Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Fünftes Kapitel

Noch einmal die Jugendstadt

Als ich im Jahr 1918, kurz vor dem Zusammenbruch Deutschlands, die Denkwürdigkeiten »Aus meinem Jugendland« schrieb, da lag über jenen frühen Tagen in meiner Erinnerung ein Schein, der nur um so goldener aus der rings umgebenden, noch von ihren letzten Vernichtungsblitzen durchzuckten Weltnacht glänzte. Ich hatte keineswegs die Absicht, meine Frühzeit erschöpfend zu schildern, sondern nur aus dem farbigen Bilderbuch meiner Jugend bald dieses, bald jenes bedeutsamere Blatt herauszunehmen, das außer mir nur noch wenige kannten und das ein paar Jahre später ich selber nicht mehr imstande gewesen wäre, mit Sicherheit in meiner Erinnerung wiederherzustellen. Weislich nannte ich das Buch »Aus meinem Jugendland«, um anzudeuten, daß es nicht das Ganze, sondern nur ein Ausschnitt war, und ich hatte mir dazu die lichtesten, farbenfrohsten Stücke ausgesucht; die dunklen, leidvollen ließ ich versinken: ich hatte für meinen Zweck nicht nötig, ihren nachwirkenden Spuren in meinem Schicksal nachzugehen. Wer dieses sonnige Gegenstück nicht kennt, 113 wird geneigt sein, einen Lebensmorgen, wie ich ihn auf den vorangegangenen Blättern dargestellt habe, für etwas sehr Beklagenswertes zu halten; wer es kennt, dürfte sich vielmehr über den Widerspruch der Auffassungen verwundern. Und doch sind beide Bilder wahr, das sonnige und das düstere, sie waren sogar gleichzeitig vorhanden und lagen so übereinandergeschichtet, Gewitterhimmel und Sonnenlandschaft, daß eines durch das andere hindurchschien. Nur daß ich in meiner Darstellung die Schatten lichtete, besonders die unbegreiflichen, über dem Verhältnis des Kindes zu dem umgebenden Spießertum lastenden. Bei Abfassung des Buches stand mir ja mein Jugendfreund Ernst von Mohl, der nach vierzigjähriger Trennung als geadelter russischer Staatsrat zurückgekehrt war, mit seinem vorzüglichen Gedächtnis zur Seite. Ich habe diesem Treuesten der Treuen, dessen Leben sich auch aus der weitesten Ferne durch alle die Jahrzehnte wie ein immer frischer Kranz um das meinige schlang, ein eigenes Büchlein »Ein Genie der Liebe« gewidmet, daher auf diesen Blättern nicht mehr viel von ihm die Rede sein kann, weil alles schon gesagt ist. Unter der wärmenden Bestrahlung dieses liebenden Herzens wandelte sich alles gemeinsam Erlebte ins Festlich-Fröhliche: ihm war es für immer der Höhepunkt seines Daseins und eine heilig-schöne Erinnerung. Es hätte ihn geschmerzt, aus meiner Feder zu lesen, wieviel Bitteres für mich mit den ihm so strahlenden Tagen verknüpft war. Vor allem aber war, was mir einst Leides geschehen, längst schon ehrenvoll gesühnt. 1913, zu der glänzenden Hundertjahrfeier meines Vaters in Stuttgart, für die ich den Prolog dichtete, hatte Tübingens philosophische Fakultät ihren Dekan, den 114 Literaturforscher und Herausgeber der Werke meines Vaters, Hermann Fischer, dorthin entsandt, mir feierlich in Gegenwart des Königspaares das Doktordiplom honoris causa als erster Frau, der von dieser strengen Stelle her solche Ehre widerfuhr, zu überreichen. Die Dinge waren völlig verschoben. Meine Widersacher und Widersacherinnen waren tot, vergessen, zum Teil wohl auch bekehrt, weil die Zeitentwicklung längst die Wege ging, auf denen man zuvor nur mich gesehen hatte. Dem Frauenstudium standen alle Hörsäle offen, Körperpflege, Körperübungen waren nicht mehr verfehmte, vom Bösen eingegebene Dinge, sie galten als schmückende Vorzüge, bevor sie gar wie heute zu einem Pflichtfach der Erziehung wurden. Aus meiner Jugendstadt kamen mir nur noch Zeichen liebenden Verstehens und Erinnerns. Sie kamen häufig von den Kindern gerade solcher, die mich in meiner Jugend verfolgt und verketzert hatten, und von mehr als einer Seite wurde mir versichert, daß man die eigenen Kinder ganz in meinem Sinn erziehen lasse.

Es könnte demnach kleinlich erscheinen, wenn ich trotz der mir zuteil gewordenen reichen Vergütung noch einmal auf das alte Mißverhältnis zu reden komme, das meine Kinder- und Jungmädchentage getrübt hat. Aber ich habe jetzt, wie schon gesagt, nicht mehr mit Personen zu tun, nur noch mit den Zeit- und Gedankenmächten, die mein inneres und äußeres Schicksal beeinflußt haben, und unter diesen war doch keine so nachwirkend wie der Kleinkrieg, den eine ganze Stadt gegen mich führte, vom Gemeinderat bis zur Gassenjugend herunter. Niemand, der die Kindesseele kennt, wird glauben, daß Wunden, wie sie damals dem jungen Herzen beigebracht 115 wurden, spurlos vernarbt wären. Zurückhaltende Miene gegenüber der Außenwelt war die dauernde Folge: man mußte mich suchen, ich suchte niemand. Um dem Philistertum keinen Triumph über mich zu gönnen, preßte ich meinen zornigen Schmerz so tief in mich hinab, daß er zu mir selber nicht mehr sprechen konnte. Allein im untersten Grund verkrampfte sich etwas, das auf das seelische Gefüge einwirkte, so daß ich nicht leicht an ein unmittelbares, unbefangenes Wohlwollen vom Menschen zum Menschen glaubte und daß es immerdar der stärksten Proben bedurfte, um mir zu beweisen, daß ich wirklich geliebt war; zarte, scheue Neigungen blieben übersehen. So konnte sich nachmals wiederholt der gewiß ungewöhnliche Fall ereignen, daß ein Zug des Herzens, der in der Jugend den Weg zu mir nicht hatte finden können, sich plötzlich nach Jahrzehnten, sogar nach einem halben Jahrhundert, wie aus der Ewigkeit herüber offenbarte.

An alle die Seelennot zurückdenkend, durch die ich gegangen bin, möchte mir zumute werden wie dem Reiter über den Bodensee. Aber der Goldschaum der Frühzeit, der damals alle Dinge überkleidete, ist ja ebensogut dagewesen. So sei, bevor ich weitergehe, auch von dieser Stelle aus noch einmal ein Blick auf das Fest der Jugend im Elternhause geworfen, damit die gerechte Waage gleich stehe zwischen Freude und Leid.

Die Jugend gab in unserem Hause den Ton an, denn es war alles Jugend: die Kinder, deren junge Freunde, die kleine bewegliche Mutter obenan; der ernste Vater ging nur zuweilen gütig lächelnd durch den Raum. Bücher wurden gelebt, nicht gelesen, und mit glühenden Wangen umstritten wie Gegenwärtiges. Verse wurden gemacht, von den einen witzige, 116 von den andern gefühlvolle, aber alles auf den Augenblick bezogen, der davon reich und vielfältig wurde. Ein besonderer Sport war das Rätselraten. Gelegentlich stellten die jungen Leute eine Art Treibjagen auf mich an, wer mich mit dem kniffligsten finge, denn ich stand im Ruf, sie alle im Handumdrehen zu lösen. Wieso mir das geriet, weiß ich nicht, vermutlich weil ich mehr Lust und Zeit für Allotria hatte als die männliche Jugend. Im Grunde war alles Allotria, was wir trieben, war Spiel und geistiger Wildwuchs, ohne eine Spur von Intellektualismus, aber die geistigen Kräfte wurden doch geschärft, und der Ernst stand im Hintergrund in Gestalt philosophischer, politischer, sozialer Fragen, die letzteren noch völlig embryonal, nur erst geahnt. Daß meine Ausbildung auf diesem Wege lückenhaft und dauernder Nachbesserung bedürftig bleiben mußte, liegt auf der Hand. Dennoch war, was den Brüdern ordnungsmäßig in der Schule geboten wurde, in mancher Hinsicht arm dagegen. Unlängst fiel mir ein frühes Kollegheft Edgars in die Hände, worin er eine Vorlesung über Sappho nachgeschrieben hatte, die in ihrer gedrängten Kürze gut war. Das veranlaßte mich, den Artikel Sappho im »Pauly« nachzulesen, und ich staunte nicht wenig, als ich besagtes Kolleg darin Wort für Wort wiederfand. Der Professor hatte sich 's leicht gemacht und seinen Schülern jahraus jahrein, ohne nur den Satzbau zu ändern, ein Stück aus der »Realencyklopädie der Altertumswissenschaften« vorgelesen.

Wer damals unser Haus betrat, der atmete eine so von Jugend durchduftete, zugleich von allen geistigen Keimen geschwängerte, von Erdenschwere befreite Luft, daß manchem 117 solches Fernsein vom Alltag lebenslang einen Glanzpunkt seiner Erinnerung bedeutete. Kleines mit Größtem vergleichend, muß ich an den Vers eines neulateinischen Dichters über das Haus der Mediceer denken: Orbis terrae instar quod domus una fuit. So fühlten wir uns unbewußt mit unserer Verflochtenheit und unseren Gegensätzlichkeiten als ein Abbild der Welt im Kleinen. Ich durfte mich als Mittelpunkt empfinden, an den sich alle wandten und auf den sich alles bezog, wenn ich auch noch kein eigenes Eckchen im Hause besaß, an dem ich meine Übersetzungen fördern konnte, sondern im größten Durcheinander arbeiten mußte.

Ich genoß eine Freiheit, wie keine andere sie haben konnte oder sich auch nur gewünscht hätte. Ich konnte schlechthin tun und lassen, was ich wollte, und kannte nur inneres, kein äußeres Verbot. Aufs tiefste danke ich es meiner Mutter, daß sie mich trotz ihrer Ängstlichkeit nie an der Bewegung verhinderte; sie hatte die geheime Vorstellung, daß ich irgendwie gefeit sei. Wenn Edgar mich auf meinen Ritten begleitete, bebte sie nicht für die Tochter, sondern für den Sohn, für den sie seit der Geburt gebebt hatte, weil ihr immerdar eine Ahnung sagte, daß sie ihn werde einmal verlieren müssen. Mein Dabei sein war ihr eher beruhigend, als ob das Glück, das sie mir zuschrieb, übertragbar wäre. Welchen Lebensgewinn durch unverlierbare Eindrücke brachten mir diese Ritte in morgendlich dampfenden Wäldern, wo die Vögel eben erwacht waren, oder durch nächtliche, schlaftrunkene Schwarzwaldtäler, wo nichts hörbar war als der Hufschlag unserer Pferde. Ein langaufgeschossener Theologe, Freund Julius Hartmann, pflegte das Geschwisterpaar zu begleiten und erlebte mit uns heitere und 118 bedenkliche Abenteuer. Gelegentlich flog aus einer Dorfgasse ein Stein nach mir, wodurch die aufgestörte ländliche Seele gegen das niegesehene Schauspiel einer Dame zu Pferd Verwahrung einlegte. Ein andermal – es war an einem Sonntagvormittag – empfanden die Herren angesichts eines großen Dorfwirtshauses plötzlichen Durst nach einem Bügeltrunk, und während dieser gereicht wurde, sammelte sich eine Kinderschar gaffend um mein Pferd, und von Gasse zu Gasse, wodurch ich geritten war, ging der Ruf: D'Keeniche! D'Keeniche kommt! D'Keeniche isch do! Ich spielte mit Anstand meine Rolle als Königin, rief die Dorfkinder heran, fragte, ob sie auch fleißig seien in der Schule, was sie lernten, und trug ihnen leutselig Grüße an ihre Eltern auf. Gewiß habe ich durch meine Herablassung an jenem Morgen viele ländliche Herzen auf lange Zeit glücklich gemacht; so leicht haben es die Großen der Erde, um sich her Freude zu verbreiten. Bloß eines fehlte bei diesen Gelegenheiten zu meinem vollen Glück: die Pferde waren kein edles Blut, mit dem man in persönliche Beziehung treten konnte, nur abgestumpfte Mietgäule, worauf jeden Tag ein anderer saß. Ich aber ritt so halb und halb ein Traumpferd, denn ein Jugendfreund meiner Mutter, ein Baron Rantzau, der Oberstallmeister des Königs war, hatte einmal gegen diese geäußert, daß es ihm leicht wäre, vom König das Geschenk eines Pferdes für mich zu erlangen, wenn ich es füttern könnte. Ach, ich konnte mit meinen kleinen literarischen Einnahmen kaum noch mich selber füttern, bloß meine Kleidung und andere Sonderausgaben bestreiten, aber gleichviel, ich besaß es nun doch innerlich. Ich wählte es mir schwarz, weil ich blond war, nannte es Luzifer, und es war das Pferd des Königs. – 119 Anders war es dann, wenn ich neben dem Universitätsstallmeister Haffner auf seinem herrlichen arabischen Fuchshengst, dem edlen Abdel Kerim, saß, der mein Seelenfreund geworden war. Dann war es ein schul- und stilgerechtes Reiten auf einem Tier, das seiner Edelzucht bewußt war und ihr Ehre machte. Wenn der schöne Goldfuchs mit mir durch die Straßen tänzelte und Funken aus dem Pflaster schlug, so ergrimmte das damalige Stadtoberhaupt, hinter dem vermutlich ein Stück Weiblichkeit stand, und ersann mir irgendeine amtliche Schererei, gegen die mir unser Hauswirt, der Pole Genschowsky, Konditor und Gemeinderat, ritterlich beistand. Den Abdel Kerim aber nahm ich im Herzen noch über die Grenzen des Vaterlandes hinüber mit und hörte nicht auf, mich nach dem vierbeinigen Freunde zu erkundigen, solange ich noch mit Tübingen in Beziehungen stand. Ob ich nicht am Ende doch ein glückliches Kind und junges Mädchen gewesen bin, ohne es zu wissen?

An unseren jungen Hausfreunden verübte ich in übermütigen Stunden manchen Mutwillen. So lud ich bald den einen, bald den anderen durch anonyme Liebesbriefchen – gefährliche Fallen für Leichtgläubigkeit und Eitelkeit – zu irgendeinem unerreichbaren Stelldichein; ein Spiel, dessen sich dann meine Brüder in wilderer Form bemächtigten, um manchen harmlosen Biedermann durch geheimnisvolle Liebeserklärungen in sonderbare Abenteuer zu treiben. Am ausgesuchtesten setzte ich dem Begünstigten meiner Mutter zu, um ihn für den langen Druck einer unwillkommenen Werbung zu strafen. Er war ein Mensch von untadeligem Charakter und reinstem Streben, nur etwas unbeweglich und auf harmlose Weise ein klein 120 wenig selbstgefällig, weil er sich eines weiteren Gesichtskreises bewußt sein durfte, als ihn der Durchschnitt der studentischen Jugend besaß. Er hatte mir wiederholt von einer französischen Dame erzählt, deren Bekanntschaft er auswärts gemacht hatte, und er gab dabei zu verstehen, daß es nur von ihm abhänge, in nähere Beziehungen zu ihr zu treten. Ich ließ ihm nun aus der Stadt, wo er sie kennengelernt hatte, ein beziehungsreiches französisches Brieflein zukommen, auf rosa Papier, ohne Unterschrift (weil ich ja den Namen nicht wußte), und sprach darin den Wunsch nach Wiederbegegnung in einem bekannten Hotel jener Stadt aus. Er kam mit strahlendem Gesicht, mir das Brieflein zu zeigen. Ich stellte mich ungläubig, äußerte die Vermutung, daß sich jemand einen Scherz erlaubt habe, was er nicht gelten ließ: weshalb sollte es denn nicht wahr sein, daß er einen Eindruck auf die Dame gemacht? Je mehr Zweifel ich äußerte, desto fester wurde er in seinem Glauben, wies auf Stellen des Briefes hin, die sich auf ein gemeinsames Gespräch bezogen (er selber hatte mir dieses Gespräch erzählt), und überdies versicherte er, daß in seiner ganzen Bekanntschaft niemand ein so gewandtes Französisch schreibe. Nun stellte ich mich überzeugt und riet ihm die Reise zu machen. Das aber wies er zurück, weil es nicht in seinen Lebensplan passe. Mehrere Tage dauerte das Spiel, bis Mama, die zwar versprochen hatte zu schweigen, es nicht mehr länger ertrug ihren Schützling eine unglückliche Rolle spielen zu sehen, ihm den Sachverhalt verriet und nun beide im Einverständnis versicherten, er habe den Trug von Anfang an durchschaut und mir nur den Spaß nicht verderben wollen. Ich lachte und ließ es dabei bewenden, denn ich wußte 121 Bescheid. Guter, vortrefflicher Freund! Er hat mir weder sein langes vergebliches Warten noch die kleinen Krällchen, die er gelegentlich zu spüren bekam, je verargt, sondern mir, solange er lebte, unermüdlich die treuste, feurigste Ergebenheit bezeugt. Ich darf es überhaupt als großen Posten auf meiner Habenseite buchen, daß von all den jungen Herzen, die sich mir näherten, wenn ich ihnen auch nicht anders als durch schwesterliche Zuneigung vergelten konnte, doch keines jemals ganz sich von mir abwandte, sondern alle ihre Anhänglichkeit in das spätere Leben mit hinübernahmen, ja mehr als einer sie auf Kind und Kindeskind vererbte, wovon mir im langen Lauf der Jahre manches rührende Zeichen zukam. Hätte ich damals wählen können, so wie es bürgerliche Klugheit von allen Seiten riet, so würde ich mir unendliche Drangsal meines späteren Lebensganges erspart haben. Aber ich hatte einen untrüglichen Warnegeist, der mich anstieß, so oft ich in Gefahr war, einem Drängen von außen nachzugeben, und das spätere Leben hat die Warnungen von Fall zu Fall bestätigt. Mich verlangte nicht nach Geborgensein, nicht einmal nach dem landläufigen »Glücklichwerden«. Ich wollte mich selber erfüllen bis zur letzten Möglichkeit, sei es durch Freude, sei es durch Leid. Daß mir bei dieser Bereitschaft das Schicksal mehr von dem letzteren zuteilte, darf mich nicht wundernehmen. Meiner Mutter selber, so leidenschaftlich sie mich zu verheiraten strebte, ging es dabei auch nicht um die Versorgung, ein Wort, das sie ebenso verabscheute wie ich; sie wollte nur den von ihr Vorgezogenen für seine Übereinstimmung mit ihren politischen und philosophischen Anschauungen durch die Hand ihrer Tochter belohnen. – Wir Kurzischen waren samt und sonders keine 122 Erwachsenen im heutigen Sinn: wir waren wie die Dinge der Natur, denen nach Rilke »ewige Kindheit glückt«. Der Mutter glückte sie noch am allerbesten. – Ich sah einmal ein armes Schwälblein sich in einer großen Glasveranda verfliegen und durch alle Scheiben, zu denen Wald und Wiesen hereinsahen, gewaltsam den Ausweg suchen, bis es zerschlagen, ohnmächtig zu Boden fiel –, so ähnlich wäre mein Schicksal gewesen, wenn ich damals oder später den Ratschlägen der bürgerlichen Klugheit Raum gegeben hätte.

 

So lebte sich's in meinem Elternhause um mindestens zwei Zeitgeschlechter der Zeit voraus, aber in einer inneren Kindheit, die keiner Zeit angehörte; ohne Zwecksetzung, ohne Zukunftssorgen, ganz wie die Lilien auf dem Felde in die salomonische Herrlichkeit der Jugend gekleidet. In Kameradschaft mit dem männlichen Geschlecht und fast ohne Kenntnis des eigenen, wußte ich auch kaum von den Vorurteilen, die ich durch mein Dasein verletzte. Aber sobald ich den Fuß auf die Straße setzte, war ich in Feindesland. Warum war nur alles so aufreizend, was ich tat oder ließ, daß sich, wo immer ich erschien, alsbald Märchen um mich spannen, die mich in die Nähe mittelalterlichen Hexenwahns stellten? Es war ja nicht das Studium der klassischen Sprachen allein, was mir die Verfehmung zuzog: in der Stadt lebte ein anderes junges Mädchen, das bei seinem Vater, einem Gymnasialprofessor, Latein und Griechisch trieb und dem die Abweichung von der Norm niemand übelnahm. Auch das Reiten kann trotz dem Anstoß, den es erregte, nicht dafür herangezogen werden, denn der Haß ging viel weiter, ging bis auf meine Kindertage 123 zurück. Aus welchem dunklen Urgrund stieg die fast tragische Dichtigkeit auf, die ein so junges, kaum aus dem Ei geschlüpftes, unschuldiges Wesen umgab, daß es für die dumpfen Gôgenköpfe »der unteren« Stadt und für die engen kleinbürgerlichen der »oberen« fast wie eine Erfindung des Satans, eine heidnische Verlockung, wenn nicht gar als eine Gefahr für das Gemeinwesen umherging? Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß dieses Heiden- oder Hexenkind im Fall einer öffentlichen Kalamität – sei es ein Mißwachs oder ein Viehsterben – abergläubischer Pöbelwut hätte zum Opfer fallen können.

Erst jetzt aus der großen Zeitenferne kann ich das Geheimnis vollends ganz entziffern: daß alle die Feindschaft ja gar nicht mir, meiner eigenen unflüggen Person gelten konnte, sondern der auf eine höhere und freiere Menschlichkeit gerichteten Weltanschauung meiner Eltern. Aber jene westen in einer unsichtbaren Gedankenwelt, ich war deren sichtbare Erscheinung, das leibhaft gewordene Symbol, und Symbole zerschlägt man, wenn, was sie ausdrücken, unschädlich gemacht werden soll. Aller Haß und alle Liebe floß aus dieser Quelle; lauter, unsinniger Haß und eine häufig stumme aber dauernde Liebe. Der von der studierenden Jugend eine poetische Ader hatte, der brachte mich, meine Griechenverehrung, meinen Schönheitskult in Verbindung mit der Welt Hölderlins, der auf unserem Friedhof schlief, nur von Auserlesenen besucht. Von unbekannten Händen kamen Blumengrüße und Gedichte, die mich an die Stelle der Diotima setzten. Auch ihnen war ich Symbol, das Symbol des alten Kampfes zwischen Hellenen und Barbaren.

124 Indes ich diese Worte schreibe, steigt eine beklagenswerte Gestalt in meiner Erinnerung auf. Es war ein junger Mensch, der sich in einem schwärmerischen, von seltsamen Versen begleiteten Brief an meinen Vater wandte mit der Bitte, unser Haus besuchen und seine Tochter im Griechischen unterrichten zu dürfen. Ich sehe noch meinen Vater, wie er den Brief auf den Familientisch legt und lächelnd sagt: Da seht ihr zu, was ihr mit ihm machen wollt. Der schlimme Alfred bemächtigte sich gleich der Verse, um sie mit Emphase vorzulesen, weil sie Wasser auf seine Mühle waren. Die überschwenglichen Prädikate, die mir in Vers und Prosa beigelegt waren und sich zu der Bezeichnung die »Blauseidene« verstiegen – ein kühn gefundenes Wort, weil ich gar kein blauseidenes Kleid besaß –, gaben ihm ein willkommenes Stichblatt, mit dem er mich wieder einmal eine Zeitlang grimmig lachend verfolgen konnte.

Der Jüngling durfte kommen, denn ich sehnte mich nach der Sprache meiner Götter, die mir damals noch unbekannt war. Allein der Arme erregte gleich durch sein zerwühltes Aussehen und seine starren Blicke ein peinliches Bedauern, daß auch Alfred die schlechten Witze vergingen. Er war der Sohn einer altangesehenen Theologenfamilie, die einen poetischen Einschlag hatte, was bei schwäbischen Pfarrern keine Seltenheit war. Eine vielleicht zu engherzige religiöse Erziehung mochte ihn in Gewissenszwiespalt mit den Mächten der irdischen Natur gebracht haben, wodurch er in religiöse Zweifel und Wahnvorstellungen stürzte. Die Folge war ein Selbstmordversuch, wovon er die schauerlichen Spuren an den Handgelenken trug. Meine Brüder nahmen sich seiner an und suchten seine 125 philosophische Unruhe mit ihren jungen naturwissenschaftlichen Waffen zu bekämpfen. Mir schrieb er lange, von Geisteszerrüttung eingegebene Briefe, worin er Gott seinen ärgsten Feind nannte und sich vermaß, mit der Schönheit durch die Hölle zu tanzen. Sein Wesen wurde mehr und mehr unheimlich. Von Griechisch war natürlich keine Rede, und die Brüder gaben wohl acht, ihn nie mit Mutter und Schwester allein zu lassen. Eines Abends aber bereitete er uns einen heftigen Schrecken. Die Brüder waren früher als sonst ausgegangen, der Vater wohnte ein Stockwerk höher und teilte unsere Mahlzeiten nicht, daher saßen wir beiden Frauen allein an dem eben abgespeisten Tisch. Absperrbare Gangtüren gab es damals nicht im Hause, ein Klopfen an der Tür, und der Besuch stand im Zimmer. Er benützte die Gelegenheit, mir in einer langen, offenbar vorbereiteten aber durcheinandergekommenen Rede zitternd und stammelnd Herz und Hand anzutragen. Obgleich tödlich erschrocken, fand ich doch, da er beim Reden zu Boden blickte, die Möglichkeit, mit schnellem Griff alles Schneidende und Stechende vom Tisch zu entfernen, und antwortete mit gleichfalls vielen, möglichst verschwommenen Worten ungefähr im Sinne des philosophischen Eros, während ich von Mama, die in kritischen Momenten die Fassung zu verlieren pflegte und wie entgeistert dasaß, umsonst Verstärkung erhoffte. Der Ärmste ging auf die Tonart ein, fragte aber beklemmt, ob man denn eine so unfaßbare, ganz ins Gedankliche verflüchtigte Sache überhaupt noch Liebe nennen könne. Ich hakte schnell wieder ein: Was liegt am Namen? – und verbreitete mich über dieses neue Thema mit einer mir selber unbegreiflichen Suada, während mir die Angst im 126 Nacken saß. Gerade zur rechten Zeit kam, wie von einem guten Geist geführt, Edgar zurück. Er übersah sofort die Lage, bemächtigte sich scherzend des Unglücklichen, der bei seiner Berührung willenlos wurde und sich von ihm zu einem langen Abendspaziergang fortführen ließ. Unterwegs nahm er ihm das Versprechen ab, andern Tages die Musenstadt verlassen und nach Hause zurückkehren zu wollen; er selber würde ihn eine Strecke weit zu Fuß begleiten. Er holte ihn auch wirklich am nächsten Vormittag in Gesellschaft eines anderen Freundes ab, und die beiden brachten ihn auf den Weg nach dem Schönbuch. Er schwenkte jedoch von der Straße ab und begab sich in ein befreundetes Pfarrhaus, wo er der Tochter gleichfalls sein heimatloses Herz antrug und von dieser gleichfalls mit guten beschwichtigenden Worten entlassen wurde. Aber sein Geschick war nicht zu wenden; ein paar Jahre später hörte man, daß er seinen tragischen Vorsatz doch noch wahr gemacht hatte. Es war dies einer der Fälle, wo Wahnsinn oder Halbwahnsinn, wenn er in meine Nähe kam, sich magisch zu mir gezogen fühlte, ob Verwandtschaft oder Heilung suchend, weiß ich nicht.

 

Auch in meinem eigenen, mir abholden Geschlecht gab es freundliche Ausnahmen. In unserer Nachbarschaft wohnte ein schönes, wohl zehn Jahre älteres Mädchen, das mir immer, wenn ich am Hause vorbeiging, von ihrem hohen Fenster mit den Augen folgte. Gewohnt, in solchen Blicken wenig Wohlwollen zu lesen, zählte ich auch sie im stillen zu meinen Widersacherinnen. Da trafen wir uns eines Abends bei einer verarmten italienischen Gräfin zu gemeinsamem Unterricht in 127 deren Muttersprache und waren von Stunde an Freundinnen. Die Italienerin starb jählings weg, wir aber setzten die begonnene italienische Stunde selbständig bei uns im Hause fort. Später gestand sie mir, daß sie sich lange Zeit glühend gewünscht habe mich kennenzulernen, und daß sie dann bei jener ersten Begegnung vor Herzklopfen nicht zu sprechen vermochte. So steht kein Erwachsenes vor einem Kinde, was ich damals noch war, wenn es nicht in diesem Kinde gleichfalls das Symbol für irgend etwas Geahntes, Unausgesprochenes erblickt. Das edle Herz hielt mir lebenslang die Treue, und später, als ich mich einmal unter ihrem gastlichen Dach in Sitten aufhielt, hat sie mir mancherlei tragikomische Züge aus ihren eigenen Kleinstadterinnerungen geliefert, die ich meiner Heimatnovelle »Das Vermächtnis der Tante Susanne« einverleiben konnte. Sie war auch nicht die einzige, die zu mir fand. In der Nähe des Marktes, wo unsere Wohnung lag, lebte ein anderes junges Mädchen, zart und leidend, früh an Schwindsucht hinsterbend, das mir durch unseren Reitkameraden, dem sie heimlich verlobt war, wiederholt Grüße sandte und den inständigen Wunsch, mich kennenzulernen. Ich besuchte sie an ihrem Lager und habe später in meinem Idyll »Wie die Jugend liebt« ihre frühgeschiedene Lieblichkeit zum Modell genommen. So zartes und keusches Lieben wie in dem genannten Gedicht gab es noch in der damaligen Jugend; die Entfesselung aller Naturtriebe setzte sich erst eine spätere Generation zum Ziel.

 

Von diesen freundlichen Ausnahmen abgesehen lagen Acht und Bann auf mir. Daß die Eltern keinen Familienverkehr 128 pflegten und ich somit nirgends eingeführt war, erleichterte die Ausschließung und erklärte sie auch einigermaßen, wie ich billigerweise hinzusetzen muß. Es gab keine Kinder- und Familienfeste, zu denen ich geladen wurde, keinen Chor, in dem ich hätte mitsingen können, kein Liebhabertheater, wo man mich dabei wollte. Und man hielt mich für hochmütig, während ich ein schmerzliches Verlangen nach Mitdabeisein, nach Gemeinschaft in mir herumtrug und mir trotz dem reichen Leben, das ich besaß und das mir von allen beneidet war, den Wert des Versagten noch weit übersteigerte. Das alles hatte ich in mir allein zu verarbeiten, denn mich einer Freundesseele zu eröffnen verbot mir der Stolz, meinem Vater aber durfte ich, meiner Mutter konnte ich nicht sagen, wie mir zumute war. Er hätte sich gegrämt, seinem geliebtesten Kinde nicht gegen Dummheit und Bosheit helfen zu können, sie hätte gar nicht verstanden, was mich dabei anfocht. Daß mich die Philister verketzerten? Dafür waren sie ja Philister. Und daß mir die Gassenjugend Schimpfworte nachrief und gelegentlich mit Steinen nach mir warf? Das war die Art der Gassenjugend, wie konnte man sich so etwas zu Herzen nehmen? Auch sie hatte in ihren Mädchenjahren Aufsehen erregt, aber so gerne sie für ihre Überzeugung gelitten hätte, es gelang ihr nicht, sie blieb das Glied einer bevorrechteten Kaste, vor der kleinbürgerliche Kritik Halt machte; ihren Standesgenossen aber war sie ein Phänomen, mit dessen Eigenheiten man sich abfand. So war sie die Letzte, meine unnatürliche Lage zu verstehen, ich mußte vielmehr auf der Hut sein, sie nicht durch Widerspruch zu vermehrter Herausforderung an die engstirnige, für ihre Standpunkte schlechterdings nicht reife Umwelt zu reizen. Sie selber 129 blieb dabei auch unter Philistern unbeanstandet, wer hätte vermocht, ihre franziskanische Askese und ihre unbegrenzte ichlose Hilfsbereitschaft zu mißdeuten, auch wenn sie die kühnsten Paradoxen über die gefährlichsten Dinge von sich gab. Aber was war von einer Tochter zu erwarten, die neben solchen mütterlichen Grundsätzen aufwuchs?

Eine andere junge Seele wäre vielleicht an dem steten Anprall der auf sie eindringenden Widerwärtigkeiten zerbrochen, oder sie hätte durch die ihr zugeschriebene Wichtigkeit völlig aus dem Gleichgewicht gerissen werden können. Mir kam aber zugute, daß ich meine erste Jugend in einer Art Halbtraum lebte, der ganz von glänzenden Gesichten erfüllt war und mir die lebendige Umwelt weniger fühlbar machte. In meinem Inneren befand sich ein unsichtbares Turmzimmer, wohin ich mich zurückziehen konnte. Dort warteten die Wundergestalten aus Mythe und Dichtung, mit denen ich meine Kindheit verlebt hatte und die mir immer naheblieben. An ihnen gemessen verschwanden meine Widersacher vom Erdboden. Machten sie mir's zu schlimm, so erstieg ich meinen Turm, zog die Fallbrücke auf und weihte sie alle dem Nichtvorhandensein, daß ich sogar mit der Zeit ihre Namen vergaß. Dorthin kam auch der unsichtbare Helfer, dessen Stimme seit den Kindertagen mit mir ging und den ich zeitlebens meinen »Andern« nannte. Ihm konnte ich mein Leid klagen in der einzigen Sprache, die er zur Zeit verstand, der poetischen, denn das uferlose Wallen des Inneren war noch zu ungeformt, um sich irgend in Prosa niederzuschlagen. Wenn mir jetzt gelegentlich ein von mir geschriebener Brief aus meiner Frühzeit in die Hände fällt, so staune ich über seine vollkommene Leere. Das Kind, 130 in dem so viel vorging, war so in sich selbst zurückgeschreckt, daß es nicht den kleinsten Teil seines Innern preisgab; ich hätte gar nicht gewußt, wie man es angreift sein Gefühl zu äußern.

 

Jetzt geht ein Zwischenvorhang hoch über eine lang vergessene und nie so ganz von mir verstandene Szene, die mir selbst so recht den dunkel geführten Traumwandel meiner Jugend zeigt. Ich sehe mich an einem klaren Wintertag an dem verschneiten Grab meines Vaters ganz in Tränen zerflossen stehen. Warum weinte ich so verzweifelt? Etwas mich Erschütterndes war geschehen: ich war beim fröhlichen Eislauf an der Seite meines Begleiters von einem unbekannten jungen Studenten aufgehalten worden, der mir den Ruf meiner Mutter überbrachte, augenblicklich zu unserem Freund Oswald zu kommen, der in seiner mütterlichen Wohnung sterbend liege und mich noch zu sehen verlange, ich würde dort sie selbst zusamt meinen Brüdern treffen. Oswald war ein junger Hausfreund, Studiengenosse Edgars, der nach dem Abgang unseres Ernst Mohl als getreuer Eckart in dessen Fußstapfen getreten war und mir durch feinfühlige Aufmerksamkeiten und Rücksichten aller Art meine Stellung zwischen Mutter und Brüdern ebenso wie jener erleichterte, indem er Mütterleins Aufregungen beruhigte und Edgars Reizbarkeit ablenkte. Geistig konnte er den Entfernten nicht ersetzen, aber dieses bemerkte ich kaum, weil er als junger Arzt an Baldes Krankenbett bei der Pflege unschätzbare Dienste leistete und auch sonst wie ein Sohn die Sorgen des Hauses teilte. Bei dem jähen Tode meines Vaters, dem er sich gleichfalls durch kleine Dienste zu nähern 131 gewußt hatte, war er es, der die vielerlei mit einem Sterbefall zusammenhängenden Besorgungen übernahm und dadurch die Hinterbliebenen entlastete. Meiner Trauer trug er auf die zarteste Weise Rechnung, und im folgenden Winter, als Edgar sich zur Fortsetzung seiner Studien nach Wien begab, rückte er ganz an dessen Stelle ein. Seine Gegenwart gab die innere Beruhigung, nach der ich am meisten bangte. Daß sein Kommen und Gehen mir vor allem galt, fühlte ich wohl dunkel, aber ich hielt mir den Gedanken fern, denn ich wußte nicht, daß er sich meiner Mutter gegenüber längst über seine Hoffnungen und Lebenspläne ausgesprochen hatte. Er war seit ein paar Tagen nicht bei uns gewesen, ich hatte aber nichts von seiner Erkrankung gewußt. Jetzt enthüllte mir die Schreckensbotschaft mit einem jähen Blitzlicht alles was ich ahnte und nicht wissen wollte. Ich ließ mir wie im Traum von den beiden Herren die Schlittschuhe ausziehen und eilte, von dem Unglücksboten begleitet, nach der mir unbekannten Wohnung. Es war eine Wunderlichkeit von mir, nicht wissen zu wollen, wo unsere jungen Freunde wohnten; ich stellte sie mir lieber aus dem Unbekannten kommend und ins Unbekannte gehend vor, wahrscheinlich weil meine Einbildungskraft vor der Enge philiströser Umgebung zurückfloh. Dort kam mir Mama mit Alfred entgegen und gab mir Aufklärung und Weisung. Ich wurde in das Krankenzimmer geführt und fuhr vor dem Anblick, der sich mir bot, innerlich zurück: da lag ein kleines, gelbes, spitziges Gesicht in den Kissen, worein die Krankheit seltsame Züge gegraben hatte, Züge, die auch sonst schon leise sichtbar gewesen, aber wieder zurückgetreten waren; eine mich tief befremdende Schrift. Sie schien jenen Stimmen 132 recht zu geben, die mir abfällige Urteile über ihn zugetragen hatten, wonach ich nicht fragte; ich wußte ja, was die vox populi wert ist: gegen mich und die Meinigen war sein Verhalten immer tadellos gewesen. Tiefe Enttäuschung fuhr mir ins Herz statt der Trauer um den drohenden Verlust; es schien mir, als wäre alles unecht und von mir selber aufgeredet gewesen, was ich für ihn empfunden hatte, und echt nur diese weihelose Veränderung. Es fiel mir jetzt erst auf, daß wir keinerlei geistige Belange, keine Ideale gemeinsam hatten, daß wir nicht einmal ein Buch hätten zusammen lesen können, daß ihn nur Äußeres zu mir gezogen hatte und mich zu ihm die Dankbarkeit. – Er hielt meine Hand, sagte ein paar Worte, die wie Dank und Abschied klangen. Der Mahnung meiner Mutter gehorsam, beugte ich mich herab und berührte mit einem Hauch die feuchte Stirn des Kranken; mehr vermochte ich nicht und verließ eilig das Zimmer. Seine Mutter folgte mir bis zur Treppe und mischte in ihre Klage um den sterbenden Sohn die fast tragische Lächerlichkeit ihrer Hausfrauensorge, daß sie gar nicht wisse, wohin den Toten legen in der engen Wohnung. Wie von Larven gejagt eilte ich hinunter und weiter, immer weiter über die Neckarbrücke, die Wilhelmstraße entlang bis zum Friedhof. Dort weinte ich fassungslos: nicht über den sterbenden Freund – dieser war schon fern, einen langen Strom hinuntergeschwommen –, über mich selbst, mein Nichtliebenkönnen, meine vermeintliche Verstocktheit, und daß sogar mein Sinn für das Komische in der spießigen Rede der alten Frau hellwach geblieben war. Ach, ich tat mir Unrecht wie so oft: es war auch diesmal mein Warnegeist, der mich vor einem falschen Schritt bewahrte. Mein gutes, 133 romantisches Mütterlein hatte gewiß gemeint, den Armen durch eine Verlobung am Sterbebette in seinen letzten Stunden noch glücklich zu machen. Was wäre daraus geworden ohne mein Dämonium, das sich mir nur durch die Symbolik des Äußeren verständlich machen konnte?

Der Kranke genas. Ich besuchte ihn noch einmal, als er schon im Lehnstuhl saß, und plauderte freundschaftlich mit ihm, die Schlittschuhe in der Hand, deren leises Klirren jeden Herzenston ausschloß. Er verstand und betrat unser Haus nicht wieder. Ich habe es meiner Mutter hoch angerechnet, daß sie sich in diesem Falle jeder Einmischung enthielt und mich niemals fragte, was zwischen mir und Oswald vorgegangen sei. Ich hätte es ihr nicht einmal erklären können. – Nein, auf diesem Wege ging es nicht und sollte es auch später auf größerem Boden niemals gehen. Nicht um das eigene Unterkommen noch um die Hilfe, die ich so gerne den Meinen geleistet hätte, nicht um Besitz und weltliches Ansehen, nicht einmal um das Glück, ein Kind ans Herz zu drücken, konnte ich verkaufen, was mir für ewig preislos war: die Liebe.

Als ich nach mehr als dreißig Jahren noch einmal mit Oswald zusammentraf, hatte die Prosa des Lebens völlig von ihm Besitz ergriffen und zeigte ihn nun gänzlich so, wie er meiner Ahnung an dem vermeintlichen Sterbebett erschienen war. Dennoch – und das bewies, daß er doch einmal wirklich einen Blütentraum geträumt hatte – erwachte bei dem kurzen Wiederbegegnen mit der Erinnerung an die gemeinsamen Jugendtage die Anhänglichkeit an mich und die Meinigen aufs neue. – Warum nur dieses Dämonium, das immer so genau wußte, was mir nicht gut war, sich wie das Sokratische ganz aufs 134 Verneinen beschränkte und mir niemals einen fördernden Rat gab? Das Leben lag vor mir ohne einen gebahnten Weg, der hindurchführte, ohne auch nur sichtbare Fußstapfen, in die man hätte treten können. Wenn eine Fata Morgana auftauchte mit berückenden Bildern von fernen Strömen und Seen und einem Leben in freier Größe, so verschwand sie schnell, wie sie gekommen war. Das häusliche Dasein ging nach des Vaters Tode unverändert weiter, bereichert durch die griechischen Studien, die ich mit Ernst Mohl bis zu seinem Wegzug nach Rußland trieb. Es war das größte Geschenk, das ich je von einem Menschen empfing, der Schlüssel zu aller Größe und Schönheit, wenn auch der eigentliche Unterricht nur kurze Zeit dauerte. Von diesem Lichte angestrahlt konnte ich niemals verarmen. Die Griechen sind uns ja nicht zu Gegenständen des Wissens gegeben, sie sollen uns Lebensraum und Lebensglück sein.

Um jene Zeit ging mir auch die mich tief erfüllende englische Lyrik auf, zu der Übersetzungen meines Vaters, dessen Geist nach seinem Hingang stärker zu mir sprach, mich hinführten: Byron, Moore, Burns, Keats (mit Shelley wurde ich erst später bekannt), vor allen Byron, in dem ich nicht nur den Dichter, sondern fast mehr noch eine der strahlendsten Dichtungen des großen Schöpfergeistes liebte. Meine Mutter hatte mir nach und nach ihre Bücher geschenkt, zwar in Perldruck, aber das konnte die jungen Augen nicht stören. In ihnen allen fühlte ich einen gemeinsamen Grundzug, der sie trotz der Blutsverwandtschaft von unseren deutschen Dichtern unterschied. Ich hätte es damals nicht benennen können, was mich so eigen berührte. Heute weiß ich: es war der Stolz der 135 selbstverständlichen bürgerlichen Freiheit, den ich unbewußt durchfühlte, die Unverletzlichkeit der Person, die im eigenen Haus wie in einer Burg wohnte, ohne nach der Polizei zu schauen. Es war die Freizügigkeit und Weiträumigkeit dieser Briten, die ihnen gestattete, alles Gedichtete ebensogut zu erleben wie zu schreiben, ihren Fuß auf ferne Kontinente zu setzen und dort gleichfalls auf eigenem Boden zu stehen. Diese Freiheit gab auch ihrem Dichterschritt die adelige Männlichkeit und Sicherheit, für deren Erkenntnis ein junges noch halb kindliches Mädchen keinen anderen Maßstab hatte, als daß sie in einen so getanen Dichter sich auch als Mann hätte verlieben können. Wogegen unsere deutschen Dichter, die das Hochgefühl der Freiheit nur im Reich des Gedankens kannten, mir nicht eigentlich als Männer, sondern als Wesen einer übersinnlichen Ordnung erschienen, zu denen ich nur kein persönliches Verhältnis erträumte.

Während dieser Flüge unter den Gestirnen war der andere, mindere Teil meines Ichs mit der Brotarbeit der Übersetzungen beschäftigt. Von maßgeblicher Seite, meinem verehrten Landsmann Hans Vaihinger, dem Philosophen des »Als ob«, wurde es als bibliographische Ungenauigkeit gerügt, daß ich in deinem »Jugendland« die Titel der von mir übersetzten Werke nicht genannt habe, und ich versprach mich künftig zu bessern. Ich hatte sie wohl zum Teil schon damals vergessen, doch kann ich die Angabe nachholen, daß mir in meinen letzten Tübinger Jahren von seiten eines Stuttgarter Verlags der Auftrag zufiel, ein Werk von Emerson zu übersetzen – der Titel ist mir leider entfallen –, durch das ich zu einem Prozeß mit dem Verleger kam. Ich hatte den gepflegten Emersonschen Stil in ein 136 ebenso gepflegtes Deutsch übertragen, wobei sich's von selbst verstand, daß kein Wort mit unterlief, dessen Rangwert nicht der Würde des Buchs entsprochen hätte. Der Verleger meinte jedoch, ein junges Mädchen könne unmöglich mit Emerson allein zurechtkommen und gab meinen fehlerfreien, durchgefeilten Text einem geistfremden Quidam zu überarbeiten, der ihn ohne alle Not mit Flicken vom übelsten Kaufmannsdeutsch und anderen Schnoddrigkeiten überkleisterte. Da ich durch diese Textschändung meinen Ruf als Übersetzerin gefährdet sah, setzte ich vor Gericht die Ausmerzung der schlimmsten Stellen und die Entfernung meines Namens vom Titelblatt, als das Buch schon fertiggedruckt war, durch und bekam dabei einen Vorgeschmack von den Widerwärtigkeiten der literarischen Laufbahn. Lebhafter als die Emersonschen Betrachtungen sprach das Buch eines russischen Offiziers mit Namen Karazin: »Streifereien in Russisch-Turkestan« mich an, das Freund Mohl mir zum Übersetzen aus dem Russischen geschickt hatte. Darin funkelte als ein Juwel die Geschichte von der turkmenischen Prinzessin Ak-Tomak, die von einem Liebhaber aus dem Harem entführt wird und dafür auf dem rasenden Ritt durch die Steppe dem Retter ihren Dolch in den Rücken stößt, um durch die grausame Tat ihre Freiheit zu retten, weil sie weiß, daß er sie nur nach der Ankunft in sein eigenes Frauengemach sperren würde. Danach lebt sie allbegehrt und gefährlich schön als hetärische Amazone, vor deren Tür die Männer, statt sie unterjochen zu können, sich die Hälse brechen. Um ihrer Seltsamkeit willen hatte diese Geschichte die Ehre, in der ersten deutschen Monatsschrift, der Rodenbergschen »Deutschen Rundschau«, gedruckt zu werden.

137 Endlich war ich der ewigen Verketzerung müde, die sich in der Kleinstadt an alle meine Schritte heftete, und ich entschloß mich, auch ohne Rückensicherung den Sprung ins Leben hinaus zu wagen. Im dritten Jahr nach meines Vaters Tod befand ich mich in München, um mir ein neues, sinnvolleres Dasein zu gründen. Der unvergeßlich lächerliche Anstoß zu diesem Schritt – meine Eingabe an den Senat um Zulassung der Damen, wenn auch nur für eine Stunde wöchentlich, zu der akademischen Schwimmschule, die nicht nur von der hohen Stelle nachdrücklichst abgelehnt wurde, sondern auch in der Frauenwelt selber eine heftige Entrüstung gegen die Anstifterin des unsittlichen Vorschlags entfesselte – steht in meinem »Jugendland« des näheren zu lesen und ist auch in Tübingen selbst unsterblich geblieben. Bezeichnend war es, daß eine Jugendfreundin meiner Mutter aus ihren Mädchentagen den Erinnyenchor gegen mich führte. Bei meinem Wegzug wollte ich aber noch ein sichtbares Siegel unter meine dort verlebten Jahre setzen, und ich errichtete auf dem Tübinger Friedhof meinem Vater das hochragende Denkmal, das noch heute seinen schönsten, weihevollsten Schmuck bildet. Ich hatte in mehrjähriger, weil oft unterbrochener Arbeit den schönen zweibändigen Roman von Ippolito Nievo »Le confessioni di un ottuagenuario« übersetzt und dafür von der »Wiener Neuen Freien Presse« ein für meine damaligen Verhältnisse schwindelnd hohes Honorar, tausend österreichische Gulden, eingeheimst. Die Summe hätte als Sprungbrett in das neue Leben dienen sollen. Aber ich konnte ja nicht einen nackten Erdhügel, worauf nur im Sommer ein Lorbeerbäumchen kümmerte, im Rücken lassen. Nachdem ich die Jahre her vergebens 138 gewartet, ob das Schwabenland oder die Vaterstadt Reutlingen oder eine Dichtergilde oder die Partei, der er seine Kraft geopfert hatte, sich ihres großen Toten erinnern würde, nahm ich die Sache selber in die Hand und stellte ohne kleinliches Sparen ein Werk nach meinem Herzen auf. Ich gab das ganze eingenommene Geld dafür hin, von keiner Seite kam mir ein Zuschuß. In Anbetracht meiner Lage und des damaligen Geldwertes war es ein Widersinn, aber ich habe es nicht bereut. Niemand, der den Platz betritt, kann sich der davon ausgehenden Weihe entziehen. Eine steinerne Muse auf hohem Sockel unter den hochragenden deutschen Tannen – damals war es noch ein ganzer Hain – für mich bedeutete es die Vermählung der zwei urverwandten Welten, der germanischen und der griechischen, die meinem Elternhause den Stempel gaben. Ich wollte keine trauernde, sondern eine sinnende Muse, deshalb verfiel ich auf eine Nachbildung der antiken Polyhymnia, zu der mich mein Vater oft in dem feierlichen Antikensaal der Schloßbibliothek wo er waltete geführt hatte. Der benachbarte Hölderlin schlief unter der unsäglichen Schwermut der bis zur Erde hängenden Trauerweiden, tief verborgen und halb vergessen, wie er es im Leben gewesen; ich freute mich der steilen Wipfel des deutschesten Baumes über dem Haupt eines der deutschesten Dichter. Ich hatte meinem Herzen Genüge getan, mein »Dämon« war mit mir zufrieden! Dann trat ich mit wenigen Mark in der Tasche, die unsere teure Josephine hergab, die Fahrt nach München an. Daß ich den Vorschuß nicht anders erstatten konnte als durch den bescheidenen Denkstein, den ich ihr später selber in Florenz auf dem Friedhof Agli Allori setzte, war mir lebenslang ein Stachel.

139 Jetzt nahm ich tiefe Atemzüge in der Freiheit. Die ewige Pein um die Lieben zu Hause war abgefallen, da die zwei ungleichen Brüder Männer geworden waren, die sich untereinander und der Mutter beistanden. Edgar als blutjunger Dozent hatte Alfred unter seinen Hörern; das beendigte ganz von selbst die Knabenfehde. Wohl schrieb Mütterlein ihre klagevollen superlativischen Briefe, aus denen ein Uneingeweihter lauter Unheil hätte entnehmen müssen. Aber Balde, das treue Bruderherz, sandte heimlich beruhigende Zeilen nach. Für nichts auf der Welt zu sorgen haben als für sich selbst – ein unfaßbarer Glücksstand! Dabei war ich nicht einmal allein, denn Erwin teilte als junger Akademiker meine Münchner Wohnung; wenn er auch seine eigenen Wege ging, so hatte doch jedes ein Stück Heimat bei sich. Innerhalb von sechs Monaten war meine Stellung in München gemacht. In der literarischen und künstlerischen Oberschicht hatte ich mir einen erlesenen Freundeskreis erworben, meinen Unterhalt bestritt ich durch Sprachunterricht und Übersetzungen. Manchmal nahm ich erst morgens im Bette den Abschnitt durch, der gleich im Unterricht darankommen mußte, und machte dabei die Erfahrung, daß man am besten lehrt, was man eben selber noch nicht gewußt hat.

Aber auch München war noch nicht die mir bestimmte Stätte. Hätte ich bleiben und mich völlig anpassen können, so hätte wohl bald ein günstiger Wind meine Segel erfaßt und mich einen bequemeren und sichreren Kurs geführt als den mir vorbeschriebenen. Aber diese Lösung wäre zu einfach gewesen, ich mußte zuvor noch einen weiten Bogen beschreiben. Was war es, das mein Dämon mit mir vorhatte? Heute weiß ich es: 140 ich sollte nichts der Gunst und Gönnerschaft verdanken, um innerlich ganz frei zu sein, sollte künstlerisch nirgends Anlehnung finden, keiner Strömung einen Zufluß bringen und auch von keiner getragen werden, sondern mich selber durch Geklüfte quälen, unter Felsen durchwühlen, statt des raschen brausenden Laufs, den ich mir erhofft hatte, mich mäandrisch durch eine kleinlich hindernde Ebene winden, sollte wie mein geliebtester Strom, die Donau, im Boden versickern, ehe sie durchbricht nach ihrem Zukunftsland.

Im Frühjahr 1877 kam Edgar »der Plötzliche«, wie sie ihn im Verwandtenkreis nannten, auf der Durchreise nach Italien zu mir. Auch ihm waren die Sterne der Heimat nicht günstig gewesen. Er hatte trotz genialer Begabung und erprobter Tüchtigkeit nirgends im Land eine Anstellung gefunden, weil er sich in Auftreten und Anschauungsweise dem Philistertum nicht anpassen konnte. Gönnerschaft gab es nicht für die Kurzischen, und im Lande der Vettern und Basen hatten wir nahezu keine. Mein Vater besaß nur einen Bruder, der ihn nicht lange überlebte, und meiner Mutter waren die Brüder weggestorben, bevor sie geboren wurde, auch waren die Brunnows nicht im Lande ansässig. Jetzt wollte er es in Florenz versuchen und, sobald er Fuß gefaßt hätte, Mama mit Balde und Josephine nachholen; von mir hoffte er, daß ich mich dann gleichfalls anschließen würde. Auch mit ihm ging das Glück, denn schon im August konnte er berichten, daß er festen Boden unter den Füßen hatte. Es war dabei auf eine Weise zugegangen, die nahe ans Wunderbare streifte: er hatte bei einem russischen Kind, das keine Nahrung behalten konnte und langsam Hungers starb, allen anderen ärztlichen 141 Diagnosen entgegen, einen äußerst seltenen Fall, nämlich einen Sack in der Speiseröhre, der die getrunkene Milch zurückhielt und nach einigen Stunden unverdaut wiedergab, durch bloße Geistesschärfe – denn man wußte ja noch nichts von Röntgenstrahlen – erkannt und festgestellt. Durch die Sicherheit seines Blicks und die Festigkeit seines Auftretens hatte der vierundzwanzigjährige deutsche Arzt, der bei seiner zarten, fast mädchenhaften Schönheit noch jünger aussah als er war, im Handumdrehen ein Ansehen erlangt, das ihm gestattete, sich in einem Weltmittelpunkt wie Florenz eine nicht mehr zu erschütternde, wenn auch rings von kollegialen Anfeindungen umlagerte Stellung zu schaffen. Aus Florenz erreichte mich sein Ruf: Kommen! Aus Tübingen scholl es verstärkt herüber: Kommen! Mitkommen! So lieb mir München geworden war, ich verstand den Ruf des Schicksals und sagte: Ja.

Entschlüsse von solcher Folgenschwere werden nicht durch Überlegung getroffen, es wirkt dabei wie in allem Schicksalhaften ein Irrationales, besser gesagt, ein Überrationales mit. Aus dem damaligen deutschen Leben entrückt zu werden war bedeutungsvoller, als ich selber es zur Zeit ahnen konnte. Deutschland stand im Glanze Bismarcks, der eben erst das brennende Sehnen der Deutschen nach einem deutschen Reich gestillt hatte. Wir standen als große Nation gleichwertig bei den andern großen Nationen, geehrt, bewundert, wenn auch nicht geliebt. Mußte es da nicht als Undank, ja als Frevel erscheinen, auf irgendeinem Punkte an Ihm, der uns das alles geschenkt hatte, ja nur an einer einzigen seiner Maßnahmen zu zweifeln. Zugleich trat aber auch schon damals im ersten Jahrzehnt der Reichsgründung die Kehrseite hervor in dem 142 plötzlichen Einbruch des Gründer- und Strebertums, in dem Niedergang aller Hochziele – das Wort Ideal war gar nicht mehr zu brauchen, es trug schon den Stempel des Veralteten, Abgestandenen. Die bewunderte Realpolitik des Großen, wie er sie unbedenklich auf die höchsten Belange der Nation anwandte, wurden von den Kleinen auf ihre kleinen persönlichen Geschäfte übertragen. Ein höheres Streben, das bedeutete jetzt das Streben nach hohen Posten und einträglichen Ämtern, nach Titeln und Orden. Damals regte sich aber auch schon ein ahnendes Mißbehagen unter denen, die Geist höher schätzten als Macht und Geld; es begann teilweise eine wenn nicht politische, so doch kulturelle Abwendung unter der höheren Geistigkeit: manchen der besten Deutschen schien es, als hätten sie ihre geistige Heimat verloren. Der Hinweis auf den Beginn dieses Zustands in meiner Hermann-Kurz-Biographie veranlaßte später meinen Freund Otto Crusius zu der brieflichen Bemerkung, daß er das gleiche verschwiegene Mißgefühl auch bei Rohde und Nietzsche gefunden habe; er hätte auch Richard Wagner hinzufügen können. Die traurigste Begleiterscheinung der Zeit war das Denunziantenwesen, das vor allem durch die berüchtigten Bismarckbeleidigungsprozesse in Flor kam, wovon selbst arme alte Weiblein nicht verschont blieben, wenn sie auf die neuen Münzsorten schimpften. Ein Schmerz vor allem für die echten Bismarckverehrer, wenn sie den Großen abrücken sahen aus der Nähe des Unerreichlichen, der einer Schmähschrift die einzig königliche Antwort wußte. Wir Kinder schwebten immer in Sorge für unsere Mutter, deren unbedachte Rede niemand hemmen konnte, und wie schnell ist ein rasches Wort verdreht. Schon war sie durch ein 143 geschäftiges politisches »Reptil« (so nannte man damals die Sykophanten) in Berlin angeschwärzt worden; die Möglichkeit, daß sie in Verwicklungen hineingerissen werden könnte, deren Folgen bei ihrem Naturell unabsehlich waren, hatte für uns alle etwas Unheimliches. So begrüßte ich doppelt den Gedanken ihrer Auswanderung. In Italien atmete man eine weite und freie Luft; und ihre Liebe galt ja diesem Lande von je. So kam Edgars Ruf noch zeitgemäßer und lösender, als vielleicht damals die Beteiligten selber wußten.

Mama jubelte, daß ich nun wieder dabei sein würde, und erwartete mich noch einmal zu Hause. Denn jetzt mußte der Haushalt aufgelöst, Mütterleins einst so schöne und stilechte, aber verwahrloste und in jenen stillosen Jahren als »unmodern« wirkende Einrichtung dem Auktionar übergeben, der Rest verpackt werden. Da uns allesamt das Geld fehlte, war unsere Übersiedelung das Verrückteste, was es für eine biedere bürgerliche Denkart geben konnte. Wir aber in unserem Kindersinn dachten nicht einmal an die Unsicherheit, der wir auf dem fremden Boden entgegengingen und daß wir uns mit dem Verschleudern des Mobiliars die Rückkehr verschlossen, wir dachten nur an die Herrlichkeit des Südens, die aus Edgars Briefen strahlte, und glühten dem Unbekannten entgegen. Oft ist mir später mein Drang nach Sonnenländern und warmen Meeren verübelt worden wie eine Abkehr von Deutschland, und doch gibt es nichts Deutscheres als diesen Drang, wie die Geschichte beweist. Wer im Bannkreis des Hohenstaufen geboren ist, selber von schwäbischem Geblüt und aller heroischen Schönheit verschworen, der trägt den Zug nach dem Süden als sein Staufererbe von Geburt in sich. 144 Wenn Historiker und Politiker, den öderen Spuren der Welfen nachgehend, sich das nachträgliche Wunschbild eines von deutschen Königen regierten Ostreichs aufstellen als Deutschlands größeres und kälteres Schicksal, so steht das auf einem anderen Blatt. Die Geschichte schafft nicht nur für politische Zweckmäßigkeiten, sie hat auch ihre Dichterstunden. In einer ihrer höchsten schuf sie die übermenschlichen Maße des Staufergeschlechtes vom alten Rotbart über den weltenweiten Friedrich bis zu dem Knaben Konradin, um den noch heute nicht nur die Deutschen, sondern auch die Italiener trauern, obwohl er ihren Boden ja nur betreten hat, um dort zu sterben. Für kein anderes Geschlecht der Menschen hat sie den Stoff so fein genommen, für keines hat sie den Raum so weit vom Okzident zum Orient gebreitet. Wer möchte so poesielos sein, diese Gestalten, in denen sich deutsche Größe am unwiderstehlichsten ausgeprägt hat, in der deutschen Geschichte missen zu wollen. – Es ist ungerecht, die sonnesuchenden, wanderseligen Schwabenkinder der Ausländerei zu bezichtigen, wenn sie sich von ihrem Stern in die Fremde entführen lassen. Sie sind die besten Pioniere des Deutschtums; mehr als andere Stämme haben die Schwaben das Zeug zur nationalen Zellenbildung in sich: wo sie sich niederlassen, da halten sie zusammen, und bald schließt sich ihnen ein Kreis anderer Deutschstämmiger an, denen sie zum Bindemittel dienen.

Mir hielt indessen Philistäa noch ein Nachspiel bereit. Was fiel mir aber auch ein, daß ich vor dem Wegzug noch dem Drängen der Tübinger Professorenschaft und dem damit vereinten meiner Mutter nachgab, indem ich bei dem Festzug zur vierhundertjährigen Stiftungsfeier der Universität die Rolle 145 der Muse übernahm, wofür nur ich in Frage kam, denn die Muse hatte auf hochgetürmtem Festwagen stehend die Rosenzügel der vier schweren Rosse und sich selbst im Gleichgewicht zu halten, was damals bei den noch mittelalterlich steilen und höckrigen Straßen Alt-Tübingens keine ungefährliche Aufgabe war, denn ein einziger schlecht abgefangener Stoß konnte die Lenkerin häuptlings aufs Straßenpflaster schmettern. Wie konnte ich so harmlos sein zu glauben, ich würde mir durch meine Gefälligkeit, von der das Gelingen des Schauzugs vorzugsweise abhing, den Dank und ein freundliches Andenken meiner Mitbürger verdienen? Gerade das Gegenteil geschah; als die Schaulust befriedigt war, brach die Verketzerung schlimmer aus als je. Das Stehen auf steilem Triumphwagen mit dem Lorbeer um die Stirne war noch frevelhafter als Reiten und Schwimmen und Griechischlernen. Zu dem Chor der Erinnyen gesellte sich der Pöbel, der zwar schwerlich wußte, was eine Muse ist, der aber aus der griechischen Gewandung etwas Heidnisches herausspürte. Der Haßgesang, der mich noch auf der Schwelle der Heimat umtönte, regte in mir die Entrüstung über all die in München schon halbvergessene Unbill wieder auf: ich hatte aus meiner Armut heraus der Stadt das schönste Monument ihres Friedhofs gestiftet, dann hatte ich getan, um was ich gebeten war, hatte Gewand und Schmuck und Lorbeerkranz, die man mir sandte, getragen und von meinem Hochstand herab mit stillem Ernst meine Aufgabe als Rosselenkerin gelöst. Und nun dieser Dank, die Achterneuerung Philistäas. Ich warf im Geiste der Jugendstadt den Handschuh hin. In das Rauschen des Neckars – er rauschte damals noch – sang ich zornige Trutzlieder, die 146 sich nur beim letzten Abschied gelinde lösten. Dennoch wußte ich auf unerklärliche Art, daß dies nicht das letzte Wort zwischen ihr und mir sein würde. Woher mir Genugtuung holen, auf welchem Weg, mit welchen Mitteln, wußte ich nicht, aber ich hatte die untrügliche Gewißheit, daß sie mir werden würde. Es war wieder wie so manchesmal ein Stück tröstlich hereingespiegelter Zukunft. Das Versöhnendste sollte mir von einem Kinde kommen, einer zarten neunjährigen Mädchenblume aus der Menge der Zuschauer, die der Muse auf dem Wagen ihr warmes kleines Herzchen für immer schenkte und später all ihr höheres Streben mit dieser Stunde verband. Hätte ich es zur Zeit schon gewußt, so würde es mich noch schöner getröstet haben als die rühmenden Worte, mit denen mich mein alter Freund, der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, für die Schmähsucht Philistäas schadlos hielt. 147

 


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