunde der See zu denken, und wartete noch auf seine Wiederkehr von irgendeiner geheimnisvollen Wikingerfahrt. Und unser Kreuzergeschwader mit dem Admiral und seinen Söhnen und allen den tapferen Jungen, über das die Wellen der Südsee hingehen! Und die unvergeßliche Emden! Erscheinungen wie diese waren es, die uns trotz der Vergeblichkeit unserer überwältigenden Schlachtensiege die Hoffnung auf den unwahrscheinlichsten aller Siege, den Endsieg, bis zuletzt erhielten.
Noch ein Schatten tritt, ein blut'ger, aus Todesgefilden,
Ruft ihn mit Trauer und Stolz leiser und inniger an.
Sagt: Hans Lody starb, dem Reich ein williges Opfer – –
Nach der langen Verfinsterung, mit der die Nachkriegszeit alle die edlen Namen bedeckt hielt, die in den ersten Kriegsjahren, als die Begeisterung noch jung war, wie neue Sternbilder über uns aufgingen, hat das erneute Deutschland auch diesem Helden die Dankesschuld abgetragen, indem es einen neugebauten Zerstörer der Kriegsmarine mit dem Namen Hans Lody ehrte. Vielleicht aber war der einfache Mann, der 583 vier Jahre lang ausgehungert und abgekämpft, in Schlammgräben schlafend, die vereinigten Heere fast des ganzen Erdballs in Schach hielt, noch größer als alle diese Großen. Oft während der langen Kriegsjahre mußte ich voll Dank an die Weisheit der Fügung denken, die meine geliebte Mutter von uns nahm, so lange noch kein Kriegswölkchen den Horizont trübte. Zuweilen aber war mir, als schaute sie mich vorwurfsvoll an, daß ich bei Kriegsausbruch dem Schwerte das Wort geredet hatte, und ich hörte sie sagen: Da siehst du nun das Schwert, wie es immer weiter rast. Andere Male überfiel es mich mit Schrecken, wie ihr sein müßte, wenn sie aus Liebe zu den Ihrigen ungesehen dem Irdischen nahegeblieben wäre und jetzt das ununterbrochene, ihr unerklärbare Hinunterströmen aller der vom Kriege gemähten Massen sehen müßte. Ich fand erst den Frieden mit ihr, als ich in der Sprache, die sie lebenslang am besten verstand, ihr ein tröstendes Zeichen in das unsichtbare Reich hinübergesandt hatte»Einem Schatten«; Aus »Schwert aus der Scheide«.:
Wo bist du, wohin gingst du, Schatten, holdester,
Von allen die da waren? Unser Zwiegespräch
Warum verstummt es? Immer warst du noch mir nah,
Wie du verhießest, als der Stundenschlag dich rief.
Denn nicht zum Lichte, das urheimatlich sein Tor
Dir auftat, gingst du, weil noch mich die Erde hält.
Nein, auf den Dämmerpfaden zwischen dort und hier
Verweilen wolltest du aus heißer Liebesnot
Um meinethalb, und oftmals horchend schlichst du dich
Als kleiner grauer Schatten nach der obern Welt. 584
O diese Wege, sind sie jetzt nicht schauervoll,
Von blutigen Scharen überfüllt, die fort und fort
Sich täglich, stündlich drängend dort hinunterziehn,
Noch wild von Kampf und Wut und des erlittnen Tods
Nicht achtend, noch nicht reif zum Übergang ins Licht?
Mir ist, ich seh dich jammernd irren, Schlucht um Schlucht
Durchflieh'n, von gräßlichen Gestalten wilden Lauts
Geschreckt, bis jener graue Heerwurm dich umfängt,
Der sich durch alle Tale windend immer wächst.
Die Unsern sind's, die Retter, doch du kennst sie nicht:
Nie sahst du noch die graue heilige Ordenstracht,
Die brüderlich ein Volk zu gleichen Opfern eint.
Verzweiflungsvoll ringst du die Hände: Was geschah?
Wo sind die Meinen? Welcher Drangsal jetzt zum Raub?
Und weiter fliehst du weglos vor dem Furchtgesicht.
Ach Seele, daß du ohne mich hinunterstiegst!
Nicht an der Hand kann ich dich führen, wie ich pflag.
Ward je ein Weg zu zwei'n uns schwer? Mir scheint, ich hör'
Dich rufen: Kind, was lässest du mich so allein?
Von blutigen Larven bin ich greuelvoll umringt!
Sonst wenn auf Erden Tierblut floß, am selben Ort
War meines Bleibens nimmer, bebend ließ ich ihn.
Hier seh ich Hände, die befleckt von Menschenblut.
Mich schaudert, Kind.
O Seele, Seele, schaudere nicht.
Weg von den Larven blicke, die sind Wahn und Dunst,
Der schnell verweh'n muß: nur die Liebe hält im Sein. 585
Blick auf die Unsern, sieh, wie schön sie sind, wie ernst,
Wie gleich der Vorzeit Heldenbildern die du liebst.
Wohl tragen sie des Krieges blutige Livrei,
Doch nicht um Länderraub und öden Machtgewinn,
Die liebend für uns starben, lieben wirst du sie.
Ihr aber, Heldenschatten, die ihr abseits strebt
Vom allbegangenen Weg, ihr Tiefern, Sinnenden,
Wenn ihr sie findet, sprecht zu ihr. Erzählt ihr nicht,
Wie in der Erde Völker jäh uralt Gelüst
Nach Jagd und Beute fuhr und wie ein edles Volk
Grausam umstellt ward gleich dem schädlichen Raubgetier.
Auch das erzählt nicht, wie das königliche Wild,
Geschoß und Fallstrick und der Meute Wutgekläff
Und Hungerspein verachtend, in die Feinde sprang.
Den ersten, zweiten warf, dem nächsten ins Genick
Die Pranke schlug und immer der Verfolger Kreis
Umrasend, weit und weiter sie hinweggedrängt.
– Zu wilde Märe für das Herz der Liebenden,
Das gläubig, selbstvergessen sich der Menschheit gab.
Sagt nur: Gerettet sind sie und durch unser Blut.
Und an der Hand sie fassend leitet sie hinaus,
Bis in die Schluchten sanfter Schein von oben dringt,
Verklärend starrer Wände seltsames Gebild,
Schöner als Glanz des Südens, den sie hier geliebt.
Da werdet ihr sie wachsen seh'n, es fällt von ihr
Die Schattenhülle, urverwandtes Liebeslicht,
Am obern Licht entzündet, dringt aus ihr hervor.
Schnell wird sie eins mit jenem, ist nun selbst ein Teil 586
Der ewigen Liebe, die ihr führtet, führt euch jetzt.
Terrassen steigen hoch und höher, überblüht
Von Blumen die beseelt mit Kinderaugen schaun.
Durch Wunder geht ihr, seht wie glühender Nebel sich
Zu künftigen Sonnen ballt. Ihr rascher Fuß durcheilt
Saphiren Grund; vertrauend, staunend folgt ihr nach,
Auf Stufen wallend die ihr fühlt, doch nicht mehr schaut,
Vom Übermaß des Glanzes blind, bis auf zum Tor
Wo menschlich Denken untergeht im Meer des Lichts.
An einem der letzten Kriegswinter – ich weiß nicht mehr welchem – kam Ludwig Wüllner nach München und sprach im Odeon den vierundzwanzigsten Gesang der Ilias, die Krone aller homerischen Gesänge: wie der greise Priamos allein bei Nacht in das Zelt des todatmenden Peliden kommt, um die Leiche Hektors von seinem Würger loszubitten, und wie nun die Könige beide über den Jammer des Krieges, den sie nicht hemmen können und den sie nicht gewollt haben, zusammen weinen, denn gewollt hat ihn Zeus mit den Göttern allen, so sagen sie, – aber Zeus, wenn man an ihn gelangen könnte, würde gewißlich antworten, er sei es nicht gewesen, sondern die unerforschliche Moira, und nach dieser befragt, wäre er um eine Antwort verlegen, so daß die Schuld immer weiter zurück ins Unbetretbare entwiche gleich der Kriegsschuld unserer Tage. Ich habe stets das Wechselgespräch dieser beiden für einen Gipfel der Poesie angesehen, aber jetzt mit dem Seitenblick auf unsere eigene Not war es überwältigend. Und noch ein Letztes, die elftägige Waffenruhe, die sich der Greis bedingt um den Sohn zu beweinen und zu bestatten: »am 587 zwölften dann kämpfen wir, wenn es denn sein muß.« Furchtbar dieses »wenn es denn sein muß«, wie aus dem blutenden Fleisch der Gegenwart geschnitten. Es gibt Augenblicke, wo die Poesie stärker ist als die Wirklichkeit, weil sie als Symbol alle Wirklichkeiten in sich enthält.
Es war jetzt wie eine einzige Riesenschlacht, die rings die Grenzen des Vaterlandes umwogte. Und diese Schlacht stand still, obgleich sie Tausende, Millionen von Leben forderte; sie blieb Jahr für Jahr irgendwie stehen. Die Völker waren ineinander verrannt wie zusammengeprallte Maschinen, die sich aus der Verklammerung nicht mehr retten können. Von Zeit zu Zeit wurde ein großer Sieg gemeldet, Glocken läuteten, Fahnen wehten, Menschen freuten sich. Aber es blieb alles beim alten, jene unbegreifliche mythische Schlacht ging weiter, mythisch nicht nur weil sie die Erde, die See, die Untersee und die Luft erfüllte, mythisch auch deshalb, weil kein Feldpostbrief jemals eine Ortsbezeichnung trug; alle Grüße kamen aus dem Leeren und gingen ins Leere. Es war mir oft, als ob wie auf den Katalaunischen Feldern die Gefallenen wieder aufstünden um weiterzukämpfen. In einem Büro zeigte man mir einmal die fortlaufende amtliche Verlustliste: auf dünnes Zeitungspapier gedruckt, Name eng bei Namen und Blatt auf Blatt geschichtet, so wuchs der Stoß vom Boden gegen die Tischplatte empor. Mit der Zeit hörte auch das Freuen über die Siegesbotschaften auf, die Menschen glaubten nicht mehr, sie waren zu müde. Was war die Wahrheit? Es gab tausend Wahrheiten. Wie wenn aus einem Schlauch die Luft entweicht, so entwich die tragende Kraft aus dem 588 Volke; ich begriff es nicht, ich sah nicht, daß der Schlauch durchlöchert war. Ich sah nur, der Krieg war alt geworden, es ging ihm wie es den Alten geht, man mochte ihn nicht mehr. Finstere Gesichter starrten auf die Plakate mit den Heeresberichten, die vordem von einer begeisterten Menge umlagert waren, daß man kaum zukommen konnte. Noch immer kein Friede? Es wühlte sich etwas Drohendes aus der Tiefe herauf, das nach Empörung roch. Denn jetzt kam die eine sichere Wahrheit, die wir alle am eigenen Leibe spürten, es kam der Hunger über Deutschland. Für meine Person wollte ich ihn gerne leiden, es war ja das einzige, was ich zu dem großen Kriegsopfer der Nation beisteuern konnte, und zugleich durfte ich es als eine Art Sühne dafür betrachten, daß ich das Ungeheuere mit williger Seele begleitet hatte. Auch als Ausgleich, weil mir der Riesenscheiterhaufen keine Angehörigen verschlang. Einmal war mir Thole als vermißt gemeldet, warum gerade mir, erinnere ich mich nicht; als es seine Eltern erfuhren, hatte ich schon durch das Kriegsministerium die Nachricht, daß er mit Lungenentzündung im Lazarett liege, was er in Bälde überwand: sein fröhliches Bild im Lazaretthemd ist mir eine liebe Erinnerung, es zeigte, daß er nichts entbehrte.
Zuweilen erhielt ich aus der Schweiz oder aus Amerika, meist von unbekannter Seite, ein Liebesgabenpaket, das ich mit der Umgebung teilte. Im übrigen fiel mir die Enthaltung von allem, was nach Tafelfreuden aussah, nicht schwer, denn ich hatte von klein auf nach dem Beispiel meiner Mutter sehr einfach gelebt und Leckereien grundsätzlich gemieden, daher mir die immerwährende Klage der Frauenwelt um die Verkürzung der Lebensmittel sehr mißlautend in die Ohren tönte; 589 freilich hatte ich nicht ein Häuflein Kinder bei ungenügender Brot- und Fleischkarte ohne Milch und Eier durchzubringen. Auch der berüchtigte »Dotschenwinter« war zu überstehen, dem zu Ehren das schalkhafte Münchner Kindl seinen Viktualienmarkt in »Dogenpalast« umtaufte. Nur einmal ging ich von meinem Grundsatz ab, mir nichts Eßbares unter der Hand zu verschaffen, indem ich ein frischgelegtes Ei gegen den Abdruck eines Gedichtes eintauschte. Es schmeckte wunderbar und wurde mit bestem Gewissen selbst verzehrt, weil ich den Freund Mohl, der bei strengem Schuldienst mehr Nahrung brauchte, durch unerschöpfliche Zufuhr von seiten seiner vielen Verehrerinnen reichlich versorgt sah. Bei seiner Harmlosigkeit war es nicht schwer ihm zu verbergen, daß bei mir der Wirtschaftsschrank leer war, sonst hätte er sich unter seinen Schätzen nicht wohl gefühlt oder der Friedliche wäre in einen Kampf mit der Wirtschafterin, die mir nicht wohl wollte, verstrickt worden. Denn daß ich in dieser Schickung ein Messen der Kräfte sah, dem ich mich gar nicht entziehen wollte, wäre ihm zu fremdartig gewesen. Mit der Zeit spürte ich dann freilich doch die körperliche Abnahme an den immer kürzer werdenden gemeinsamen Abendspaziergängen, die uns in den ersten Kriegsjahren weit in den damals noch unbebauten Norden Schwabings hinausführten, aber am Ende nur noch bis zu einer Bank am Parzifalplatz reichten. Dort saßen wir dann, während die Straßen der Stadt im Dunkel lagen, nur von wenigen, gegen die Fliegergefahr blauabgedämpften Laternen erhellt, und auch die Straßenbahnen ohne Licht vorüberfuhren, dafür aber an dem hohen Himmel Münchens, der dem südlichen Himmel so ähnlich ist, der Sternengarten um so 590 heller leuchtete. Dieser Zustand, der nur ein leises Schwinden war, hatte nichts Beschwerliches, es war schön, das Leiden des großen Organismus an dem eigenen kleinen mitzufühlen.
Zu was für seltsamen Aushilfen damals die Not führte. Ich sehe mich am Wasserausguß stehen und aus altem Zeitungspapier dicke durchfeuchtete Kugeln unter großem Kräfteaufwand zusammendrehen, die getrocknet beim Heizen die nicht mehr erhältlichen Briketts zu ersetzen hatten. In der eisigen Winterfrühe wurden im Bett die durchgelaufenen Strümpfe gestopft, die längst keinen Faden von ihren ursprünglichen Sohlen mehr hatten, sondern, ein Flickwerk über das andere gesetzt, allmählich einen ganz neuen filzigen Boden bekamen, der immer wieder nachgebessert werden mußte. Schlimmer war, daß das Schreibpapier ausging. Ich mußte mir mit leeren Blättern aus Mohls alten Schulheften helfen oder mit unbeschriebenen Rückseiten längst gedruckter Manuskripte, was der Eingebung nicht förderlich war; von den einlaufenden Briefen wurden alsbald die Umschläge gewendet und umgeklebt. Schwieriger waren die Versuche, eine brauchbare Seife herzustellen. Am übelsten fuhren die Füße, die während der Kriegsjahre von keiner Seite neues Schuhwerk erlangen konnten, weil alles Leder für Heeresbedarf aufging. Mit tieferer Demut habe ich nie einen Menschen angesprochen als damals die Flickschuster, die mir jeweils einen Riß in dem feinen Oberleder mit dem gröbsten Kriegsfaden zusammenhefteten; es war menschlich, daß sie den plötzlich im Wert gesunkenen höheren Ständen nun einmal ihre eigene Bedeutung zu kosten gaben. Mein Bruder Erwin – sein lächelnder Schatten möge mir den kleinen Verrat verzeihen! – hatte aus der Not 591 eine Tugend gemacht und sich für seinen Privatzweck eine kleine Flickschusterei eingerichtet, indem er auf dem eisernen Amboß seiner Bildhauerwerkstatt sich die Sohlen mit auf der Straße gefundenen Lederflicken benagelte. Von meiner Not unterrichtet, erbot er sich, mir auf die gleiche Weise zu helfen; als ich aber die mächtigen Nagelköpfe sah, womit die aufgesetzten harten Erhebungen auf der Lederfläche festgehalten waren, nahm ich von dem brüderlichen Anerbieten Abstand und setzte meinen Wandel auf durchlöcherten Sohlen fort.
Als besonders drastisches Beispiel von der Armut Deutschlands ist mir das Erlebnis mit einem starken, aus Friedenszeiten stammenden hänfenen Bindfaden in Erinnerung geblieben. Mit diesem hatte ich ein Paket abgelegter Kleider, das nach dem noch ärmeren Österreich bestimmt war, umwickelt und es persönlich aufgegeben. Am andern Tag kam es vom Postamt zurück mit dem Vermerk, eine so gute, aus reinem Hanf gedrehte Schnur dürfe Deutschland nicht verlorengehen; zum Versand über die Grenzen sei nur die neue Ersatzschnur aus Papier erlaubt.
An mehreren aufeinanderfolgenden Sommern verbrachte ich je ein paar erholsame und nahrhafte Wochen in meinem schönen Schwabenland, wo es dank einer gütigen Natur und einer weisen Verwaltung noch allerlei zu knuspern gab. Eine Jugendgespielin, dieselbe, die sich einst (s. »Jugendland«) in ängstlich behüteter Kindheit als kühnsten Wunsch erträumt hatte mit den Kurzischen Kindern in Obereßlingen »dreckeln« zu dürfen, lud mich wiederholt nach dem anmutigen Sommersitz, den sie sich auf einem schönbewaldeten Hügelkamm hoch 592 über dem Remstal erbaut hatte. Bei großer innerer Verschiedenheit besaßen wir doch eine Menge gemeinsamer Erinnerungen, wie sie näher als bloße Blutsverwandtschaft zu verbinden pflegen. Zudem war unser Geschick sich darin ähnlich, daß auch ihr der ganze in das Geistige eingebettete Lebensgang durch die Rücksicht auf eine liebenswerte aber nicht immer leicht zu behandelnde Mutter bestimmt worden war, die sie sterbend allein zurückließ. Vermöglich und ohne Bindung, schuf sie sich nun ein Dasein ganz nach eigener Lust und Laune; dazu gehörte eine sehr ausgedehnte Gastfreundschaft, die sie in den Sommermonaten auf dem Lande auch während des Krieges durchzuführen wußte. Vor allem Menschen des Pinsels und Menschen der Feder waren in ihrem reizenden kleinen Haus auf der Finkenwiese willkommen, wo jeder Gast seine Zeit für sich hatte und nur an die gemeinsamen Mahlzeiten gebunden war. Diese reichlich wie in Friedenszeiten mit Kirschkuchen groß wie Wagenräder zu gestalten – die Gegend war berühmt durch ihren Kirschenreichtum –, war ihr besonderer Ehrgeiz; dafür trug sie wöchentlich aus der Residenz zusammen, was noch an übriggebliebenen Leckerbissen aufzutreiben war, und schleppte die Last in einem gewaltig großen und schweren Rucksack, unter dem die kleine und zarte Gestalt fast verschwand – keine Einwendung wollte das Geringste fruchten –, selber den steilen Waldhang vom Bahnhof herauf; grüne Bohnen pflegte sie schon unterwegs in der Bahn zu schnitzeln, denn weil sie im weitesten Umkreis als Original bekannt war, konnte sie nun machen was sie wollte ohne aufzufallen. Dieses seltsame aber anziehende Menschenwesen, das sich gern der »Majorin von Ekeby« vergleichen hörte, brachte solche 593 fast nicht anzunehmenden Opfer – sie bewohnte selbst den unwirtlichsten Raum in ihrem Hause –, vielleicht weniger aus Übermaß der Nächstenliebe als aus Eigenheit und stellte durch ein scharfes Zünglein, das nicht leicht jemand schonte, das Gleichgewicht her. Gerne verweilen heute die Gedanken auf solchen eigenwüchsigen, in sich gewurzelten Gestalten, die das vorige Jahrhundert aus der Beengung des Frauenlebens durch den Gegensatz hervortrieb und die unter der heutigen ungehemmten aber gleichgeschalteten weiblichen Jugend nicht mehr wachsen können. Die ungemein liebenswürdige und abwechslungsreiche Gegend mit der langhingestreckten Albkette, vom Staufen bis zum Zollern gerade gegenüber, war einst das Jugendparadies meines Vaters gewesen, der dort an »Schillers Heimatjahren« schrieb; zwei Häuser des Orts stritten sich um die Ehre, ihn damals beherbergt zu haben. – Es gewährte einen besonderen Reiz, daß der Blick von oben in die Wipfel der ringsum sanft absinkenden Wälder fiel, in denen der Kuckuck sang –, wie lange hatte ich ihn nicht gehört! Seitwärts dehnte sich träumerisches Heideland, und auf dem höchsten Hügelkamm, von wo man zwei Täler überschaute, wehte wonnevoll das hohe reifende Getreide; man konnte sich mitten im Frieden fühlen. Das bäuerliche Leben ging weiter, nur daß die Frauen die Kartoffeln ausgruben und die Mistwagen führten. Ob man zur Kirschenernte kam oder zur Herbstfeier, immer spendete dort die mütterliche Erde:
O wie du treu bist, liebe Nährerin.
Viel Wetter peitschten dich, du aber gibst uns
In satter Fülle unser täglich Brot 594
Auch heute wieder. Und wie horcht sich's friedlich
Am Saum der Wälder, wo durch Tannendüfte
Der Duft der Mahden strömt, dem Vogelsang.
Nur manchmal trägt der Westwind einen Hall
Fern fernher, einen dumpfen, kaum dem Ohr
Vernehmbar, nur dem Herzen das erzittert.
Den Hall von dorther wo man kämpft und stirbt,
Wo man um uns zu retten kämpft und stirbt.
(Aus: »Schwert aus der Scheide«)
Während der Krieg sich langsam zum Ende neigte und die hohen Siegeshoffnungen mit, da ging es mir auf, daß das was mich gemacht hatte, das vielgesichtige Deutschland mit seiner großen geistigen Polyphonie und das verträumte Schwabenland mitteninne künftig nur noch Erinnerung sein konnte, und daß es mir oblag, von dem was auf mein Teil gekommen war, Zeugnis abzulegen, es so viel wie möglich der Vergessenheit zu entreißen, bevor es auch in mir zerbröckelte. Nichts würde ja künftig sein können wie es gewesen war, aber auch niemand würde mehr danach fragen. So entstand das Buch »Aus meinem Jugendland«, das ursprünglich nur zu Einzelfeuilletons für die Wiener Neue Freie Presse bestimmt war und mir erst allmählich in den bewußten inneren Auftrag hineinwuchs. Freund Mohl steuerte reichlich aus seinen eigenen Erinnerungen an mein Elternhaus in Tübingen bei, das seine wahre Herzensheimat gewesen, und half auch die Chronologie, die immer meine schwache Seite war, festigen. Im Sommer 1918 erschien das Buch, und es war mir eine liebe Erfahrung, daß mancher wackere Schwabensohn draußen im 595 Feld an den dargestellten wunderlichen Käuzen und vor allem an den »Schwabenstreichen« seine Freude hatte. Selbst meine Befürwortung der altertümlichen Bezeichnung Glufen statt der modernen farblosen Stecknadeln fand bei der kämpfenden Jugend, der ich gar nicht so viel linguistischen Sinn zugetraut hatte, ein Echo – war es doch auch ein Stück echtes Deutschland, was in dem ehrwürdigen mundartlichen Wort verteidigt wurde. Die letzten Sommerwochen im sinkenden Reich verbrachte ich mit Mohl in dem Kneippkurort Wörishofen, wo der Freund sich auf kurze Zeit einer Kaltwasserbehandlung unterzog und ich selber mit bloßen Füßen durch tauige Wiesen stapfte. Mit Kopfschütteln und seltsamer Stumpfheit lasen wir dort die immer seltener und flauer werdenden Heeresberichte und ahnten noch nicht, was sie verschwiegen. Serbische Gefangene, große schlanke Gestalten, die das hohe, nach Brot duftende Korn schnitten, riefen uns in ihrer Sprache an, ob es denn noch immer nicht Friede werde. Bald, bald, vertröstete der gutherzige Mohl, ohne zu wissen, daß er die Wahrheit sprach und was sie für uns bedeuten sollte.
*
Unter all den Kriegsschauplätzen, deren Ereignisse die Heimat zuerst in fiebernder Erregung, dann allmählich stumpfer werdend verfolgte, weil der Geist, sofern er nicht militärisch geschult war, dem Übermaß des Geschehens nicht mehr nachkam, war einer, von dem ich so gut wie gar nichts wußte: ein freundlicher Genius drehte mir die Augen weg von dem, was zu sehen mir allzu unerträglich gewesen wäre. So kam es, daß mir die Schlachten am Isonzo und am Piave nahezu unbekannt blieben, und daß mir später die damit verknüpften 596 Namen von Siegen und Niederlagen nichts zu sagen hatten. Für mich war Italien vom Tage seiner Kriegserklärung an wie mit einem vorübergehenden Nebel bedeckt, aus dem nur der Strand von Forte hell beschienen hervortrat. Forte war das alte; mein Haus, mein Garten wußten nichts vom Völkerhaß, die Freunde, die sich dort allsommerlich zusammenfanden, waren noch immer meine Freunde, und der brüderlichste von allen wahrte mir, so weit es in Menschenmacht stand, meinen Besitz und hielt mich in schonender Weise auf dem Laufenden. »Pensate Voi alla cara patria, alla Vostra casa ci penso io«Denken Sie an das liebe Vaterland, an Ihr Haus will ich denken., schrieb er mir tröstend über eine neutrale Deckanschrift. Ich dankte ihm in dem längeren Gedicht »Jenseits des Blutstroms«, in das ich diese und andere gute Worte, die er mir auf verdecktem Wege sandte, mitverwob, damit inmitten der von Blutgeruch verrohten Welt der seltene Duft einer völlig reinen und ritterlichen Freundschaft erhalten bleibe. Das Gedicht erschien in der Zeitschrift März und ich fand Gelegenheit, es über die Schweiz nach Forte zu senden, wo eine Freundin von deutscher Abkunft ihm Zeile für Zeile übersetzte. Dem Einsamen, der die gewohnte deutsche Atmosphäre immer schmerzlicher vermißte, weil er sich unter seinen Landsleuten, die im Kriegsfieber bebten, fremder und fremder fühlte, war die Rückbeschwörung der sonnigen Tage, wo Angehörige getrenntesten Volkstums wie eine einige Familie an diesem Strand gewohnt hatten, ein Labsal, und groß war auch seine Freude, seine eigene Gestalt mit ihrem Wesentlichen im Spiegel der Freundschaft so aufgefangen zu sehen, wie er wünschen mußte im Gedächtnis der Späteren 597 fortzuleben. Mir selber aber war es eine Beruhigung, daß ich diese Möglichkeit gefunden hatte, die große Dankesschuld für die lebenslange, meinem Mütterlein und mir erwiesene Treue abzutragen. Dies war um so angezeigter, als bald danach das lange schwere Siechtum begann, das den Freudigsten von allen Freuden des Daseins absperrte und den Meister der Bewegung am Ende seiner Tage mit Lähmung schlug, dem Bittersten, was ihn treffen konnte. Als ich ein Jahr nach Friedensschluß mich bei Freunden in Forte aufhielt, war das Leiden schon vorgeschritten, aber auf den ersten Blick schien er der alte, so groß war die körperliche Willenskraft womit er die zuckenden Glieder zum alten Gehorsam niederzwang. Er ging noch in seiner bronzenen Schönheit, die wie eine junge Freundin sich ausdrückte, nur von einem leichten Rost angefressen schien, am Strande auf und nieder, mit unsagbaren Gefühlen dieses Meer betrachtend, das er nicht mehr befahren konnte, die geliebten apuanischen Berge, die er nicht mehr besteigen konnte. Die Wehmut dieses Verzichts und der Blick auf die Trostlosigkeit des Endes, die dem Arzte nicht entging, gab ihm eine tiefere Innerlichkeit, als er zuvor besessen hatte. Er bewahrte mir seit der Beschlagnahme meines Hauses, das ich von einer vielköpfigen italienischen Familie bewohnt fand, eine von dort herausgerettete Truhe auf, die mit der ganzen Hauswäsche und einem Riesenpack von Briefen, Bildern und sonstigen allerpersönlichsten Lebenszeugen der Florentiner Jahre angefüllt war. Diese Papiere, um deren Bedeutung er wußte und die er nicht in fremde Hände fallen lassen wollte, hatten ihm während des ganzen Krieges Sorge gemacht, daher er sie bei sich wie sein Eigentum hütete. Aber auch jetzt nach 598 Friedensschluß blieb die Frage bedenklich, weil keine geschriebene Zeile über die Grenze durfte und er bei der steten Zunahme seines Leidens nicht mehr lange ihr Hüter sein konnte. Also ließ er mir in seinem Piniengarten, da der meine mir zur Zeit nicht gehörte, ein starkes Feuer anzünden, ich zerschnitt mit schnellem Entschluß die Schnüre des Riesenblocks, brach alle die versiegelten Päckchen auf und weihte den Inhalt Blatt um Blatt den Flammen. Es war mir nicht ganz wohl dabei, manches hätte ich gerne gerettet, aber der Zwang, unter dem ich handelte, machte mich verbissen: wo ein besonders wertes Blättchen oder ein nicht wieder herzustellendes Bild aus dem Feuer fiel, schob ich's mit dem Fuß wieder zurück und dachte trotzig: Wo der schönste und größte Teil meines Lebens brennt, magst du mit verbrennen. Es wäre nicht nötig gewesen, sage ich mir jetzt, so ganz gründlich vorzugehen, allein das Feuer erzeugt einen Rausch, der alles Lebewesen von den leichten Geflügelten bis zu den starken Vierfüßlern in seinen Bann zwingt und auch den Menschen selber verwirrt. So warf ich am End noch das Letzte in die Glut und sagte: Friß zu. Aber das unersättliche Feuer hatte sich überfressen und konnte nicht mehr, denn es lag erstickt unter der Masse verkohlten Papiers. Da nahm ich die übriggebliebenen zerstreuten Blätter auf und legte sie zu unterst in meinen Reisekoffer, um diesen kleinen Rest florentinischer Lebenszeit mit nach Deutschland zu nehmen; denn es sollte danach noch ein halbes Jahrzehnt dauern, bis die Luft in Europa so weit gereinigt war, daß ich nach vielen Fehlversuchen schließlich zehn Jahre nach Kriegsausbruch durch Entgegenkommen der faschistischen Regierung meinen Besitz zurückerhielt.
Jetzt muß ich von dem kleinen Opferfeuer im Garten des 599 italienischen Freundes, das ich verfrüht angezündet habe, nochmals in den lodernden Weltbrand zurück, denn wir schreiben erst 1918.
In der Zeit, wo sich der letzte Zusammenbruch Deutschlands vorbereitete, traf mich noch ein schwerer persönlicher Verlust: Rosalie Braun-Artaria, die großgesinnte, geistesstarke Frau, der sichere Pol ihres ganzen Freundeskreises, wurde das Opfer eines jähen, entsetzlichen Unfalls.
Diese Erinnerungen wären unvollständig ohne das Bild der seltenen Frau, die mir, so lange wir uns kannten, eine Stütze gewesen, weil sie seit meinen Anfängen fest an mich glaubte und durch alle Anfechtungen zu mir stand. Daß es mir bei meiner Entfernung vom Vaterland und meiner Unverbundenheit mit den herrschenden Strömungen gelang, mich auf den unsicheren Wellen des deutschen literarischen Lebens zu halten, verdanke ich ihr zum großen Teile mit. Ihr Verständnis und ihre schriftleiterische Erfahrung, bei der es immer Rat und Wink zu holen gab, haben mir oft den Weg geebnet, und in Zeiten, wo die persönlichen Bedrängnisse mir fast das Steuer aus der Hand schlugen, war es ihr vertrauter Zuruf, der mich immer wieder Mut fassen ließ.
Um nach der langen Zeitspanne noch jeder Linie der edlen Gestalt sicher zu sein, muß ich einzelne Züge aus der Zeichnung entnehmen, die ich wenige Wochen nach ihrem Hingang in der Frankfurter Zeitung vom 23. Oktober 1918 zu entwerfen versucht habe.
Von großem klarem Schnitt, klassisch einfach wie ihre leiblichen Züge waren Charakter und Denkart dieser Frau. Aus 600 dem berühmten von Italien gekommenen Kunsthändlergeschlecht der Artaria in Mannheim stammend, hatte sie einen starken geistigen Trieb schon im Blute. Mit sechzehn Jahren und bildschön verlobte sie sich einem doppelt so alten und äußerlich nicht bestechenden aber sehr bedeutenden Manne, dem Kunsthistoriker und Sagenforscher Julius Braun, der die damals neue und der herrschenden Ansicht widerstreitende These von den orientalischen Einflüssen auf die griechische Kunst verfocht und dadurch in Gegnerschaft mit der ganzen zünftigen Wissenschaft geriet. – Fräulein Rosalie, warum heiraten Sie diesen Menschen? fragte sie einmal der jugendliche Anselm Feuerbach, der sie als Braut malte. Ihre Antwort: Aus Liebe konnte er sich nicht zusammenreimen. Daß es ihr tiefer Ernst war, wie alles was sie sagte und tat, sollte sie in der Ehe erweisen, wo sie zuerst Brauns Hoffnungen auf einen raschen glänzenden Erfolg und eine führende Stellung in der wissenschaftlichen Welt teilte, aber schnell mit ihrem klaren Frauenblick die Vergeblichkeit seines Ringens gegen festgerannte Meinungen erkannte und ihm gleichwohl durch keine Äußerung des Zweifels den Siegesmut lähmte, sondern nur ganz in der Stille das Hauswesen auf bescheidenere Lebensaussichten einstellte. Nach Brauns frühem Tode, der sie mit zwei Kindern in beschränkter Lage zurückließ, begriff sie alsbald die Notwendigkeit selber zuzugreifen und eröffnete zunächst einen Literatur- und Geschichtskursus für junge Mädchen. Daß sie sich zu diesem Zweck nicht mit dem Überkommenen begnügte, sondern nach eigenen Einsichten rang, führte sie auch einmal um Aufklärung zu dem einsamen greisen Ignaz Döllinger, der fortan in anregendem freundschaftlichem Verkehr mit ihr blieb.
601 Die Versuchungen einer neuen Ehe wies sie ab, um sich restloser ihren Mutterpflichten widmen zu können. Und als äußeres Symbol der Entsagung setzte sie nach einem damals schon abgekommenen Großmütterbrauch auf ihre schönen dunklen Haare ein kleines schwarzes Spitzenhäubchen; es konnte sie nicht entstellen, aber es warf einen gewollten Schatten vorzeitigen Alters auf ihre reife ernste Frauenschönheit, die Lenbach noch kurz zuvor in vollem Glanz gemalt hatte.
So lernte ich fast ein Jahrzehnt später die noch immer schöne und gebietende Gestalt kennen, als ich mich jung und weltfremd, eben aus Tübingen gekommen und ganz ohne Zukunftsaussichten allein auf dem Münchner Boden fand. Sie übernahm es, die junge, ihr bis dahin unbekannte Fremdlingin zu beraten und zwischen ihren von Hause mitgebrachten Anschauungen und der neuen Umwelt liebevoll die Brücke zu schlagen, daß sich kein böser Wille an den Saum meines Kleides heften konnte. Und so oft ich später aus Italien wiederkam, immer fand ich sie als die alte, rastlos tätig und zugreifend, unerbitterlich herb und streng gegen sich selbst, aufopferungsvoll für die Freunde und bei vorwiegender Verstandesschärfe doch keine verneinende Natur, sondern stets ermunternd und wohltuend. Sie hatte unterdessen, ohne ihr geliebtes München verlassen zu müssen, einen Schriftleiterposten an der »Gartenlaube« übernommen, der ihrem Wissen, ihrem Takt und ihrem unendlichen Fleiß eine weite Betätigung bot. Rosalie Braun war damals neben meiner Mutter in geistigen Dingen die einzige selbstdenkende Frau die ich kannte; alle anderen dachten mit den Gedanken ihrer Männer; sie betrachtete die Dinge mit eigenen Augen, bevor sie urteilte. 602 Aber es waren keine Frauenaugen durch die sie sah; das oft auf geistige Frauen falsch angewandte Wort vom männlichen Verstand, bei ihr traf es zu: ihr Denkorgan war ein männliches. Bei Meinungsverschiedenheiten wehrte sie sich kräftig ihrer Eigenart mit dem besonderen stolzen Lachen, das ich so gern an ihr hörte, obwohl es aus keinem frohen Herzen kam. Wie eine dorische Säule unter unruhigem modernem Bauwerk stand diese Frau in unseren Tagen. Sie wurzelte noch in einer Zeit und Umwelt, die dem normalen Weib die geistige Befähigung absprach, und ganz wurde es ihr auch nie bei der Frauenbewegung geheuer, wie sehr sie ihr durch ihr schweigendes Beispiel unbewußten Vorschub leistete.
Dieser starken und stolzen Seele hatte das Schicksal den bittersten Kelch gereicht, sie büßte frühzeitig das Gehör ein, und das Übel schritt mit den Jahren fort. Musik zu missen die ihr Lebenselement gewesen – sie hat in ihrem Erinnerungsbuch ihr musikalisches Talent wie alles ihrige zu niedrig eingeschätzt –, die Stimmen der Freunde nur noch durchs Hörrohr zu vernehmen, war ihr die grausamste aller Entbehrungen. Aber sie pflegte zu sagen: Wer darf über sein Gehör klagen in einer Welt, wo Beethoven taub war? Was ihr an alten Freunden übrigblieb und an neuen zuwuchs, das zog noch immer eine Plauderstunde in ihrer stillen Stube an der Georgenstraße unter Büchern und Blumen den meisten geselligen Genüssen vor.
Erst in ihrem achtundsiebzigsten Lebensjahr, das ihr letztes war, trat die merkwürdige Frau mit dem Buch ans Licht, das die Ernte ihres Lebens enthält: »Von berühmten Zeitgenossen«. Der ihr eng verbundene Münchner Künstler- und 603 Schriftstellerkreis mit den führenden Namen jener Tage, wie auch auswärtige geistige Spitzen, denen sie auf der Reise nahegetreten war, sind in dem Buche höchst lebendig vorgeführt, dazu kam noch eine anziehende Schilderung bäuerlichen Lebens in Sommerfrischen am Starnberger See, ein Thema, das damals noch nicht ausgeschlachtet war wie heute. Der rasche Erfolg des Buches warf ihr eine Fülle später Freuden in den Schoß. Verehrer von nah und fern, auch aus dem Felde, stellten sich ein um zu danken, die achte Auflage war binnen weniger Monate schon erschienen und zwei weitere in Sicht. Ein Sonnenblick in ihr verdüstertes Gemüt, dem der Krieg den letzten Lebensrest vergällte, denn leider hatte sie keinen Tropfen romanisches Quecksilber von den italienischen Vorfahren her im Blute. Eine letzte Freude wurde ihr zuteil durch Erlösung eines geliebten Enkels aus vierjähriger französischer Gefangenschaft. So war ihr letztes Lebensjahr ein gesegnetes. Bei einem Landaufenthalt im Sommersitz ihrer Lieben betrat sie tief in Gedanken allein den Schienenstrang, während eben der Zug, den sie nicht hören konnte, um die Ecke heranbrauste, und wurde augenblicklich getötet. Sie hatte sich stets ein rasches Ende gewünscht, bevor das Alter sie von anderen abhängig machte, und wer sie kannte, der weiß, daß ihrer stahlgepanzerten Seele auch vor diesem schrecklichen Zufall nicht gegraut hätte, wäre er ihr geweissagt worden. Vielleicht hätte sie es sogar als eine Vergünstigung empfunden, von der letzten erklommenen Höhe unmittelbar ins Grab zu steigen, ohne die nunmehr unaufhaltsam gewordene Niederwerfung Deutschlands erleben zu müssen. Denn sie hatte von allem Anfang an schwarz gesehen und von Jahr zu Jahr weniger die 604 Siegeshoffnungen ihrer Umgebung geteilt. Ihr klarer Verstand, der den Krieg nicht wie wir anderen mit der Mystik des Gefühls erlebte, erkannte von vornherein die ungeheure Gefahr einer Kräfteverteilung, wobei das aus unerschöpflichen Hilfsquellen gespeiste britische Weltreich auf der Gegenseite stand und zum Letzten entschlossen war. Nun war ihr wenigstens erspart, ihre schwärzeste Voraussicht durch die Größe unseres Unglücks noch bei weitem übertroffen zu sehen.
Am 7. November frühmorgens erfuhren wir aus der Zeitung, daß wir in dem Freistaat Bayern erwacht waren. Das Königshaus war bereits verschwunden, die Garnison in der Nacht zu den Aufständischen übergegangen. Das hatte sich mit solcher Geschwindigkeit vollzogen, daß eigentlich niemand begriff, was vorging. Tags zuvor hatte eine Kundgebung auf der Theresienwiese stattgefunden, bei der umstürzlerische Reden gehalten worden waren, aber die Behörden nahmen die Sache nicht ernst und ließen der Bewegung den Lauf; Volkshaufen, zumeist Jugendliche mit Kindern und Dienstmädchen vermischt, marschierten singend durch die Straßen. Mein eigenes Mädchen, das ich damals mit Mohl gemeinsam hielt, ersuchte um einen freien Abend um, wie sie sagte, »bei der Gaudi« dabeizusein. Am Morgen aber war das Spiel Wirklichkeit geworden und fand zwei Tage später in Berlin seine Nachahmung; von leichterem Anstoß sind niemals Throne gefallen. Der 12. November sah schon den Träger der Kaiserkrone auf dem Weg nach Holland, und kein hoher Schatten winkte mit dem Krückstock von der Grenze zurück, weil an dem Hohenzollernerbe doch nichts mehr zu retten war. Der eine 605 Sturz riß alle andern regierenden Häuser nach. Nichts blieb von des Reiches Größe aufrecht als der greise Feldherr, der Urzeitrecke, der einfach und phrasenlos wie immer das geschlagene aber unbesiegte Heer in Gewaltmärschen, doch in voller Zucht und Ordnung über den Rhein zurückführte. Wog ein solcher Rückzug vor der Geschichte nicht mehr als das Halali der nagelneuen blitzblanken amerikanischen Millionenarmeen, die den Krieg entschieden? Wäre noch Ritterlichkeit auf der Welt gewesen, so hätten sich die Fahnen der Feinde vor den Abziehenden gesenkt. Aber schlimmer als alles was diese vom Gegner erfuhren, war ihr Empfang in der Heimat, wo sie von Meuterern und Aufwieglern überfallen, beschimpft, beschossen, ihrer Ehrenzeichen beraubt, die Offiziere mißhandelt und allen das Symbol, wofür sie gekämpft hatten, die schwarzweißroten Kokarden, abgerissen wurden.
Die »Leiber«, das berühmte Lieblingsregiment der Münchner, das immer nur da eingesetzt wurde, wo ein Einriß auszubessern war, zogen noch in voller militärischer Haltung ein. Münchens Frauen gaben ihnen eine Empfangsfeier im Hoftheater mit Ansprache und Festvorstellung nebst allerlei Unterhaltung, wozu sie sich die Einwilligung der Provisorischen Regierung unter Eisner und ihr Versprechen, den Abend nicht zu stören, gesichert hatten. Weil ich auf Wunsch des Ausschusses das Begrüßungsgedicht verfaßte, das eine Schauspielerin vom Hoftheater vorzutragen hatte, bekam ich eine Einladungskarte zu dem sonst geschlossenen Abend. In bester Form wie in Friedenszeiten füllten die Soldaten Kopf an Kopf den Zuschauerraum, ein Bild der Disziplin, und nahmen die Darbietungen und die kleinen Geschenke bescheiden und dankbar 606 entgegen. Da ging plötzlich der Vorhang auseinander, und auf der Bühne stand eine seltsame asketische Gestalt, lang und hager mit schwarzem hängendem Haar und Bart, die Handgelenke wie aus leeren Ärmeln schauend, der ganze Mensch die Verkörperung des glühenden Fanatismus. Er entbot den Heimgekehrten den Gruß Eisners und redete mit Feuerworten auf sie ein, sich der Bewegung anzuschließen. Der da sprach, war Gustav Landauer, der Schriftsteller und Philosoph, Schüler Bergmanns, der in den feinen Kreisen Berlins eine große schöngeistige Gemeinde besaß und der jetzt nach München geeilt war, um mit der Gläubigkeit des Apostels den Bürgerkrieg entzünden zu helfen, in dem der Unglückselige selber ein trauriges Ende finden mußte. Damals erlebte ich, was demagogische Beredsamkeit über ungeschulte Massen vermag: die Luft war verwandelt, nachdem er gesprochen hatte. Eine unterdrückte Unruhe ging durch die Reihen der großen Kinder da unten, ein leises Rühren und Rücken; dem Gebotenen folgte keine Aufmerksamkeit mehr, der Funke hatte heimlich gezündet. Wenn sich auch der Aufbruch noch in Ruhe vollzog, es war nicht mehr dieselbe Truppe. Auf dem ersten Rang nahe von mir saß ein jüngerer Offizier, die Brust der Quere nach mit Orden bedeckt, dessen Gesichtsausdruck mich beschäftigte, wie er kalt beherrscht aber mit Wolken auf der Stirne, hinter denen sich ein fernes Gewitter zu sammeln schien, auf seine eben noch so schöne Truppe heruntersah. Es war der Kommandeur des Regiments, wie mir meine Nachbarin zuflüsterte, derselbe, der hernach die Freiwilligen zur Rückeroberung Münchens aufbrachte, der heutige Reichsstatthalter von Epp.
607 Als ein halbes Jahr später sein Kommen der roten Gewaltherrschaft in München ein Ende machte, da erinnerte ich mich des Gesichts von jenem Abend, und es schien mir, als müßte ich damals der Geburt des rettenden Gedankens mitangewohnt haben.
Der Winter 1918–19 mit den drei aufeinanderfolgenden Revolutionen war der längste und ödeste, den ich in München erlebt habe: immer neue Schneemassen deckten jede Frühlingshoffnung zu, und alles geistige Leben stockte. Mir riß er gleich zu Anfang eine schmerzliche Lücke in den Freundeskreis. Otto Crusius, der Gräzist der Münchner Hochschule, mir seit der gemeinsamen Hellasfahrt nähergetreten, ein geistvoller Gelehrter großen Stils, ebenso feurig deutsch wie durch und durch Hellene, ein Mann, der ein Bollwerk gegen den anschwellenden Bildungs-Bolschewismus bedeutete, schied jählings aus dem Leben. Er war einer der wenigen, die gleich mir vom Krieg nicht überrascht wurden, weil auch er in fremden Ländern die Luft des europäischen Hasses geatmet hatte, und manchesmal trugen wir unser Herzeleid über die dem deutschen Namen angetane Schmach zueinander, aber sein angeborener Siegesmut wollte von keiner Sorge hören, er sah in unserem gewaltigen Anteil an der Weltkultur und in den ewigen Schöpfungen unserer Sprache die besten Schutzwehren unserer nationalen Ehre.
Ich hatte ihn noch am Tag vor seinem Tode in seiner jovialen Frische gesehen und mit ihm und seinen Damen ein Zusammensein bei mir im engsten Kreise für den nächsten Abend verabredet. Ich wollte ihm die Dichtung »Leuke« vorlesen, die ich 608 eigens um seinetwillen zurückgehalten hatte, um sie in seinem Geiste zum erstenmal gespiegelt zu sehen. Denn Crusius war selber Poet, er hatte während des Krieges einen kleinen Gedichtband bei Beck in München veröffentlicht, frische, lebenswarme, ganz und gar nicht professorale Gebilde, denen ich auf seinen Wunsch eine Einführung in die Öffentlichkeit schrieb. Am späten Abend war er dann in einer revolutionär angehauchten Studentenversammlung gewesen, wo seine eigenen Schüler ihm plötzlich schroff entgegengetreten sein müssen; möglich, daß die Erschütterung einen tödlichen Vorgang in seinem Hirn ausgelöst hat; man fand ihn des Morgens entseelt im Bette. Ich kam und saß lange Zeit neben dem stillen Gesicht, das noch allen Reichtum geistigen Lebens festhielt. Symbolhaft stieg mir dabei das Bild eines starken gestürzten Wartturms auf, der langsam in den gleichmachenden Wassern versinkt.
Um mich aus der Mutlosigkeit zu retten, folgte ich einer Einladung nach Stuttgart, dort aus eigenen Werken zu lesen. Solchen Aufforderungen war ich bisher immer ausgewichen, ich kannte bei meiner Weltabgeschiedenheit mich selbst zu wenig um zu wissen, ob meine Nerven dem öffentlichen Sprechen gewachsen waren. Aber etwas Neues mußte jetzt unbedingt begonnen werden als Auftakt zu anderen Lebensmöglichkeiten, und wenn irgendwo, war dieses Neue in der engsten Heimat zu beginnen, wo trotz der langen Entfremdung immer ein Strom des Verstehens hin- und widergehen mußte. Denn die Schwaben sind nun einmal eine besondere Menschenart, die, wo das poetische Gefühl angeregt wird, nicht leicht versagen. Ich erkannte gleich, wie sehr ich mich lebenslang 609 unterschätzt hatte, denn ich stand ohne alles Lampenfieber, ohne einen einzigen stockenden Pulsschlag vor dem bis auf den letzten Winkel gefüllten Saal, der mich wie eine Heimgekehrte aufs herzlichste empfing, ich war Blut von ihrem Blut, alle sollten mich sehen und grüßen. So war der Zusammenhang von selber da, und ich fühlte mich völlig sicher in meiner eigenen Welt. Was tat's, daß gegen den Schluß vor dem Saal geschossen wurde und auch auf der Straße ein Rennen und Laufen entstand, weshalb ein Teil der Versammlung überstürzt aufbrach, die meisten blieben, und ich kam gut zu Ende. Auf dem Heimweg geriet ich dann in eine Kundgebung, die jedoch im Vergleich zu der Erregung bei ähnlichen Vorgängen in München einen ungemein friedlichen Charakter hatte: ein Mann stand auf dem Leonhardsbrunnen und sprach zu der Menge, die ohne einen Zwischenruf, nur langsam hin- und widerwogend, seine Worte, die ich nicht verstehen konnte, aufnahm; die Leute schienen zu denken, daß ein jeder das Recht seiner Meinung habe. Die Württemberger hatten ja auch ihren König vertrieben, den besten Mann des Landes, und in einer Form, die dem Dank für ein wahrhaft väterliches Herz schlecht entsprach –, sie hatten es wenigstens durch Zuläufer von außen und die eigenen rohesten Volksteile geschehen lassen ohne zu wehren –, aber so etwas wie Terror konnte man sich in den weichen Lüften des Neckartals nicht vorstellen. Wie anders wurde mir dann wieder auf unserer rauhen Münchner Hochebene, in der Stadt der Gewalt, wo alles bürgerliche Leben unterdrückt war und niemand wußte was die nächste Stunde bringen konnte. Das Pflaster beherrschte eine schlampige, die Gewehre schlenkernde, jeder Mannszucht 610 absichtlich hohnsprechende Soldateska, neben der sich fast nur noch die Dienstmädchen und die Schulkinder herauswagten. Noch war kein Blut geflossen, aber im Unterbewußtsein lebte die Ahnung der Gefahr. Mir drängte sie sich einmal durch einen denkwürdigen symbolischen Traum in die Vorstellung: ich betrat eine Veranda, wo eine Anzahl mutwilliger junger Leute beisammen war, und entdeckte mit Staunen, daß ein Bär von ungeheurem Umfang losgebunden mitten unter ihnen saß. Das Ungetüm war gut gelaunt, es kehrte mir seine gewaltige Fresse zu und erhob wie zum Scherz eine seiner Riesenpranken. Konnte der Bolschewismus besser versinnbildlicht sein als in dem freigelassenen Lieblingstier der Russen? Man konnte damals noch meinen, der Bär spiele nur, aber sein Anblick unter der gedankenlosen Schwabinger Jugend war nicht beruhigend.
Mitten in die gespannte Atmosphäre hinein tönten die Schüsse, die Eisner niederstreckten. Die Tat hatte gleichsam in der Luft gelegen, kurz zuvor hörte ich in der Eisenbahn zwei mitfahrende fremde Herren untereinander ihre Verwunderung darüber äußern, daß von den heimgekehrten Offizieren, deren Leben doch verspielt sei, weil sie durch den Umsturz allen Lohn ihrer Verdienste und ihre ganze Zukunft eingebüßt hätten, keiner den Urheber der Mißwirtschaft wegräume. –Die ganze Stadt eilte nach dem Ort der Tat, wo alsbald der Geßlerhut aufgerichtet wurde: Eisners Bild auf einem ganzen Hügel von Blumen, jeder Vorübergehende männlichen Geschlechts mußte durch Hutabnehmen die Stelle grüßen, und dem Toten wurde unter dem Geläute aller Kirchenglocken durch Spartakus eine königliche Leichenfeier bereitet.
611 Ich habe mich in früheren Jahren oft gewundert, wie es in der Zeit der großen französischen Revolution die Menschen fertigbrachten, neben den Erschütterungen des öffentlichen Lebens ihr kleines tägliches Dasein weiterzuführen. Nachdem ich jene drei aufeinanderfolgenden Umwälzungen in München miterlebt habe, weiß ich, daß man in politisch gespannten Zeiten an einem Stadtende wohnen kann, ohne zu wissen was am andern vor sich geht. Wer also nicht gerade dazu kam, wie Wohnungen ausgeleert und Geiseln weggeführt wurden, der konnte in der endlosen Stille jener Tage glauben, die Zeit selber stehe still und es geschehe überhaupt nichts. Denn bei der völligen Unterdrückung der bürgerlichen Presse und der freien Rede erfuhr man nur, was die rote Regierung für gut fand, kundzugeben, vor allem die Namen der neuen Herren, denen wir seit dem 7. April zu gehorchen hatten.
An jenem Morgen war meine Zeitung mit demselben metallischen Klang wie immer in den Briefkasten gefallen, aber als ich sie herauszog, hatte ich in Feuer gegriffen: vorn auf der ersten Seite lohte mir in rotem Druck die Erklärung der roten Räterepublik im Anschluß an Rußland und Ungarn entgegen. Die linke Spalte füllte das kommunistische Manifest, die rechte, aus dem »Hyperion« geholt, jener schmerzvoll zornige Ausfall Hölderlins auf sein ebenso heißgeliebtes wie schwer verklagtes Volk. Dazwischen, wie um zu beurkunden, daß dieser Umsturz kein Werk des bayerischen Volkes, sondern ausländischer Journalisten war, befanden sich zwei jener expressionistischen Holzschnitte, denen man mit den Augen nicht beikommen kann, die den Verstand wie ein Rebus oder ein Versteckbild in Bewegung setzen. Es war noch das gewohnte 612 Format und die gewohnten Lettern unserer alten »Neuesten«, aber die Stimme, die daraus erklang und uns nun Tag für Tag von dem Glück erzählte, das die tief humane aber arg verleumdete Sowjetregierung ihren Völkern gebracht habe, ließ an die Mär von Dämonenbesessenen denken. Nur ein kleiner Vermerk an wenig sichtbarer Stelle verriet, daß der ganze bürgerliche Redaktionsstab verdrängt und durch einen revolutionären ersetzt war. Des andern Tags entfloh die Regierung Hoffmann, die Nachfolgerin Eisners, nach Bamberg und blockierte von dort aus die Stadt, während in München unter dem Ringen der gemäßigten mit den radikalen Elementen ein Umsturz auf den anderen mit wirbelnder Schnelligkeit folgte. Am Bahnhof, auf den umliegenden Straßen wurde geschossen, von wem? auf wen? man wußte es nicht. Aber bald sollte sich's zeigen, wer Herr geblieben war. Die ganze Arbeiterschaft wurde bewaffnet, allen anderen Einwohnern die Waffen abgenommen: Da konnte man das jämmerliche Schauspiel sehen, wie in endlosem Zug Halbwüchsige, Dienstmädchen, nur selten die Besitzer selbst, alles was sich an Waffen in den Häusern befand, bis zum letzten Jagdgewehr, zum letzten Browning auf die Kommandantur trugen. Jetzt erhob der russische Bär, der bisher noch halb gespielt hatte, die Pranke zum Schlag. Die russischen Kriegsgefangenen wurden von Puchheim geholt und in die rote Armee eingereiht. Ein Revolutionstribunal durfte auch nicht fehlen, dem jedoch nachgesagt werden muß, daß es in der kurzen Zeit seines Bestehens kein Todesurteil fällte. Das eigentliche Volk, die Arbeiterschaft, benahm sich durchweg besonnen. Mancher trug auch die rote Binde nur um der Löhnung willen, damit man 613 etwas zu essen hatte, und gab, wenn man ihn anredete, zu verstehen, daß man ihn nicht zu fürchten brauche, weil er ja kein wirklicher Löwe, sondern nur Schnock der Schreiner sei. Wie sollten diese armen Leute auch wissen, welche von den aufeinanderfolgenden Regierungen, die sich alle gegenseitig anklagten, die richtige sei, der sie zu dienen hatten? Ein Matrose aus Kiel. der mit einem Harem von Dirnen auf dem Kriegsministerium amtete, war die oberste militärische Behörde. Den meisten Schrecken verbreiteten die Geiselaushebungen, die jetzt in großem Ausmaß, aber ganz planlos, zum Teil nach dem Adreßbuch betrieben wurden, wobei es vorkam, daß auch Verstorbene mit auf die Liste gesetzt wurden. Ein verdienter General, der vom Siebziger Feldzug die Ehrenzeichen trug und auch im Weltkrieg noch gedient hatte, wurde von siebzehn- bis achtzehnjährigen Bürschlein in Uniform früh morgens um vier Uhr aus dem Schlafzimmer geholt mit den Worten: General, wissen Sie nicht, daß das oberste Gesetz des Soldaten der Gehorsam ist! Warum haben Sie nicht sofort geöffnet? Mancher konnte es wochenlang nicht wagen bei den Seinigen zu schlafen und mußte jede Nacht in einem andern Freundeshaus Unterschlupf suchen. Die Wohlhabenden und Namhaften unter meinen Freunden waren schon seit Wochen aus der Stadt, zum Teil bis über die Grenze verschwunden. Ganz neue Typen tauchten in den Straßen auf. In den Schwabinger Gaststätten, wo die Russen verkehrten, sah man niegesehene Tischsitten. So öde war die Stadt, daß mitten in der Kaufingerstraße an einem Kreuzungspunkt ein fliegender Händler seinen Tisch mit Kleinkram aufstellen konnte, den alsbald Jung und Alt umdrängte: man spitzte die Ohren, um 614 wieder einmal Schuhnestel und Fadenrollen anpreisen zu hören, statt immer nur die Segnungen der neuen Zeit. Und die Drohungen die sich jagten, die Kommissionen, die von Haus zu Haus gingen um Lebensmittel, Wein, Wäsche, Kleider, Geld, Wohnräume zu enteignen wie in Feindesland, Plünderer, die mit falschen Ausweisen versehen das gleiche taten. Zum leiblichen Hunger der seelische: in Wochen kein Freundesbrief, kein auswärtiges Zeitungsblatt. Abgeschnitten von der Treue, die sich um uns sorgt und der man kein Zeichen senden kann, abgeschnitten von jeder Nachricht von draußen, nicht wissen, wohin die Räder der Geschichte seitdem gerollt sind; eine Gedächtnislücke nicht mehr auszufüllen, so schien es, denn wie ließe sich das alles in der atemlosen Hast der Zeit nachholen! Und was schlimmer ist, nicht einmal wissen, was in und um München vorgeht, denn wer »Gerüchte« verbreitete, dem drohte das Revolutionstribunal. In den Nächten das Sturmgeläut, die schrillenden Sirenen, die die bewaffneten Massen zusammenriefen, das nähere oder fernere Schießen. Zuweilen ein Hoffmannscher Flieger in lichter Höhe über München, der eine Wolke von Flugblättern herniederstäubt – wehe denen, die sie aufheben! – und der von Schleißheim her wütend beschossen wird, ein bayerischer Flieger aus bayerischen Geschützen! Dann gibt es ein kurzes Geflüster: Das Reich schickt Hilfe. Die Württemberger kommen. Der Epp ist schon nahe mit so und so viel tausend Mann. – Und wieder tiefes lastendes Schweigen. Mit eiserner Faust weiß die rote Diktatur jede Nachricht niederzudrücken.
Eines Tages in der Türkenstraße sah ich einen Rotgardisten mit gebräuntem tiefernstem Gesicht in der schönen Haltung 615 des Frontsoldaten vor dem angeschlagenen kommunistischen Manifest Posten stehen. Ich bat ihn etwas Platz zu machen, damit ich den Anschlag lesen könne. Er trat höflich zurück, und als ich ihn fragte, ob er mir wohl den Inhalt erklären könne, ich verstünde nichts Politisches, antwortete er bereitwillig aber mit einem leisen Unterton von Vorwurf, wie man etwas so Einfaches nicht verstehen könne: das sei keine Politik, es sei eine neue Religion für die Ärmsten, denen auch einmal geholfen werden solle, und noch einiges mehr von den üblichen Verheißungen die man in allen Blättern las, worauf ich möglichst unschuldig fragte, ob er meine, daß dieser glückliche Zustand jetzt schon nahe sei. Nein, war die Antwort, das könne zehn Jahre dauern (Worte Lenins, die dieser kurz zuvor gesprochen hatte), aber kommen werde es, dann würden die Kinder der Armen glückliche Menschen sein. Und wenn wir Alten, fügte er hinzu, bis dahin nur auch dann und wann einen guten Vortrag gehört haben, so haben wir doch auch etwas gehabt von unserem Leben. – Diese Worte des einfachen Mannes durchschlugen mir das Herz. Ich dachte an die Herrlichkeiten der geistigen Welt, in denen ich von klein auf hatte schwelgen dürfen, und dieser Ärmste, der vier Jahre lang im Schützengraben für uns gekämpft, gelitten, gehungert und vielleicht auch geblutet hatte, verschmachtete nach einem Tropfen geistigen Labsals, bis die Verblender kamen, ihm ihren Gifttrank zu reichen. Das ungeheure Unrecht der Oberschicht an der Unterschicht ging mir auf, das wohl nirgends so groß war wie im Volke der Dichter und Denker, weil sie den Zusammenhang mit dem einfachen Mann hatten abreißen lassen. In meinem Südland hatte es diesen breiten Sprung nicht gegeben, weil 616 die nationale Kultur dort vorzugsweise für das Auge geschaffen hat und ihre Werte allen gehören; der deutsche Geist aber lebte in den Büchern, und der Arbeiter hatte nicht gelernt zu lesen, er hatte für ein Deutschland gekämpft, dessen geistiges Gesicht er nicht einmal kannte. Es ist falsch, wenn man unsere großen Dichter bezichtigt, sie hätten zu hoch geschrieben: keine große Dichtung ist dem einfachen Manne zu hoch, wenn man ihm nicht künstlich die Augen verbindet; auch wo seine geistige Erfahrung nicht mitgehen kann, labt ihn wie unsereinen die Luft der Höhe. Eisner hatte wohl gewußt, warum er im ehemaligen Hoftheater unsere dramatischen Meisterwerke für die Arbeiter aufführen ließ, und wehe den Künstlern, so ließ er verwarnen, wenn sie gemeint hätten, für diese Zuschauer schludern zu dürfen. Hatte ich auch persönlich nicht mitgesündigt, weil ich fern im Ausland lebte, so fühlte ich mich doch für meine Kaste mitverantwortlich, und ich stellte mir vor, es lasse sich vielleicht von dem Versäumten noch etwas nachholen. Ich suchte mit Arbeitern in Berührung zu kommen, ich dachte an so etwas wie Leseabende, aber sie ließen sich auf nichts Gemeinsames ein, und ich sah auch mit Schrecken, daß ihr Denkapparat seit Jahrzehnten rein parlamentarisch eingeschult war und nur mit Schlagworten, Debatten und Abstimmungen arbeiten konnte, wodurch der Boden bis tief hinab versteint war; wie hätte da ein Gedicht von Goethe Wurzel gefaßt? Ich bat den Willigsten unter ihnen, er möchte doch wenigstens dafür eintreten, daß das häßliche Wort Proletarier, das so aufreizend sei und dazu einen rohen Beigeschmack habe, von ihnen selber abgeschafft werde, es sage ja gar nichts aus und sei nicht einmal deutsch sondern Latein, 617 was doch gewiß keiner von ihnen verstehe. Er nahm seinen großen Bleistift und vermerkte in seinem bereitgehaltenen Block »Proletarier«, aber ich sah, daß ihm gar nicht aufgegangen war, was ich meinte. So erscheint es mir heute als eine der größten Errungenschaften, die uns die Neuordnung der Dinge gebracht hat, daß das üble Wort samt seinem Begriff aus dem Sprachschatz verschwunden ist und damit der große Riß durch unser nationales Gefüge geschlossen.
Als die Befreier in München einzogen und die Straßenkämpfe begannen, dachte ich mit Kummer an jenen Rotgardisten und sagte mir, daß dieser Mann gewiß bei der Flucht seiner Führer nicht die rote Binde weggeworfen habe wie die meisten, sondern mit den letzten Verzweifelten ausgehalten bis zum bitteren Ende.
Weil bei der doppelten Blockade die Rationen immer kleiner wurden, verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Kanapee liegend, mit Pelzen zugedeckt, um Kraft zu sparen. Denn zu tun gab es nichts mehr, auch war der Heizstoff beschränkt, und um wie in der Kriegszeit meine anstrengenden papierenen Heizkugeln zu drehen, die so schön die Glut erhielten, waren meine Arme längst zu matt.
In diesem Zustand setzte mich eines Tages ein Brief aus Berlin, der zufällig den Weg hereingefunden hatte, in Bestürzung. Er kam von dem Rektor der Berliner Universität und mahnte mich an eine früher gegebene Zusage, zu einer Gedenkfeier für die gefallenen Studenten dieser Hochschule im Namen der Studentinnen den Trauergesang zu dichten. Während unserer langen Abschnürung hatte ich von der Sache nichts mehr 618 gehört und geglaubt, sie sei aufgegeben. Meinem Wort zu fehlen war mir unleidlich, allein bei meiner großen Entkräftung verbot sich alles Mühen von selbst. Wollte ich meine Gedanken auf den Gegenstand sammeln, so glitten sie wie Nebel durch das geschwächte Hirn und ließen es ebenso leer zurück. So lag ich lange wie hingemäht. Da fiel mir ein, daß von allen Lebensmitteln dem Fisch der meiste Phosphorgehalt nachgesagt wurde, und Phosphor war es augenscheinlich, was meinem Hirn fehlte. Ich stand also auf und schickte mich an, nach einem Fisch zu gehen, den ich auf meinem Gasherd braten wollte; die Fische, wenn es welche gab, bekam man ohne Karten. Da begegnete mir auf der Treppe eine freundliche Wohnungsnachbarin, die sich an meinem Aussehen entsetzte. Ich vertraute ihr an, daß ich eine wichtige Aufgabe übernommen hätte, für die mein Ernährungszustand nicht ausreiche, und daß ich einen Fisch auftreiben wolle um mein ausgeschöpftes Hirn zu stärken; die Freundliche bat mich aber dringend, diesen unzulänglichen Versuch aufzugeben und gleich auf mein Lager zurückzukehren; ein Fisch könne mir bei solcher Unterernährung nicht mehr helfen, da müsse ein Beefsteak her, sie werde mir ein solches beschaffen und selber zubereiten, sobald sie mit ihrer nächsten Klavierstunde fertig sei. Das klang mir so ungefähr als hätte sie mir eine Perle aus der Krone des Maharadscha in Aussicht gestellt, denn ich glaubte gar nicht, daß es solche Dinge wie Beefsteaks überhaupt noch gebe, doch ließ ich mich bereden und kehrte wieder in meine Tatenlosigkeit zurück. Und richtig zur versprochenen Stunde abends sieben Uhr erschien die Gute mit einem verdeckten Teller, aus dem längst vergessene Leckerdüfte strömten, und setzte mir eine zart und saftig 619 gebratene Lendenschnitte nebst kleinen runden Kartöffelchen und den feinsten grünen Büchsenböhnchen als Beigericht vor, einen Dreiklang wie aus fernsten Friedenszeiten, daß ich meinen Sinnen nicht traute. Ich hätte nie zuvor gedacht, daß das Geistige so vom Stofflichen abhängig sein könne, wie ich es jenes Abends an mir selbst erfuhr. Daß ich schon viele Jahre vor dem Krieg völlig fleischlos gelebt hatte und geglaubt, dies auf immer durchführen zu können, kam nicht mehr in Betracht, die Not der Kriegszeit hatte schon längst jedes Gelübde aufgehoben. Jetzt kam ich mir vor wie die Griechen vor Troja, wenn sie die Hände zum lecker bereiteten Mahle erhoben und wieder tüchtig wurden, denn kaum daß die entkräftende Leere ausgefüllt war, kamen auch schon die lange entschlafenen elektrischen Wellen zurück. Nun sprach ich dringlich meinem Nothelfer und Notwender zu, jenem unsichtbaren »Anderen«, ohne den nie eine Zeile aus meiner Feder konnte, daß er mir diese Nacht beistehe, nicht von mir weiche bis zum Morgen, wo die Arbeit getan sein müsse, um die Feier nicht zu versäumen. (Daß diese sich doch noch um Wochen verschob wegen der Unruhen in Berlin, war nicht seine noch meine Schuld.) Ich stellte ihm die Seelennot jener männerlosen Mädchenjugend vor, durch deren Mund er zu sprechen habe: wie sie in den gefallenen Kameraden vielleicht ihre vorbestimmten Gatten und mit diesen die ganze ungesäte Saat der künftigen Geschlechter zu betrauern hätten. Dann die noch größere Not des Vaterlandes, dessen überlebende Söhne, kaum aus dem blutströmenden Schlachthaus heimgekehrt und noch immer von den äußeren Feinden nicht frei, sich in plötzlichem Wahnsinn untereinander zerfleischten, und daß 620 Deutschland, wenn kein Wunder geschehe, als menschenleere, grasumsponnene Wüste zurückbleiben müsse. Er nickte mir Hilfe zu und hielt sein Wort. Am Morgen konnte ich's zu Papier bringen und brauchte nur noch mit Frauenstimme eine Beschwörung in das blutige Chaos zu werfen:
Uns aber laßt vereint zusammenstehen,
Wie sich auch droben unser Los entscheide,
Und laßt uns gütig sein wie Sterbende.
Und eins dem andern seine Wunde lindern
Und eins dem andern seinen Fehl verzeihen,
Daß noch ein Lächeln sei im Untergang
Wie in der Rettung, daß wir würdig doch
Vor euch, ihr toten Brüder, stehen mögen.
*
Um von der Befreiung Münchens zu sprechen muß ich einiges von den Blättern hervorholen, die ich seinerzeit noch während der Ereignisse für die Wiener Neue Freie Presse schrieb. Sie wissen mehr als die verbleichende Erinnerung, denn sie tragen die Farbe der schwer mit Schicksal geladenen Stunde.
Es ist der 1. Mai. In der Frühe hat mir eine Hausgenossin angeklingelt mit dem Ruf: Wissen Sie schon? Heut nacht haben die weißen Truppen gesiegt! Und dazu das gräßliche Nachwort: In der Nacht sind die Geiseln erschossen worden! 621 – Da bin auch ich auf die Straße gestürzt. Unser Schwabing fand ich in tiefer Erregung; noch beherrscht der Rotgardist die Stadt, aber das nahe Ende kündigt sich in Verzweiflungstaten an. Soeben hatte einer an der Ecke der Franz-Josephstraße planlos eine Handgranate unter die Menschen geworfen, die zum Glück keinen Schaden tat, und die Gewehre gehen da und dort von selber los. Die Geiseln erschossen! Nein, nicht erschossen, grauenvoll ermordet. Diese Worte kehren immer wieder in der Menge, die vor Wut fiebert. Die Schneeflocken, die Eiskörner, die umherwirbeln, spürt niemand mehr. Man hört Zahlen, hört Namen nennen, doch keiner weiß Bestimmtes. Und noch ist es gefährlich zu reden. Eben zieht ein junges Mädchen einen Mann am Arme weg: Bedenk, daß du Vater von vier Kindern bist. Aus der verkeilten Gruppe schält sich ein Rotgardist, dem noch ehrerbietig ausgewichen wird. Drei Wochen lang hat der Bürger geschwiegen, er kann noch eine Stunde länger schweigen. An einer Ecke ohrfeigen sich zwei gleichwertige Megären von der roten und weißen Partei. Das Volk ist weniger zurückhaltend als der Gebildete, es läuft auch weniger Gefahr, wenn es seinen Gefühlen den Lauf läßt. Erst ein Plakat des Aktionsausschusses, das den Geiselmord selber als bestialisch verdammt, kann mich von der grauenvollen Wahrheit überzeugen. Damit schwindet jede Hoffnung, daß das Befreiungswerk ohne schweren Aderlaß verlaufe. Was werden die nächsten Stunden bringen?
Nach Tisch falle ich wie so oft in diesen Wochen in einen mir sonst ungewohnten Betäubungsschlaf, der keiner ist, weil die schweren Gedanken weitergehen. Es ist das Zusammenwirken des schleichenden, kaum noch gefühlten 622 Hungers und des ständigen Seelenbruchs, in dem das Hirn noch Gedanken und Phantasiebilder hervorbringt, doch ohne ordnende Kraft.
Ein Klingelzug und der Ruf: Die Weißen ziehen ein! hat mich gegen halb drei aus meinem Dämmerzustand gerissen. Bis ich zur Leopoldstraße kam, war die preußische Infanterie schon vorüber. Eben kamen von der äußeren Schwabinger Landstraße her die Bagagewagen in Sicht, ihnen folgten in kurzem Abstand die Husaren und diesen die Geschütze. Das ist ein Tücherschwenken aus allen Fenstern, ein Gedränge von Menschen auf dem Gehsteig, ein Grüßewinken hinüber und herüber zwischen Befreiern und Befreiten. Eine erlesene Sturmtruppe von prachtvoller Haltung, jeder Mann ein Offizier. Darum geht es auch so ruhig und kameradschaftlich zu ohne Schreien und Kommandieren. Wie schön sind sie unter ihrem Stahlhelm, diese schlanken kriegerischen Gestalten. Ich meine, sie haben sich veredelt, seit man sie nicht mehr gesehen hat. Es sind nicht mehr die wandelnden geometrischen Figuren der Wilhelminischen Zeit. Sie haben eine leichtere freiere Haltung, aber in ihrer Geschlossenheit welch ein Gegensatz zu dem Einherschlenkern der Roten Armee, lauter junge Freiwillige, die ihr Leben für das unsrige einsetzen. Unter ihnen viele Tübinger Studenten, nur eben in die Hörsäle zurückgekehrt, die sie schon aufs neue verließen, um uns zu Hilfe zu eilen. – Schauts nur, daß ihr schön fertig werdets, ruft eine Frau an meiner Seite. – Wir wollen das Kind schon wiegen, antwortet der schmucke Husar. Dafür reicht sie ihm eine Handvoll Zigaretten hinauf, die gerne angenommen werden. Doch nicht alle haben Zigaretten um ihrem Dankgefühl Luft 623 zu machen. Hinter mir drängt sich eine junge Dame durch die Reihen, die Hand voll Einmarkscheine; dann stutzt sie und mustert die feinen Gesichter unter dem Sturmhelm, da ist keines, dem sie sich mit Geld zu nahen wagt. Aber hinter mir sagt eine Männerstimme: Der Tag ist noch nicht zu Ende, es kann auch anders ausgehen. – Ich wende mich um und blicke in ein Gesicht, das einen grimmigen Schmerz verbeißt. Diesem Manne ist heute sein rotes Paradies zusammengestürzt. Daß der Tag nicht zu Ende ist, beweist das wütende Tacken der Maschinengewehre, der rollende Donner über München. Nach der inneren Stadt ist der Weg versperrt, nur von weitem sieht man die blauweiße Fahne von der Residenz und vom Kriegsministerium wehen. Diese wurden schon am Morgen aufgezogen, als wir Schwabinger noch nichts ahnten, denn die Erhebung im Innern war dem Einmarsch der Truppen vorangegangen. Der Geiselmord war das Signal zum Abwerfen der Ketten geworden. In der Frühe hatten sich Haufen von Bürgern nach dem Luitpold-Gymnasium, das von den Mordbuben verlassen war, gedrängt, um die Opfer zu besichtigen. Nach dem gräßlichen Anblick gab es kein Halten mehr, in wachsenden Scharen zog man noch unbewaffnet vor die Residenz, aus der die Führer in der Nacht entflohen waren. Aus den verschmutzten Prunksälen raffte man die aufgestapelten Waffen zusammen, legte weiße Binden um den Arm und bildete so den Anfang der Volkswehr. Im Nu waren die roten Binden aus dem Stadtbild verschwunden. Ein rotes Auto, das in die Ludwigstraße einfuhr, wurde angehalten, ein Insasse, der mit zwei Pistolen in der Hand nach dem Hofgarten entkam, wurde später in einem Haus an der 624 Maximilianstraße als der Kommandant Eglhofer erkannt und erschlagen.
Inzwischen hat sich der konzentrische Einmarsch der Reichstruppen auf allen Zufahrtsstraßen vollzogen: er war erst auf den morgigen Tag geplant, die Nachricht von dem Geiselmord und einem drohenden Überfall auf die waffenlose Bürgerschaft hat ihn um einen Tag beschleunigt. Sie tragen die alte Reichskokarde auf den Mützen und ein Tannenreis; von ihren Autos wehen zum Teil die alten schwarzweißroten Wimpel. Vor der Akademie werden Posten aufgestellt, um die sich Straßengänger versammeln. Es sind blutjunge Bürschlein, Preußen, die von Schleißheim her eingezogen sind. Dort wurde ihnen ein Panzerzug in die Luft gesprengt. Sie hatten ihn aber vorsichtshalber leer vorangeschickt. So gab es nur einen Toten. Ein alter Bürgersmann klopft dem Jüngelchen zärtlich auf die Schulter. Das ist brav von euch, daß ihr da seids, und vorwurfsvoll ruft er in die Versammlung hinein: Immer habt ihr geschimpft über die Preußen, jetzt seid ihr froh an ihnen. Das ist der erste Preuß', den ich seh, sagt ein junges Weib gleichsam entschuldigend. Nun, gefällt er Ihnen? fragte ich. Ja, der gfallt mir wohl, ist die Antwort. Der Gefeierte strahlt über das ganze Gesicht. Und ebenso geht es dem Posten am andern Eck. Er hat Mühe all der Liebe standzuhalten. Der Münchner denkt heute nur an die vertierte Mörderbande vom Luitpold-Gymnasium. Vertiert? O nein, verzeiht mir, Bruder Tiger, Bruder Wolf, ihr habt nie aus Wollust geschlachtet.
2. Mai. Die Kanone hat mich in Schlaf gebrüllt und morgens nach kurzer Ruhepause wieder geweckt. Den ganzen Tag 625 wird mit erneuter Wut gerungen. Der Umkreis von Neuhauserstraße, Karlsplatz, Lenbachplatz und Sendlingertor ist ein Schlachtfeld. Die Rote Armee, von der man annahm, sie würde beim ersten Schuß auseinanderlaufen, wehrt sich mit Verzweiflungswut wie die Nibelungen in dem brennenden Saale. Der deutsche Soldat stellt seinen Mann auch auf der falschen Seite. Von ihren Führern verlassen, setzen sie sich erst hinter dem Kiosk beim Stachus fest, der in Brand geschossen wird, werden von da in die Matthäuskirche, von dieser durch Geschütze in den Reichsadler und in den Justizpalast und andere Großbauten gedrängt. Am Sendlingertorplatz ist zugleich ein anderer Kampf im Gang; ihre Gesamtstärke wurde mir auf dreitausend Mann zuverlässiger Truppen geschätzt und etwa fünftausend Mitläufer, die wohl größtenteils verschwunden sind. Jetzt haben sie Verstärkung erhalten: kriegsgefangene Russen, die den Bahnhof verteidigen. Eine wilde Szene hat sich gestern auf dem Kampfplatz ereignet: vor dem Volkstheater hatten die Spartakisten eine Geschützbespannung zusammengeschossen. Da stürzten sich die hungernden Anwohner ungeachtet des Kugelregens aus den Häusern und schnitten den noch warmen Pferdeleibern das Fleisch aus. Wohin wären wir gekommen, wenn die Befreier länger gezögert hätten?
Auch nach Schwabing herunter hat sich der Kampf gezogen. Wenn ich ausgehe, begleitet mich das Tacken des Maschinengewehrs aus naher Richtung. Man hat sich schon daran gewöhnt und stutzt nicht mehr. Das ist doch offener Krieg, Wut gegen Wut, nicht mehr der Zustand des gefesselten Opfers, das bei jedem Schritt erbebt. Auf der Straße werden 626 Gefangene, die Hände hoch, nach der Wilhelmschule abgeführt. Ein Auto saust vorüber, darin ein schwarzbärtiger Herr, totenblaß. zwischen zwei Soldaten: Ein Maler, heißt es, den man mit zwei Handgranaten auf der Straße gefaßt hat. Ein anderer begegnet mir im Eilschritt, die Hände hoch, zwischen zwei Soldaten. Unglückliche Idealisten, die ihr Leben an eine falsche Sache gesetzt haben. Gegen Mitternacht, da ich eben zu Bett gehen will, öffnet ein Maschinengewehr in nächster Nähe des Hauses den Mund und erhält auch alsbald von der Wilhelmstraße herüber Antwort, und zugleich streicht ein heller Riesenfinger am Himmel hin, der auf unseren Dächern nach dem Ruhestörer sucht.
Am Morgen des dritten ist der Kampf im Stadtinnern beendet. Nur ab und zu noch kracht ein Geschütz herüber. Dagegen ist es in unserer stillen Ainmillerstraße seltsam lebendig geworden. Da ich ans Fenster trete, wird mir von unten zugerufen zu schließen. Gleich darauf beginnt eine feurige Zwiesprache zwischen Fensterschützen und unten postierten Soldaten. Bis über die Mittagszeit hinaus bleibt die Straße abgesperrt. Aus der Franz-Joseph-Straße drüben wird ein aufregender Vorfall bekannt. Dort hatten einige Rotgardisten auf einem Dach ein Maschinengewehr aufgestellt. Zwei von ihnen wurden herabgeschossen, ein dritter auf der Flucht gefaßt und an die Wand gestellt. Der Rest entkam über die Dächer. Am späteren Nachmittag, da die Ruhe anhielt, begab ich mich mit Freund Mohl nach dem Karlsplatz, der von Menschen wimmelte. Da fielen zu unserer Linken ein paar Schüsse von den Dächern. denen andere aus anderer Richtung folgten. Ein Maschinengewehr antwortete. Wir gingen zunächst noch mit 627 der flutenden Menge weiter, und plötzlich war man mitten in einem Feuergefecht. Anhaltend rasselt das Maschinengewehr von rechts und links, vor uns und hinter uns, dann dröhnen die Handgranaten und jetzt fängt alles zu laufen an. Aber die Ausgangsstraßen sind von Truppen gesperrt; wo wir durchwollen, heißt es: Zurück! Glücklich glaubten wir schon durch die Karlsstraße entronnen zu sein, da entwickelt sich zwischen Lenbach- und Maximiliansplatz hart vor uns ein lebhaftes Duell zwischen einem Dachfensterschützen, dessen Kopf zuweilen hinterm Vorhang sichtbar wird, und einem in der Ottostraße aufgestellten Doppelposten. Tief hat sich mir das Bild der zwei Wackeren eingeprägt, wie sie ohne Deckung, breitbeinig, mitten in der Straße stehen und in voller Ruhe zielen. Wir sehen unter einem Haustor eine Weile zu und suchen dann während einer kurzen Pause an dem Posten vorbeizukommen. Allein wir werden abermals zurückgeschickt. Die Verlegenheit ist groß, weil in unserem Schwabing als einem Herd des Spartakismus nach sieben Uhr jeder Straßengänger unter Feuer genommen wird; der Zeiger rückt immer weiter dieser Stunde zu. Endlich scheint der Fall erledigt, und nun läßt uns der Posten durch, daß wir nach langem atemlosem Rennen, denn die Füße sind das einzige Verkehrsmittel, noch rechtzeitig unser Viertel erreichen.
Am vierten ist endlich der schwere Sieg vollständig. Was sich heute bei wechselndem Sonnenschein und Frühlingsregen an Menschenmassen auf der Straße befindet, das übersteigt alle Vorstellung, die ich mir von Münchens Einwohnerzahl gemacht. Zwischen Lenbachplatz und Sendlingertor, wo der Kampf am wildesten getobt hat, ist das Gedränge so, daß man 628 sich buchstäblich durchwinden muß. Dabei berührt es eigen, wie heute zum erstenmal die gänzlich aus dem Stadtbild verschwundene Bügelfalte wieder von allen Seiten aufgetaucht ist. Die erste Spur des Kampfes finden wir am Wittelsbacherbrunnen: dem Stier, der auch sonst Kugeln erhalten hat, ist eine Hornspitze abgeschossen, am Nornenbrunnen liegt ein niedergeschossener Baum, der Justizpalast ist von Einschlägen wie gesprenkelt, der Matthäuskirchturm hat ein gewaltiges Loch, und so geht es weiter, von all den kleineren Schäden nicht zu reden. Aber was sind diese gegen die Verluste an Menschenleben? Die Soldaten, die in Berlin mitgekämpft haben, sagen alle, so wild und verzweifelt sei es auch dort nicht hergegangen. Eine Dame aus Petersburg, die Krieg und Bolschewismus mitgemacht hat, versicherte mir, sie habe niemals so Schreckliches erlebt wie die Münchner Schlachttage in ihrer gerade in der Kampfzone gelegenen Pension. Und jetzt das Nachspiel voll Blut und Tränen, über das der Schleier fallen mag. Die gerettete Bürgerschaft gibt sich dem Gefühl des Sieges hin, aber er läßt München als eine Stätte der Trauer zurück, wo noch wochenlang die Drahtverhaue und die spanischen Reiter in den Straßen an die Kampftage erinnern und wo der Fuß in Blut zu treten fürchtet.
Als nach dem Abenteuer der Räterepublik und seinem blutigen Ausgang sich endlich der Blick von dem örtlichen Schauplatz wieder dem großen Weltgeschehen zuwandte, da war das Letzte gekommen. Die Mächte der Unterwelt hatten am grünen Tisch über Deutschland das Los geworfen und die Götterdämmerung heraufgeführt: den Versailler Frieden.
629 Aus der Geschichte des Altertums wußte ich, daß es Rechtens war, das unterlegene Volk teils auszurotten, teils zu versklaven. Zweitausend Jahre Christentum hatten nicht das Ziel verändert nur das Verfahren. Die brutale Gewalt konnte nicht mehr in nackter Unschuld einhergehen, sie brauchte jetzt die Völkermoral zum Mantel. Erst mußte sich der Besiegte auf der Tortur schuldig bekennen, bevor ihm sein Urteil gesprochen wurde. Daß man von einem Gefesselten mit dem Strick um den Hals jede Unterschrift erpressen kann, ist nicht verwunderlich. Was ich aber nie verstanden habe und nie verstehen werde, das war, daß zu den Verwünschungen der ganzen Welt, die auf den Unterlegenen hereinbrachen, sich bald auch Deutsche selber in wachsender Anzahl freiwillig an die Brust schlugen und in das erzwungene mea culpa einstimmten und selber nach Buße schrien. Ja, hatte ich denn geträumt als ich seinerzeit, von außen kommend, meine friedeseligen Landsleute vergebens vor der uns drohenden Todesumschlingung warnte? Hatten meine Freunde geträumt, als sie im Ausland ähnliches wie ich erlebten? Mochten sich die Regierungen in die Verantwortung teilen, unser Volk war ohne Schuld. »Parmi les peuples du monde tu es le peuple juste« – diese Gerechtigkeit hat ihm ehedem ein unverdächtiger Zeuge widerfahren lassen, und sie gilt noch immer, denn im tiefsten Grunde verändern sich die Völker nicht. Ja, die Selbstanklagen, so würdelos und verkehrt sie waren, bewiesen nur abermals das Streben des Deutschen nach Unparteilichkeit.
Jammervoll war alles, was jetzt das Auge zu sehen bekam. Dem tapfersten Kriegsmann der Weltgeschichte wurde wie 630 einem Feigling und Verräter das Schwert zerbrochen vor die Füße geworfen, dessen Spitze jahrelang siebenundzwanzig Feindvölker von unseren Grenzen ferngehalten hatte. Da lag es nun entehrt und zerstückt im Staube. Wann würde der junge Siegfried kommen, der die Stücke aufhob als sein Vatererbe und sie neu und stärker zusammenschweißte? Die es geführt hatten, galten nichts mehr, sie mußten sehen, wo sie unterkamen. Denn jetzt kroch der Drückeberger aus seiner Ecke hervor und forderte den leergewordenen Platz des Helden, er war jetzt der Mann des Tages. Während der Feindbund unersättlich Tag um Tag dem deutschen Volk den letzten Blutstropfen auspreßte und unsere eigenen Schieber sich an der rechtzeitig errafften Beute gütlich taten, konnte man Kriegskinder zu Skeletten abgezehrt mit den Hunden sich um die Küchenabfälle balgen sehen. Denn der neue Bethlehemitische Kindermord, den die Entente wohl überlegt ins Werk setzte, ging weiter. Und der Mann des Volks, durch Ideologien verblendet, wandte sich ab von dem geschändeten Vaterland: als Thole einige gerettete Maschinengewehre in einen Neubau hatte einmauern lassen, verrieten ihn seine eigenen Arbeiter an die Interalliierte Kontrollkommission. Die Allgemeinheit, entblutet und zermürbt, ließ die Dinge gehen und wehrte sich nicht mehr; viele von den Älteren starben ja noch nachträglich an der Entkräftung. Die Jungen, nach der langen Unterdrückung aller natürlichen Triebe, flammten in einer rasenden Lebensgier auf, für sie gab es nur noch Liebeln, Tanzen, Rauchen – das letztere gegen den noch immer nicht gestillten Hunger. Wies man die Entfesselten auf die Not des Vaterlandes hin, so war die Antwort: Ich bin jung, ich will leben. Ach, 631 waren jene begeisterten Knaben, die sich 1914 mit Gesang in den Kugelregen stürzten, nicht schöner jung? Die Tanzwut wurde allgemein wie in der französischen Revolution, Tanzmusik wohin man hörte, als ob das Leben ein Fest geworden wäre. die Soldaten in den Kasernen rissen die alten Scheuerweiber von den Kübeln weg, um mit ihnen herumzuwirbeln. So tanzte sich die deutsche Jugend bacchantisch in Deutschlands Schmach und Todesfrieden hinein. 632