Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Zweites Kapitel

Mutterrecht

Die im Vorstehenden geschilderten Zustände schufen nur den äußeren Ring der Schwierigkeiten, die meinen Weg ins Leben umlagerten. Es gab noch einen engeren, der aus der nächsten Umwelt, aus dem Angehörigenkreise selber kam. Ich habe mich später in der Welt oftmals gewundert, wie locker in den meisten Familien der Zusammenhang ist, wie schnell das Band zwischen den Geschwistern versagt, wenn sie einmal das gemeinsame Nest verlassen haben, und wie wenig auch Kinder bedeutender Menschen von der Jugend und sogar von dem miterlebten Leben ihrer Eltern wissen; von den Großeltern ganz zu schweigen, die im Zwielicht zu verdämmern pflegen. Bei uns war es anders. Wir bildeten nicht nur eine Familie, sondern eine enggeschlossene Geistesgemeinschaft, die auch in das dritte Folgegeschlecht nachwirken sollte. Aus dieser nahen Verbundenheit heraus konnte ich nicht nur die Geschichte meiner Eltern, sondern auch die der Voreltern erzählen, weil mir das lange Gedächtnis meiner Mutter und das noch längere ihrer Josephine, genannt Fina, die sie in Windeln 38 betreut hatte, zur Verfügung stand. In unserem Hause konnte es auch keinen Kampf der Generationen geben, denn meine Eltern hatten selber schon so weit vorne begonnen, daß die Zeit ihnen noch lange nicht nachkam. Dieser gemeinsame Gegensatz gegen eine noch lange nicht nachkommende Zeit war es dann auch, was uns Geschwister so enge zusammenband, daß wir eine eigene, ganz auf sich gestellte Welt bildeten, in der wir uns gegenseitig Wohl und Wehe bedeuteten und aus der wir uns die Maßstäbe für das Leben holten, wo aber auch die inneren Erschütterungen nie zur Ruhe kamen. Es sei jedoch betont, was heute nicht mehr so selbstverständlich ist wie damals: daß den vielen Reibungen niemals ein materieller Anlaß zugrunde lag und daß die Frage von Mein und Dein, Mißgönnen und Selberhabenwollen im Familienkreis nie eine Rolle gespielt hat.

Als der Dichter Hermann Kurz aus dem uralten, schon um 1400 genannten Reutlinger Bürgerhause der Glockengießer und Ratsherrn Kurz (richtiger Kurtz) die hochgemute, von Vaterseite aus kurländischem Adel stammende Freiin von Brunnow heiratete, erwuchs aus diesem Bunde zweier kristallklarer, von den gleichen Idealen erfüllter und geistig ebenbürtiger, aber im Naturell grundverschiedener Menschen eine Nachkommenschaft, in der die elterlichen Züge sich so mischten und vermengten, daß jedes eine geschlossene Einheit darstellte, dem anderen nur in der Gesinnung und in den Idealen ähnlich, in der Individualität unähnlich. Edgar, der Älteste, dessen Charakterbild ich in meinen »Florentinischen Erinnerungen« eingehend gezeichnet habe, war der heldische Mensch, eine Pioniersnatur, geboren um voranzugehen, an 39 Unbedingtheit und Wagelust der Mutter gleich, aber vom Vater her verwickelter und verletzlicher geartet. Er war mehr für die großen Schicksalsstunden als für das tägliche Leben gemacht, denn immer großgesinnt und opferbereit für die Sache, die er vertrat, im Familienkreise sah er nur sich selber. Das war nicht der Egoismus des Gewöhnlichen, der das Seine sucht: sein geniales Ich wirkte in ihm mit solcher Stoßkraft, daß ihm die Belange der anderen gar nicht zum Bewußtsein kamen; Unrast und Reizbarkeit machten ihn verzehrend. Nur der Adel seines ganzen Wesens half mit den Schärfen dieses schwierigen Temperaments zurechtzukommen. Wir zwei standen uns nicht nur nach den Jahren, sondern auch in den innersten Bedürfnissen und den heimlichsten Seelenschwingungen am nächsten und konnten uns ohne Worte verstehen; der gleiche Himmel der Poesie wölbte sich über unseren Stirnen. Ich wußte als Kind und junges Mädchen, daß er mich glühend liebte, mit einer scheuen verschwiegenen Zärtlichkeit, die sich hinter spröder Schale barg. Aber sein Beherrschenwollen, sein Alleinbesitzenwollen machte es schwer, in dauerndem Frieden mit ihm zu leben; nicht nur der Schwester, auch den Jugendfreunden ging es so. Zwar mein Tun bekrittelte er niemals, er verstand es zu gut von seinem eigenen innersten Wesen aus, aber mein Denken und Meinen suchte er sich immerdar zu unterwerfen und mir die geistige Freiheit zu beschränken, ohne die ich nicht leben konnte. Dabei waren wir in allen tieferen Fragen so selbstverständlich einig, daß es nur immer ein Stürmen, aber ein schmerzliches, auf der Oberfläche gab. Jahre hindurch übten wir uns in einem poetischen Wettstreit, dessen Proben in die Hände der Mutter gelegt wurden. Bei 40 diesen unterschieden sich frühe sein Hang, sich im Subjektiven, Gegenwärtigen einzuschließen, und der meinige, aus dem Persönlichen ins Allgemeine hinauszudrängen. Es mochte für den Ehrgeizigen, der sonst mit seinen großen Fähigkeiten allenthalben mühelos voranstand, nicht ganz leicht sein, allmählich auf diesem Punkt vor der jüngeren Schwester zurückzutreten. Als Erwachsener verstummte er, und während ich vor die Öffentlichkeit trat, pflegte er nur heimlich sein Talent weiter. Um so höher ehrt es ihn, daß er niemals auch nur einen Hauch von Mißmut fühlen ließ, sondern mir willig das Meine ließ. Er, der persönlich so stolz war, wußte nichts vom Geschlechtshochmut der Dummen. Nach seinem Tode im Jahre 1904 konnte ich eine Auswahl seiner Gedichte, die sich überraschend in seinem Nachlaß fanden, herausgeben, wie später die der Mutter, der sein Talent artverwandter ist als dem Vater. Zwar mit der Feile, der zehnten Muse, wie Leopardi sie nennt, wußte der Sohn als feiner Humanist wohl umzugehen, während die eilige Mutter nicht darnach fragte. Aber bei beiden gleich subjektiven Naturen war das Dichten eine rein autobiographische Angelegenheit, eine Selbstbefreiung im persönlichen Lebensraum ohne den Trieb der Verwandlung ins Überpersönliche und ohne Richtung auf Weiterentwicklung im künstlerisch Gegenständlichen, wozu ihm auch die Zeit fehlte.

Alfred, der Drittgeborene, ein kleiner Berserker an Kraft und Gewalttätigkeit, war mein geschworener Feind und konnte mir während der Flegeljahre, die bei ihm über die normale Zeit hinaus dauerten, nie genug Schabernack antun. Sein höchster Trumpf war, mich irgendwie vor Fremden in Verlegenheit zu bringen und bloßzustellen. Ich hielt ihn darum für einen 41 wahren kleinen Teufel, während er das treueste liebevollste Herz hatte und nur der dunkle Knabentrotz gegen das von ihm verachtete andere Geschlecht so wild in ihm rumorte. Auch sein Charakterbild ist von mir nach seinem Hingang in meinen »Florentinischen Erinnerungen« gezeichnet worden. Züge aus seiner unbändigen Knabenzeit habe ich zuletzt noch dem wilden Roderich in »Vanadis« mitgegeben. Zwischen diese zwei Brüder als einzige Schwester durch die Geburt hineingeworfen, fiel es mir zu, die beiden Gewaltsnaturen, die ihre jahrelange Fehde täglich in Abwesenheit des Vaters am Mittagstisch auskämpften, auseinanderzuhalten, wobei leicht Püffe, die sie sich gegenseitig zudachten, ohne ihr Wollen die Friedensstifterin trafen. Die Sabinerinnen, die sich zwischen die zwei kämpfenden Heere warfen, waren mir daher schon in früher Tugend eine sehr geläufige Vorstellung.

Der dritte Bruder Erwin, bildhübsch und liebenswürdig, war ein lustiger Junge, der allem Unangenehmen aus dem Wege und dem Angenehmen nachging; er stritt niemals mit den Geschwistern, kam aber als Helfer auch nicht in Betracht. Sein heiteres Künstlerblut suchte die Sonnenseite des Lebens und entzog sich den häuslichen Stürmen, die leicht ins Gefährliche ausarteten und mir die Jugend tief verdüsterten. Eigen hat es das Schicksal gefügt, daß gerade dieser kleine Genüßling, von dem alle glaubten, daß er auf leichten Füßen durch ein sonnenfrohes Dasein gehen würde, in schweren Lebenskämpfen zu einem Charakter von eherner Willensstärke und Selbstverleugnung geschmiedet werden sollte.

Der jüngste war unser vielgeliebter Balde, 1860 im Monat der Einnahme von Palermo geboren und deshalb von der 42 Mutter, die eine feurige Garibaldischwärmerin war, mit dem Namen ihres Lieblingshelden benannt, was Vater zugab, weil Garibald (Speerkühn) ein langobardischer Name sei. Im Gebrauch aber wurde Garibaldi in Balde verkürzt, und ich brachte seiner langen Kindlichkeit wegen noch den zärtlichen Necknamen »Bemper« für ihn auf, den er sich halb lachend, halb schmollend eine Zeitlang gefallen ließ und mit dem er häufig im Briefwechsel der Familie erscheint.

Er war eine rührend holde Menschenblüte von edelster Mischung, aber durch einen Herzfehler, dessen Ursprung auf eine akute Erkrankung im fünften Jahre zurückging, zu kurzem und verkümmertem Leben bestimmt. Für ihn gab es weder regelrechten Schulbesuch noch irgendeine Jugendfreude. Er hatte nichts als seinen inneren Reichtum und die unermüdliche Hingabe seiner Mutter, die alle seine Leidensnächte mit ihm verbrachte, am Tage mit ihm las und ihm half sich durch Selbststudium zu bilden. Dieses langsame aber unausweichliche Hinsterben, das die Mutter nach sich reißen zu müssen schien, nahm auch meiner Jugend das Sicherheitsgefühl und ließ mich immer auf den schweren Schlag gefaßt sein. Das Siechtum des allgeliebten Jüngsten wurde der Hauptanstoß zu der Übersiedlung der ganzen Familie nach Italien, weil man von dem südlichen Klima zwar keine Heilung, aber einen Stillstand des Leidens erhoffte.

Inmitten dieser Familie stand als das A und O, worin alles beginnt und endet, das unbegreiflichste aller Frauenwesen, von dem man nie aufhören könnte zu erzählen, ohne je damit fertig zu werden, meine Mutter. Auf allen meinen Erinnerungsblättern ist von ihr die Rede, abgesehen von dem ihr 43 eigens gewidmeten kleinen Büchlein mit den Proben ihrer Gedichte. Dennoch läßt sich kein Stück Vergangenheit zurückrufen, ohne daß sie wiederum dabei zugegen wäre, mit solcher Schicksalsmacht hat sie das Leben aller von ihr Geborenen durchwaltet. Sie hätte können – nicht nach dem äußeren Auftreten, das so anspruchslos wie möglich war, aber nach der von ihr ausgehenden Wirkung und nach der grandiosen Einfachheit, womit ihr inneres Saitenspiel gebaut war – zu jenen urzeitlichen Frauen gehören, von denen Bachofen spricht. Auch gegenüber dieser einzigen Gestalt bin ich jetzt, wo ich den Spuren meines eigenen Schicksals nachgehen soll, in der Lage, sie auf der Bühne meines Lebens als Gegenspielerin, die bedeutsamste, geliebteste, edelste, aber auch in manchem Sinn die verhängnisvollste aufführen zu müssen. Aber um das zu dürfen, muß ich noch einmal ihr Gesamtbild erscheinen lassen auf die Gefahr hin, daß man mir Wiederholung vorwerfe, denn nur von diesem her empfangen ihre einzelnen Wesenszüge die richtige Beleuchtung.

Ich habe sie geschildert, wie sie schon als kleines Kind sich gegen die Ungleichheit der Stände und des Besitzes auflehnte und ihre eigene bevorrechtete Stellung als ein Unrecht ansah, das sie gutzumachen suchte, indem sie die Köstlichkeiten des väterlichen Kellers und der mütterlichen Speisekammer ausräumte, um sie den Bettlern zu schenken. Ich habe sie weiterhin geschildert, wie sie als junges Mädchen im Jahre 1848 der Sache des Volks ihr Vermögen opferte und wie sie später mit derselben flammenden Begeisterung ihrem Dichter die Hand reichte, um mit ihm durch ein Leben härtester Entbehrungen zu gehen, ohne jemals den Mut zu verlieren oder an 44 ihren Idealen irre zu werden. Ihr Persönlichstes läßt sich nicht faßlicher umreißen, als ich es in meinem »Jugendland« und in dem Büchlein »Meine Mutter« getan habe. Es sei mir also gestattet, einiges wenige davon hier im Auszug anzuführen.

»Sie wiederzugeben ganz so wie sie war ist ein Wagnis. Kein Bild ist leichter zu verzeichnen als das ihrige. So ausgeprägt sind ihre Züge, so urpersönlich – ein einziger zu stark gezogener Strich, eine vergröberte Linie, und das Edelste und Seltenste was es gab kann zum Zerrbild werden. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeichnet, muß ganz leicht und sicher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es auffassen soll. Wer gewohnt ist, in Schablonen zu denken, findet für das nur einmal Vorhandene keinen Platz in seiner Vorstellung.« . . . »Die unbegreiflichsten Gegensätze waren in diesem Menschenbild zu einem einfachen und bruchlosen Ganzen zusammengeschweißt, daß man sich in aller Welt vergeblich nach einer ähnlichen Erscheinung umsehen würde. Von beiden Seiten blaublütig, mit allen Vorteilen einer verfeinerten Erziehung ausgestattet und doch so ursprünglich in dunkler Triebhaftigkeit. Diese Triebhaftigkeit aber gänzlich abgewandt vom Ich, was doch der Natur des Trieblebens zu widersprechen scheint! Was andere sich als sittlichen Sieg abringen müssen, der selbstlose Entschluß, das war bei ihr das Angeborene und kam jederzeit als Naturgewalt aus ihrem Inneren. Wenn ich mich umsehe, wem ich sie vergleichen könnte, so finde ich nur eine Gestalt, die ihr ähnelt, den Poverello von Assisi, der wie sie im Element des Liebesfeuers lebte und die freiwillige Armut zu seiner Braut gewählt hatte. Sein Sonnenhymnus hätte ganz 45 ebenso jauchzend aus ihrer Seele brechen können. Auch in dem starken tierischen Magnetismus, der von ihr ausströmte, muß ihr der heilige Franziskus geglichen haben, denn um beide drängte sich die Kreatur liebe- und hilfesuchend. Kinder und Tiere waren nicht aus meines Mütterleins Nähe zu bringen. Auch das Irrationale und Plötzliche, was zum Wesen der Heiligen gehört, war ihr in oft erschreckendem Maße eigen.«

Dennoch, wie auch Feder oder Pinsel sich mühen, sie können von einer verschwundenen Gestalt nur die typischen Merkmale zurückrufen: das letzte, ganz einmalige Geheimnis der Individualität ist an das Leben geknüpft, an den Kreuzungspunkt des Geistigen mit dem Körperlichen, es west in allem Unwiederbringlichen, das der Gegenwart gehört, in Blick und Lachen, in Miene, Geste und Bewegung – Schriftzüge, die keine irdische Chronik festhält. Wie nach dem Zeugnis der Zeitgenossen der heilige Franziskus vor dem Papste Innozenz stehend aus Entzücken keinen Augenblick stillhalten konnte, sondern immer tanzend hin und her fuhr, dieses Bild bringt mir die quecksilberne Überbeweglichkeit meines Mütterleins aus ihren jungen Jahren ins Gedächtnis. Hätte dieses liebeglühende Herz nur einigen Sinn für den Wert einer fraulichen Heimstätte besessen, für die Wohltat der Ordnung und Harmonie, für ein wenig Maß und Takthalten, es wäre nirgends so wohnlich gewesen wie in ihrer Nähe. Dem aber widersprach das Sprunghafte ihres Wesens und ihre Franziskusnatur, die keinerlei Besitz wollte und kaum das Notdürftigste anders denn als lästiges Anhängsel empfand. Während alles Lebewesen sich unwiderstehlich zu ihr gezogen fühlte, Tiere, Kinder, junge Leute, ergriff das Unbeseelte bei ihrem Erscheinen 46 alsbald die Flucht; das Wort von der»Tücke des Objekts« schien eigens für sie erfunden. Das Schreibzeug wanderte aus, Kaffeelöffel rotteten sich irgendwo zusammen, um nicht zum Frühstückstisch zu kommen, das ganze zum Dasein unentbehrliche Kleinvolk des Hausrats war um sie her in beständigem Aufruhr. Wenn ich mich mühte, Ordnung zu stiften, so wurde sie ärgerlich oder lachte mich aus: Wozu den Umstand um ein Nichts! Bequemlichkeiten verachtete sie, nicht aus asketischem Hochmut, sondern weil sie nichts damit anzufangen wußte. Ihr Anzug durfte weder Geld noch Zeit kosten und hatte nur den urtümlichsten Zweck, die Blöße zu decken. Sie sah durchaus nicht, was sie anzog, und versicherte aufs bestimmteste, daß die anderen es auch nicht sähen! Nur eines war ihr in späteren Jahren unleidlich: daß ihr Haar ergreiste, denn ihr starkes Lebensgefühl vertrug sich nicht mit der Vorstellung von Alter und Verfall, wie sie sich auch am liebsten mit jungen Menschen umgab. Sie schlang also ein schwarzes Schleiertuch ganz enge um die Stirn, was ihren von der Zeit und dem Geist immer mehr durchgemodelten Zügen zuletzt etwas ganz Übersinnliches gab. Damit man nicht glaube, daß die Mutter kahl sei, schob ihr gelegentlich einer der Söhne schnell einmal in Anwesenheit Fremder den Schleier weg, daß der Silberglanz aufschimmerte, wodurch sie sich jedoch geschädigt fühlte, denn sie wollte sich nicht alt wissen.

Wenn mein Vater gelegentlich halb scherzend äußerte, er halte es mit dem Mutterrecht der Urvölker, weil der Frau, die allen Schmerz und alle Last der Mutterschaft trage, auch das erste Recht an die Kinder zustehe, da war er sich schwerlich bewußt, 47 daß es in der Tat ein Wiederaufleben jener urzeitlichen Zustände war, das in seinem Hause herrschte und auch über das künftige Geschick seiner Kinder entschied. Seine Gattin diente ihm mit Begeisterung und verehrte jedes seiner Worte als Orakel, aber ihre Kinder waren ihr Eigentum, das sie allein verwaltete, ihm nur so viel Mitverwaltung lassend, als es ihn bei seiner Arbeit nicht beschwerte. Er konnte auch nichts tun als abdanken, weil seine von den langen politischen, literarischen und wirtschaftlichen Kämpfen zerriebenen Nerven der Doppelaufgabe nicht mehr gewachsen waren. Auch war er ja sicher, daß ihr Einfluß der edelste war und aus den höchsten Gesichtspunkten geübt. Nicht, wie es sonst Frauenart ist, mit der Richtung auf den äußeren Erfolg, sondern einzig auf die höheren Werte. Sie erschwerte sogar ihren Kindern unbedenklich das ohnehin so schwierige bürgerliche Fortkommen, indem sie sie zur äußersten Unbeugsamkeit in allen grundsätzlichen Fragen erzog und sie damit von Anfang an mit der Welt, wie sie war, in Gegensatz brachte. Auf drei höchst eigenartig abgeprägte Söhne (ich spreche nicht von dem Jüngsten, Leidenden und von ihr Betreuten, bei dem es sich von selbst verstand) übertrug sie ihr Weltbild, auch wo es sich anders als beim Vater schattierte, durch eine zum Teil vorgeburtliche Beeinflussung. Noch bis ins dritte Glied dauerte unter gänzlich veränderten Lebensbedingungen in gewissem Sinne ihr Walten: sie gab oder ergänzte den Enkeln die Namen und wirkte auf ihre Erziehung soweit ein, daß sie auf ihren späteren, ganz anders verlaufenden Bahnen immer noch das Vorbild der Nonna (Großmutter), wenn auch nicht mehr wegweisend, so doch als stille Mahnung über sich fühlten. Daß die 48 kleinbäuerlich so anspruchslose Frau nach dem Tode des Vaters und unserem Auszug aus dem Vaterland den ganzen Clan wieder so fest zusammenfaßte, daß keines sich weiter als auf die Entfernung einer Tagereise von ihr niederließ, erschien allen als das von selbst Gegebene. Wie es auch gar nicht anders denkbar war, als daß ihr Ältester, der daheim die seinen Gaben angemessene Stellung nicht finden konnte, Florenz als ärztlichen Wirkungskreis wählte, damit seine Mutter mit dem leidenden Jüngsten ihm in das milde Klima folgen konnte.

Nichts mache so unentbehrlich wie die Liebe, sagt Werther, und dies war auch das Geheimnis der alles überwiegenden mütterlichen Macht in unserem Hause: die Liebe, die Nestwärme, mit der sie alle von ihr Geborenen umfangen hielt und die sie auch weiterhin auf alles Atmende ausdehnte, daß es bei ihr unterschlüpfen und sich vorwärmen konnte gegen die kalten Lüfte des Lebens. Am engsten – oft schmerzhaft enge – hielt sie die Tochter an sich gebunden, obgleich gerade diese, in deren Innerem sich, gleichfalls angeborenerweise, die väterlichen Ströme mit den mütterlichen kreuzten, ihr am häufigsten in grundsätzlichen Fragen widerstrebte. Verstandesmäßig fußte sie auf den Lehrsätzen der französischen Revolution, deren Formelhaftigkeit ihr nicht aufgehen konnte, weil sie sie mit den Glutströmen ihres Herzens erfüllte und bei der Ausübung in lauter schützende und nährende Liebe verwandelte. Wer kann Liebe, die zur Tat wird, widerlegen? Wenn sie in Einzelheiten irrte, das Ganze ihres Wesens war Liebe, die niemals Irrtum ist. Und vor dieser Urgewalt gab es kein Entrinnen. Aber alle Liebe ist grausam, selbst die heiligste, die Mutterliebe. Um mehr und immer mehr geliebt zu sein, läßt 49 sie sich auch die Pein des andern Teils nicht reuen. Bei mir ging diese Pein auf die früheste Kindheit zurück. Bei einem Besuch in Stuttgart sah ich einmal vom Fenster aus eine Schar kleiner graugekleideter Mädchen, die paarweise von einer in dasselbe Grau gekleideten Schwester durch die Straßen geführt wurden. Es seien die Waisenkinder, sagte Mama und erzählte mir von dem trostlosen Schicksal solcher armen Geschöpfe, die keine Eltern mehr hätten und ohne Liebe und Freude unter der Obhut fremder Personen heranwüchsen. Sie wußte nicht, was sie tat, sie ahnte nicht, die liebendste aller Mütter, daß sich mit einem Schlag die Welt für mich verwandelte und ich eben schon selber graugekleidet und im Herzen frierend als Waise in der grauen Elendswolke mit dahinzog.

Von jenem Tage ab stand mein Leben unter dem Schatten des Todes. Die holdeste Geborgenheit des Kindes, die Mutterliebe, wandelte sich mir in die immerdrohende Gefahr des Verlustes. Mit unstillbarem Liebeshunger rüttelte das leidenschaftliche Mutterherz an dem kindlichen Herzen, das noch den Gesundheitsschlaf im Unbewußten hätte schlafen sollen. Immer sprach sie mir von ihrem Tode, sie schrieb Abschiedsbriefe, von denen niemand wußte als ich. Sie meinte es so, denn als sie nur kaum die Mittagshöhe erreichte, glaubte sie sich trotz ihrer Lebensfülle steinalt und begann mich auf den Abschied vorzubereiten, der in Wahrheit noch unendlich ferne lag, von mir aber Tag für Tag vorausgenommen wurde. Niemals erfuhr sie, was ich dabei litt; ich wehrte mich dagegen, sie und das Nichtmehrsein in Einen Gedanken zusammenzufassen und ging darum nie auf ihre dunklen Ahnungen ein. 50 Sie selber pflegte auf jede augenblickliche Bedrängnis mit einem vulkanischen Gefühlserguß zu antworten, wonach sie wieder völlig im Gleichgewicht war. So stellte sie sich gar nicht vor, in welche Tiefen bei dem Kind ihre Worte hinuntersanken. In ihren mittleren Jahren wurde sie oft von schweren krampfartigen Zufällen betroffen, die immer dann eintraten, wenn ihre zwei ältesten Söhne in wilder Knabenwut sich bei den Haaren hatten und ich, um Unglück zu verhüten, dazwischensprang. Sie wurde von Zuckungen geschüttelt, verlor die Besinnung, der Atem pfiff und ging vor Erregung aus: es war jedesmal wie ein Vorstadium des Sterbens. Während ihre zwei Streithähne das Weite suchten und der jüngere Erwin gleichfalls schon die Klinke in der Hand hatte, rissen Josephine und ich ihr die Kleider auf, rieben sie, besprengten sie mit Wasser, schleppten sie auf ihr Bett und brachten sie allmählich wieder zu sich mit der Aussicht, am andern Tag den schrecklichen Auftritt sich erneuern zu sehen. Zum Glück hatte sie meist nach einer Stunde schon alles abgeschüttelt, und es war dann gar nicht, als hätte sich ein Gewitter entladen, sondern als wäre ein Schaum verweht. Der Arzt tröstete mich, daß die Anfälle ungefährlich seien und sich nach wenigen Jahren verlieren würden. Dem war auch so, besonders weil der tägliche Anlaß, die Kampfwut der beiden Knaben, mit der Zeit sich legte und in treue Kameradschaft überging. Mir aber blieb im tiefsten Grund eine Schicht unerlöster Bangigkeit zurück, auf die sich immerzu neue solche Schichten legten und die mich lange Zeit jeden Morgen wünschen ließ, daß die Sonne nicht mehr aufgehen möchte.

Daneben war die unbegreifliche Frau, die mit ihrem 51 Bekennermut immer bereit war, ihr Jahrhundert in die Schranken zu fordern, in allen äußeren Dingen hilflos, so hilflos wie nur je eine Frau des neunzehnten Jahrhunderts, der Zeit, wo die deutsche Frau keinen anderen Lebensraum hatte als das Haus. Keinem der sie kannte wäre es eingefallen, daß sie jemals mehr eine Reise unbegleitet machen (als junges Mädchen tat sie es), allein im Gasthof nur eine Nacht schlafen oder ein Geldgeschäft selber besorgen könnte. Sie hat auch kaum je einen Tag verbracht, ohne wenigstens eines ihrer Kinder um sich zu haben. »Ich weiß mir nicht zu helfen ohne mein junges Mütterlein«, schrieb sie mir nach München, als ich mich nach des Vaters Tod vorübergehend von ihr gelöst hatte, um mir auswärts ein Fortkommen zu suchen. So herrschte sie gleichzeitig durch unbeugsame Willenskraft wie durch äußerste Hilflosigkeit. Bei ihrer Unbedingtheit, die immer das ethisch Richtige, aber nicht das sachlich und psychologisch Mögliche wollte, bedurfte sie auch einer leisen Hand, sie an den ihrer wartenden Klippen vorbeizusteuern, soweit sie sich das gefallen ließ. Die Söhne konnten ihr diesen Dienst nicht leisten, denn mit ihnen, den ebenso Unbedingten, mußten Reibungen am sorgfältigsten vermieden werden. Es war eine ängstliche Aufgabe, sie da schweigen zu machen, wo man ihr grundsätzlich recht gab, wo aber durch Reden das Übel nur verdoppelt werden konnte. Gewohnt, mit den Familiengliedern vorsichtig wie mit Sprengkörpern umzugehen, glückte es mir doch immer, daß sich die Sturmwellen unschädlich verliefen und daß die aufgeregten Vorgänge dem Vater, dessen erschöpfte Nervenkraft der Arbeitsruhe bedurfte, beinahe völlig unbekannt blieben. Ich selber aber wurde wie die Magnetnadel, die zwar stetig ihren Pol hält, aber immerzu leise 52 zittert. Dieses Zittern, das niemand sah, wurde mit der Zeit zur heimlichen Marter meines Lebens. Es kam dahin, daß ich sie nicht schlafen sehen konnte, ein Schauder trieb mich weg, als müßte dieser Schlaf nun gleich in den letzten übergehen, von dem sie mir so oft gesprochen hatte. Jeden Morgen horchte ich mit Bangen, ob sie wirklich noch unter uns atme. Legte ich den Kopf an ihre Brust und hörte das Schlagen ihres Herzens, so meinte ich, dieses tapfere Herz, das schon so viel durchgekämpft hatte, müßte nun gleich müde werden und die Arbeit einstellen. Ich wurde abergläubisch und achtete auf Träume, und allenthalben sah ich böse Zeichen: wenn eine Gruppe Menschen vor unserer Haustüre stand, so dachte ich gleich, ob nicht ein Unglück geschehen sei, und noch fühle ich die Herzbeklemmung nach, mit der ich später einmal in Florenz von einer längeren Reise zurückkehrend in der Droschke einer anderen Droschke nachfuhr, worin eine schwarzgekleidete Dame mit einem großen Blumenstrauß im Arme saß. Richtig hielt sie vor unserer Tür; es war eine dankbare Patientin Edgars, die ihrem Arzt Blumen brachte, während ich darauf gefaßt war, einen Toten im Hause zu finden. – – So erfuhr ich dauernd den seltsamsten aller Zustände, immer mitten im Leben zu stehen, einem reichbewegten, hochgehenden, und zugleich abseits vom Leben, in Angst und Tod.

Darf ich das Schicksal anklagen, daß es meine Jugend mit so viel Bedrängnissen umgab? Was wäre geschehen, wenn gar keine Tochter dagewesen wäre, zu schlichten und zu befrieden? Hätten die hemmungslosen Brüder sich früher bemeistern gelernt, wenn niemand zwischen sie und die Folgen ihres Zorns getreten wäre? Hätte mein rasches Mütterlein sich durch die 53 gehäufte Erfahrung endlich leiten lassen? Nutzlose Frage. Mich hatte die Natur auf diesen Posten gestellt, es blieb mir keine Wahl als ihn mit meiner Person decken. Und wenn ich es später dem armen, selbst soviel gequälten Mutterherzen vorwerfen wollte, mich in meinen zarten Jahren so wenig geschont zu haben, so mußte ich mir doch gleich selber entgegnen, daß ja auch sie es war, die mir als ihr Blutserbe die Spannkraft mitgegeben hatte, die schwersten Dinge aufzuheben und in einen leichteren Luftraum mit hinaufzunehmen: aus der väterlichen Erbmasse allein wäre mir diese Fähigkeit nicht gekommen. So blieb ich doch immer meinem Vater dankbar, daß er, statt mir eine gewöhnliche schwäbische Hausfrau zur Mutter zu geben, sich das seltsame Geistwesen aus einem anderen Reiche, Marie von Brunnow genannt, zur Lebensgefährtin gewählt hat. Geschah es in vorgeburtlicher Voraussicht meiner Aufgabe, daß mich die beiden, wie mir meine Mutter oft erzählt hat, ganz bewußt mit allen inneren und äußeren Merkmalen, so und nicht anders, ins Leben riefen? Und daß ich, noch im ungeformten Seelenstoff webend, hörte und dem Ruf entsprach, hat das nicht am Ende wirklich so sein müssen?

Denn auch zwischen ihr und ihm stand ich als die natürliche Verbindungsbrücke. Ihre vergötternde Liebe, die immer angstvoll an seinen Augen hing, konnte ihm nur das Eine nicht geben, das sie selber nicht besaß, Ruhe und Harmonie, deren der Dichtergenius bedarf. Ich hatte genug vom Wesen beider in mir, um ihn wie sie zu verstehen. Dafür hatte mir die Natur schon ein äußerliches Zeugnis aufgeprägt, indem sie mir in der linken Handfläche eine genaue Wiederholung der zahlreichen, zarten, vielverästelten und vieldurchschnittenen Linien seiner 54 beiden Hände mitgab, worin sein höchst verfeinertes Gemütsleben und seine von Gegengewalten durchkreuzte Laufbahn ihr schwermütiges Siegel wiesen. Die von der Mutter stammenden Linien der Rechten, die wenigen, einfachen, langauslaufenden, wurden als Schwung und Kraft und Freude gedeutet. Mein Vater, der auf alle geheimen Runenzeichen achtete, entdeckte als erster in meinen Kinderhändchen das seltsame Naturspiel, ohne nach der Auslegung zu suchen, die ich erst viel später durch Sibyllenmund empfing. Diese zwei gegensätzlichen Blutmächte haben dann auch abwechselnd mein Leben regiert, freilich nicht in der grundeinfachen Weise, daß mir von der einen Seite alles Freudige und Lichte, von der anderen alles Dunkle und Tiefe vererbt wäre, denn auch mein Vater war von Hause aus ein Sonnenmensch und nur durch die Ungunst einer schwächlichen und ärmlichen Zeit, die die Wucht seiner Muse nicht tragen konnte, getrübt und gehemmt worden, und andrerseits war die Mutter nicht bloße Urkraft, nicht bloßes Schwungrad, sondern ebenso schmerzvolle Liebe, Mater dolorosa und Mitträgerin alles Menschenleids. Also waren die Blutströme der beiden schon jeder in sich selbst widerspruchsvoll, bevor sie sich in meinen Adern zu neuem, noch widerspruchsvollerem Blutgebilde mischten. Wir alle sind ja nicht wir, sondern hängen mit unserem Sein und Tun von denen ab, die vor uns waren.

Es hat wohl nie ein Familienhaupt gegeben, das weniger von den Angehörigen forderte als mein Vater. Dieses Wenige: Einschwingen in seinen Rhythmus, Sicheinfühlen in seine augenblicklichen Gemütsbedürfnisse, konnte er nur bei der Tochter finden, die schon als Kind die Eigenheit hatte, die 55 Seelenschwingungen der anderen in sich nachzittern zu fühlen. Die Söhne in ihren Entwicklungskrisen waren zum Eingehen in ein anderes Innenleben nicht geeignet. Wenn ich leise in sein Zimmer trat, glänzte er auf, meine Hand auf seiner Stirne nahm ihm den Kopfschmerz weg, mit mir am Arm durch die Straßen zu gehen machte ihn selig, denn mein Mütterlein mit ihrer stürzenden Geschwindigkeit und dem beträchtlichen Größenunterschied zwischen ihr und dem hochgewachsenen Gatten konnte nicht Schritt halten. Als ich ein Jahr vor seinem Tod nach dreimonatigem Aufenthalt in Frankreich wieder dem Rauch des Heimwesens entgegen dampfte, hielt er es in der Erwartung nicht aus, er mußte mir zu Fuß bis Reutlingen entgegengehen, um mich eine halbe Stunde früher in die Arme zu schließen. Wohl in noch höherem Grade als sie bedurfte er meiner, doch hatte er nichts Forderndes und wartete schonend ab, was Kindesliebe ihm geben sollte. Aber wieviel zwingender ist doch die Bindung an den Schoß, der uns getragen, an die Brust, die uns genährt, an die Hand, die unsere ersten Schritte geleitet hat, als an das väterliche Haupt, wie verehrungswürdig es auch sei. Ich kann mich von dem Vorwurf nicht freisprechen, ihm weniger Zeit gewidmet zu haben, als ihm wohlgetan hätte. Nur daß ich in seinem letzten Briefwechsel mit Paul Heyse seine Antigone hieß, weil ich ihn auf Wanderungen scheinbar sorglos zu umsorgen wußte, tröstete mich später über manches Versäumnis, dessen Dorn ich im Herzen trug.

Auch bei der politischen Meinungsverschiedenheit, die durch den deutsch-französischen Krieg in die Ehe der beiden Achtundvierziger eindrang, hielt mein Dazwischenstehen den 56 inneren Riß zusammen. Denn meine Mutter, die Offizierstochter, verabscheute das Waffenwerk und sah in jedem Krieg nur immer eine Schlächterei; einen gerechten Krieg konnte es für sie überhaupt nicht geben, am wenigsten, wenn der Hohenzollernfürst, der die Revolution blutig niedergeworfen hatte, an der Spitze stand. Mein Vater, der Dichter, dessen Seherblick über die Jahrhunderte hinging und tief in die Völkerseelen eindrang, ergriff den geschichtlichen Augenblick und begrüßte als höchste Wunscherfüllung das neugeborene Reich, »nicht ein römisches Reich deutscher Nation, hohen und hohlen Klangs von ehedem, sondern zum erstenmal im Lauf der Geschichte ein deutsches Reich«. Es hatte schon über seinen Knabenjahren als ungreifbare Herrlichkeit und Heiligkeit geglänzt in Gestalt der alten Reichsadler, die seine kurz zuvor noch reichsunmittelbar gewesene Vaterstadt Reutlingen aufbewahrte. In diese Erkenntnistiefe konnte ihm seine Gattin nicht folgen; für sie gab es keine geschichtliche Wirklichkeit, nur das Prinzip, das ja schon mit ihr geboren war und sich, sobald es ihr von ihrem Hauslehrer auch begrifflich nahegebracht wurde, blitzartig und für immer mit ihrem Bewußtsein verband. Dabei übersprang sie das Nationale zugunsten einer künftigen Menschheitsgemeinschaft; ihre Söhne im Gären der Jugend teilten mehr oder weniger ihre Denkart. Ihr zerriß es das Herz, anders fühlen zu müssen als der Mann den sie anbetete, aber was sie für wahr hielt, konnte sie weder ableugnen noch unterdrücken. Mein Vater vermied Erörterungen und tat was sein Gewissen forderte, indem er in der Öffentlichkeit für seine Überzeugung eintrat, die für ihn kein Bruch mit seiner revolutionären Vergangenheit war, sondern 57 nur die Umbiegung des allzu hoch gespannten Wunschziels einer großdeutschen Republik in das Erreichbare: ein Deutschland ohne Österreich. Der Süddeutsche, der während des Bruderkriegs mit ganzer Seele auf seiten Österreichs gestanden hatte, mußte dieses edle Glied am Leibe des neuen Reiches schmerzlich vermissen, aber die Wiedervereinigung des Getrennten blieb ihm »der sichere Zukunftsgedanke«, dessen Vertagung die Lebenskraft der Gegenwart nicht beeinträchtigt. In seinen frühen Schriften finden sich die Worte »deutsch« und »Deutschland« mit einer Häufigkeit, die damals nicht gewöhnlich war, und immer hat das letztere einen Sehnsuchtsklang, den Klang der unerfüllbar scheinenden Hoffnung. Sein ganzes Dasein, das politische Ringen wie das Dichten und Forschen, war Dienst an diesem unsichtbaren Deutschland. Jetzt war die Hoffnung erfüllt, und darauf kam es ihm doch vor allem an, daß Deutschland war: sein Haus würde es sich mit der Zeit schon wohnlich einrichten. Je reiner und selbstloser beide Eltern zu ihren Idealen standen, desto schmerzhafter war die Abweichung. Die zwei engverbundenen Menschen, die sich gerade im Dienen für das Volk gefunden hatten, waren mit einem Male keine Zeitgenossen mehr, sie hielten verschiedene geschichtliche Stellungen. Da wollte es ein gutes Geschick, daß in meiner Person ein Damm zwischen sie geschoben war, an dem die Gegensätze sich verlaufen konnten. Ich war freilich zu jung und historisch zu unvorbereitet, um die ungeheure Bedeutung der Bismarckschen Schöpfung klar zu begreifen, und mein Vater enthielt sich jeder Beeinflussung, selbst durch ein geschichtlich belehrendes Wort. Aber anderseits war ich von Natur vollkommen unzugänglich für 58 Parteischlagwörter. »Nation« erschien mir auch gefühlsmäßig nicht als Verinselung, sondern als würdige Brücke zu einer größeren Gemeinsamkeit, wodurch die elterlichen Standpunkte gewissermaßen in mir versöhnt waren. Das Familienleben wurde nicht gestört, die Unstimmigkeiten mit Duldung zugedeckt. 59

 


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