Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Achtes Kapitel

Unser Thole

Jetzt schiebt sich ein holdseliges Bild vor den dunklen Hintergrund meiner Erinnerungen. Ein neues Leben ist in der Familie für das erloschene aufgeblüht. Ein entzückender kleiner Junge mit Goldhärchen, der zu Besuch gekommen ist, hat sich's auf meinem Schoße bequem gemacht und kaut an einer Kastanie (wir sind im Spätherbst 1883 und wohnen noch am Viale Margherita). Als er sie genügend durchgekaut und durchgespeichelt hat, nimmt er sie aus dem Mund und will sie freundlich in den meinigen stecken. Es ist unser kleiner Thole, Erwins Söhnchen, später unter dem Namen Otto Orlando Kurz als Schöpfer bedeutender Kirchen- und Profanbauten berühmt geworden. (Den zweiten Namen Orlando hatte ihm seine Großmutter im Hinblick auf meines Vaters Übersetzung des Orlando furioso hinzugegeben.) Ich nenne ihn hier mit seinem Kindernamen, wie er lebenslang im Familien- und Freundeskreis genannt wurde, da ich nur von seiner menschlichen Erscheinung erzählen will; von dem genialen Baumeister müssen die Fachgenossen sprechen. – 232 Nach unserem Umzug in die Via delle Porte nuove, als seine Eltern mit uns das neue Haus teilten, wurde er mein täglicher beglückender Spielkamerad, dem ich meine »Tantenlieder« widmete. Mehr als alle Kinder, die ich jemals kannte, war er »Kind« in des Wortes unwiderstehlichster Bedeutung. Unendliche Zeit hat er mir abgeschmeichelt, unzählige Male mein Tun gestört, er brach mitten herein in meine heiligsten Arbeitsstunden; unmöglich, das Kerlchen abzuweisen, wenn es einen Schurz voll Spielsachen brachte und je und je ein zerbrochenes Stück davon großmütig mir schenkte. Jedes Wort und jede Bewegung war Liebreiz, der ebenso aus der liebenswürdigen Gemütsart wie aus der Anmut der beweglichen Gliederchen floß. Eines Morgens kam er splitternackt hereingesprungen und sagte strahlend vor Freude, indem er sein wohlgebautes Körperchen vor mir hin und her drehte: Sieh her, das alles hat mein lieber Papa gemacht! Er glaubte, sein Vater habe ihn ebenso wie seine anderen Werke auf der Drehscheibe modelliert. Köstlich war er anzusehen, wenn er im blauen Kittelchen mit über der Stirn geschnittenen Haaren durch den Garten lief, mächtig mit dem großen Strohfächer wedelnd, der in der Küche zum Feueranmachen diente und den er jeweils der Köchin vom Herde stahl. Wenn ich durch den Garten ging mit dem Schleppkleid, das eine närrische Mode auch für den Tag beliebte, so sprang er dienstfertig herzu, hängte die Schleppe auf den Arm und spazierte wie ein zierlicher kleiner Page hinter mir her, obgleich er nie von einem solchen gehört noch einen abgebildet gesehen hatte, rein aus Wohlwollen für das Kleid, damit es nicht Schaden nähme. So anstellig er sich in allem Körperlichen entwickelte, so schwer 233 fiel es ihm aber, sich sprachlich auszudrücken. Zuerst wollte er wie alle deutschen Kinder in Italien nur italienisch sprechen, doch auch in dieser, der Zunge so entgegenkommenden Sprache brachte er es über den Besitz weniger Hauptwörter, womit er seinen kindlichen Bedarf bestritt, lange nicht hinaus. Dem Verbum mit seiner schlangenhaften Wendigkeit ging er aus dem Wege. Später kam erst das Deutsche daran, aber die Muttersprache machte seiner Zunge noch mehr zu schaffen. Das Kind galt deshalb im Hause für unbegabt, besonders sein Zio (Onkel) Edgar, der gewohnt war, alle Begabung in der Familie zuerst sich auf sprachlich-poetischem Gebiet äußern zu sehen, glaubte diesem kleinen Neffen wenig Glanz für die Zukunft prophezeien zu dürfen. Ich wußte auch nicht, was von den Anlagen meines Lieblings denken, wenn ich sah, daß es der Nonna (Großmutter) nie gelang, ihm den Trojanischen Krieg, mit dem sie ihre sämtlichen Kinder entzückt hatte, auch nur zu Ende zu erzählen und daß ich selber seine Aufmerksamkeit ebensowenig durch ein Grimmsches Märchen zu fesseln vermochte. Seine Augen gingen währenddessen rundum spazieren und blieben an allen Gegenständen hängen, nicht mit der Gedankenlosigkeit des unbegabten sondern mit der Unachtsamkeit eines anderweitig beschäftigten Kindes. Erst als er zu zeichnen anfing, erkannte man, wie genau der Knabe die sichtbaren Dinge in sich aufgenommen hatte und wie bei ihm alle Wahrnehmung durch das Auge ging; hatte er doch schon als Anderthalbjähriger einmal vor einem Waldeingang seine Großmutter, als sie ihn einen falschen Weg tragen wollte, durch Schreien und Strampeln auf den Irrtum aufmerksam gemacht. Beim Größerwerden gab er sich am liebsten mit 234 Zeichnen und Modellieren von Rittern zu Pferde ab und stolzierte dann auch selbst als Ritter durch den Garten, bis einmal die Ritterschaft mit ihm durchging, daß er wie ein richtiger kleiner Orlando furioso mit seinem hölzernen Schlachtschwert in unserem herrlichen Lilienbeet wütete und eines der blühenden Häupter ums andere niederlegte, wonach er stolz vor seine Mutter trat: Ich habe gekämpft und habe sie alle erschlagen. Ein Tag der Trauer in den Annalen des Hauses. Als er endlich sprechen lernte, deutsch und italienisch, gelangen seiner Unschuld wahrhaft dämonische Einfälle, wie sie ein abgefeimter Kobold gerne auf ahnungslose Kinderlippen legt. So einmal gegen den König Karl von Württemberg, als dieser den Winter mit seinem Hofstaat in Florenz verbrachte und unseres Tholes warmer Gönner und Spielkamerad geworden war. Der Knabe bedrängte ihn immerzu, daß er ihm seine Krone zeige, und eines Tages fragte er ihn mit allem Schmelz seines Schmeichelstimmchens: Bist du der Erlkönig oder bist du der König von das Kartenspiel? – zwei Fragen, wie sie unter den obwaltenden Umständen nicht anzüglicher gestellt werden konnten. – Dieser wohlgesinnte, um seiner Weltfremdheit willen vielfach verkannte Monarch war immer glücklich, wenn er Mensch mit Menschen sein konnte. Als er den Kleinen auf der Straße zum ersten Male sah, ließ er den Wagen halten und stieg selber aus, um ihn zu begrüßen. Siehst du, sagte er ihm, wenn du ein Prinz wärest, so würde ich sitzenbleiben, aber vor dem Enkel von Hermann Kurz steigt der König aus dem Wagen. Thole ließ sich solchen Vorzug recht gern gefallen, und als ihm sein Rechenlehrer befahl, ihn mit Sie anzureden, antwortete der Kleine 235 unbedenklich, wenn er zum König Du sagen dürfe, werde er zu ihm nicht Sie sagen. Seine Eltern sagten von ihm damals, er habe das »bordierte Hütlein« seines Ururahns auf, jenes Reutlinger Senators mit dem spanischen Leibfluch, der so viel auf seine Würde hielt, daß er einmal einem Gänserich, der es wagte ihn unter diesem Abzeichen anzuschnattern, mit seinem Ehrendegen den Kopf abhieb. Es hieß von diesem bordierten Hütlein, daß es durch alle Folgegeschlechter immer bei irgendeinem Träger des alten Namens wieder habe zum Vorschein kommen müssen. In der jüngsten Generation trug es unser Thole. Er verstand es trefflich schon als Kind, sich zur Geltung zu bringen. Wenn ihm ein Wunsch abgeschlagen wurde, so warf er sich zu Boden und schrie so lange: Thole vuole! (Thole will!), bis er bekam, was er verlangte. Bei diesem Kinde war kein Aufkommen weder gegen seine Unart noch gegen seine Liebenswürdigkeit. Wenn die Eltern einmal festblieben, so beeilte sich die Nonna ihm den Willen zu tun.

Eines Tages hatten wir allesamt in der Villa Giusti auf dem Romito Besuch gemacht. Auf dem Heimweg, da seine Mutter sein kleines Schwesterchen trug, setzte sich's der fast vierjährige Bub in den Kopf, auch getragen zu werden, und zwar von mir. Er bat und bettelte: Trag mich, trag mich, wenn ich groß bin, trag ich dich. Ich nahm ihn auf, und ob ich wollte oder nicht, ich mußte den schweren Jungen, der sich anklammerte und nicht mehr von meinem Arm herunterging, die weite Strecke vom Romito bis in die Via delle Porte nuove durch den Staub und die Müdigkeit des heißen Sommerabends tragen, wobei er immerzu seine Versicherung erneuerte, mir, wenn er groß sei, den Dienst erwidern zu wollen. 236 Als ich ihn endlich zu Hause abstellte, schärfte ich ihm ein, daß ich ihn ganz gewiß zu seiner Zeit an dieses Versprechen mahnen würde!

Als er heranzuwachsen begann und nun die Schultage kamen – jene Tage, von denen es bei ihm hieß: sie gefallen mir nicht –, da legte unser Thole vorerst gar keine Ehre ein. In der deutschen Schule von Florenz lernte er nicht, streunte herum und gaffte die Häuser an: daß er schon damals, so klein er war, die großen Kunstdenkmäler, für die Kinder sonst so früh keinen Sinn haben, in seine Vorstellungswelt aufnahm, sollte sich erst später erweisen, zunächst beunruhigten sich die Freunde des Hauses und drangen in mich den Vater zu warnen; was sollte denn einmal aus dem kleinen Tagedieb werden? – Dies war die Antrittsrolle eines Menschen, der später nicht eine Minute unausgenützt und unausgekostet ließ, indem er die vierundzwanzig Stunden des Tages durch Ausdehnung auf die doppelte Zahl zu bringen wußte. Denn kaum waren seine Eltern mit ihm nach München gezogen, um ihn dort in die strenge deutsche Schulordnung zu bringen, so erwachte in dem Knaben der brennende Ehrgeiz, der ihn durchs Leben führen sollte, »immer der Erste zu sein und vorzustreben den andern«. Darin kam ihm nicht nur seine starke Begabung und der rastlose Eifer zustatten, sondern auch der Vorteil, daß er die Weite einer schon in sich aufgenommenen hohen Kulturwelt in die engen Begriffe der Schule mitbrachte.

Als Sechzehnjährigen sah ich ihn bei einem Besuch in München wieder, schön und schlank mit der schwingenden Kraft seiner von der südlichen Sonne frühe geschmeidigten und jetzt schon in aller Art von Sport geübten Glieder. Und da ergab 237 sich's, daß ihn die Zia an die Erfüllung seines kindlichen Versprechens mahnen konnte. Ich hatte durch die Lösung eines Preisrätsels ein feines Damenfahrrad gewonnen, und natürlich wurmte mich's nun, daß ich nicht fahren konnte, weil weder die engen Straßen noch die ansteigenden Höhen von Florenz zum Fahrenlernen sehr geeignet waren. Ich nahm daher das Fahrrad auf die Reise mit, und in Bogenhausen wo ich ein abgelegenes Landgut bewohnte, hatte nun der Neffe als Fahrlehrer Gelegenheit, den in der Kindheit empfangenen Dienst zu vergelten, denn bei der Anziehungskraft, die jeder ragende Gegenstand, sei es Baum oder Pfosten, auf den Fahrschüler übt, lag die Zia jeden Augenblick samt dem Fahrrad in seinen Armen. Was war damals schon für ein gewandter, weltoffener, in vielen Sätteln gerechter Mensch aus dem kleinen faulen Schlingel geworden!

Nur einmal noch erregte seine Entwicklung in der Familie Besorgnis, als er aus dem Studium der Elektrotechnik plötzlich in die Architektur hinüberwechselte, was als ein Ausdruck innerer Unsicherheit erschien. Zum Glück war sein Vater einsichtig genug ihm nichts in den Weg zu legen, und es zeigte sich, daß der Sohn seinen Beruf richtig erkannt hatte. Von da an war sein Weg durch viele Jahre – man kann wohl sagen: ein fortgesetzter Siegeslauf. Ich sehe ihn vor mir, wie er als blutjunger Architekt nach der ersten gewonnenen Preisbewerbung mit einem blütenüberschütteten Rosenstock zu seiner Mutter kam, um ihr an seinem eigenen Geburtstag scherzhaft zu einem solchen Sohn Glück zu wünschen. Oft und oft hatten die beglückten Eltern Gelegenheit, solche Glückwünsche von dritter Seite zu empfangen, bis Tholes Gelingen zur 238 Selbstverständlichkeit wurde und man sich nur wunderte, wenn ihm einmal der Erfolg ausblieb. Durch ein seltenes Zusammenwirken von Begabung und Glück erhielt er in jungen Jahren, ohne Gönnerschaft von oben, die bedeutendsten Aufträge: eine erstaunliche Menge großer Werke, wie Kirchen, Schulen, Villen, Häusergruppen und lange Straßenzeilen entströmten neben den ebenso zahlreichen, nicht zur Ausführung gelangten Preisentwürfen seiner überreichen, immerbereiten Erfindungskraft. An den von ihm und seinem Freund Herbert geschaffenen Straßenzügen in München fällt häufig bei der strengen Linienführung des modernen Baukörpers eine eigenartig reizvolle, an Goldschmiedearbeit erinnernde Ornamentik von leicht geschwungener Grazie auf, die etwas geheimnisvoll Symbolhaftes zu sagen scheint und wie ein persönliches Siegel des Erfinders wirkt. Sein Wahlspruch: Mit Freuden hindurch! den er im Exlibris führte, entsprach so recht der Tonart seines damaligen Lebens. Und wie glänzte seine schlanke, biegsame Erscheinung, die immer den Stempel seines sonnigen Geburtslandes behielt, unter den schwereren Kameraden. Ich sehe ihn noch vor mir als Tänzer im engen schwarzen Seidengewebe und rotem umgewundenem Mantel, zwei mächtige Stierhörner über der Stirn, wie er sich im federnden Schwung durch das Gewühl der Tanzenden schlingt. Und wieder sehe ich ihn im nächtlichen Hochwald an der Isar beim Sonnwendfest, wie er als Erster durch das noch kaum gesunkene Johannisfeuer springt, eine junge Partnerin mit langflatterndem Schleier mit sich durch die Glut hinüberreißend, denn wie hätte er einem anderen den Vortritt gelassen! Und wie er, sobald nur die anderen folgten, gleich mit zwei Begleiterinnen den 239 Siegfriedsprung wiederholte. – Wenn er zum Leidwesen seiner Nonna noch immer nicht viel vom Trojanischen Krieg wußte, so sah man ihm auch dieses nach, denn er erinnerte selber in dem Verein von geistigen und leiblichen Gaben an das griechische Jünglingsideal des καλὸς κ'αγαϑος. In jedem Wettkampf mußte er um den Preis ringen, sei es mit der Fülle seiner künstlerischen Erfindung, sei es mit der Schnelligkeit seines »Flamingo«, wie er sein Segelboot nannte, das ihm lange Zeit Jahr für Jahr einen Sieg in der Regatta brachte.

Unersättlich trank dieser junge Mensch das Leben und brannte die Kerze an beiden Enden mit noch stärkerem Fieber als vordem sein Onkel Edgar: Arbeit, verzehrende, nicht rastende Arbeit und daneben die wirbelnde Geselligkeit; als einzige Erholung die Anstrengungen des Sports und der weiten, fruchtbaren aber nervenaufpeitschenden Reisen, bei denen er sich so wenig wie daheim eine Ruhezeit gönnte. Denn die fremden Länder mußten ihm alles hergeben, was sie einem Geist wie diesem zu geben hatten. Die Welt lag im Feuerschein vor ihm, und so weit das Auge reichte, war alles sein, er trug es im Skizzenbuch, im Kodak, im nicht fehlenden Gedächtnis mit nach Hause. Nur für das Unsichtbare, das hinter den Dingen steht, war in seiner Anlage kein Raum.

In jenen Jahren sahen wir uns selten mehr, auch wenn wir eine Stadt bewohnten. »Frau Welt« hatte ihn in den Arm genommen und lockte ihn mit ihren Scheinbildern weg aus dem beseelteren Luftkreis, dem er durch die Geburt angehörte, mancherlei fremde Züge der Übersättigung und Unlust in sein Gesicht und Wesen zeichnend – Züge, die er mit seinem ganzen Zeitgeschlecht teilte. Es kam dazu, daß ja von allen 240 Künsten die Baukunst, auch wenn sie ewigen Zwecken dient, dennoch durch ihre Riesenkosten und die damit verbundene wirtschaftliche Verantwortung am unlöslichsten mit irdischen Belangen verknüpft ist und das Seelische des Künstlers durch die widerspruchsvolle Doppelaufgabe am stärksten belastet. Trotzdem konnte das Angeborene, in der Stille Waltende von dem Eingedrungenen nicht völlig überwältigt werden, und nach Zeiten des inneren Ferneseins fand man sich im Geistigen ganz plötzlich wieder. Die Weite und Schwungkraft seines Wollens und die vielseitige Aufgeschlossenheit, die ihn niemals zum Fachmenschen werden ließ, trug beim Wiederbegegnen über die Verschiedenheit der Lebensauffassungen hinweg.

Während des Krieges, der unseren Thole jahrelang als Fahrer zwischen Nordfrankreich, Rumänien, Italien hin- und herwarf, ging immer der Künstler mit dem Soldaten. Seine kurzen, im Telegrammstil gehaltenen Briefe, die ich aus jener Zeit bewahre, sprechen nur von den landschaftlichen, städtebaulichen, architektonischen Eindrücken, die ein inmitten der Schrecken ungetrübtes Künstlerauge aufgenommen hatte. Nach Italien kommandiert, brauchte er das Land seiner Jugend nicht zu bekriegen. Da er dem Kunst- und Denkmalschutz zugeteilt war, kam er vielmehr als Schirmer und Retter. Was er von gefährdeten Werken der Baukunst nicht schützen konnte – manches wurde von den Italienern selber zusammengeschossen –, das hielt er noch während des Untergangs mit dem Stift für die Erinnerung fest. Köstlich war es, ihn später in mitteilsamen Stunden von seinen Kriegsbegegnungen erzählen zu hören, denn er gab nur die heiteren Episoden, die er da 241 und dort auffing, zum besten. Wenn er mit seiner glücklichen Komik die Personen selber vorstellte und sie in den verschiedenen Dialekten dieser zusammengewürfelten Menschheit durcheinanderreden ließ, konnte man sich an Wallensteins Lager erinnert fühlen.

Ein Verhältnis von seltener Innigkeit herrschte zwischen Sohn und Vater. Thole besaß alle diejenigen Eigenschaften, die meinem Bruder Erwin mangelten, um sich äußerlich durchzusetzen; ein allzu zartes Gemütsleben, das sich an den frühen Lebenskämpfen wundgerieben hatte, wie auch mangelnder praktischer Sinn (das Erbe der eigenen Eltern) machte diesem alles Ringen nach Vorteil und Ehren tief zuwider und ließ ihn auch seine künstlerischen Arbeiten niemals nach ihrem materiellen Werte richtig einschätzen. Da war es Sache des viel welterfahreneren Sohnes, für den Vater zu denken, während umgekehrt der Vater in allem Ethischen immer für den Sohn maßgebend blieb. In dieser Kameradschaft fiel bald dem einen, bald dem anderen Teil die Rolle des väterlichen Beraters zu. Einen Kampf der Generationen gab es auch zwischen diesen beiden nicht: bei des Sohnes großen baulichen Aufgaben arbeitete der Vater mit, indem er den plastischen Schmuck der Fassaden oder figürliche Darstellungen für die Innenräume übernahm. Das köstlichste Zeugnis, wie der tiefgründige, weltabgewandte Vater und der ehrgeizige, glänzende, nach außen gerichtete Sohn sich im strengen künstlerischen Ideal zusammenfanden, legt die edle Gabrielskirche in München ab mit Erwins »Verkündigung« über dem Hauptportal, wozu Thole nach des Vaters Tod noch sein letztes Werk, die Pietà, für das Hauptschiff der Kirche gestiftet hat.

242 Auch mir war unser Thole des öfteren ein wertvoller Helfer und Rater und wurde es zuletzt immer mehr. Wenn ich im Zweifel war, ob meine inneren Gesichte sich mit der Wirklichkeit ausgleichen ließen, und mir vielleicht auch schon von kundiger Seite ein Es geht nicht zum Bescheid geworden war, da kam der findige, erfindungsreiche Neffe und sagte: Alles geht. Und mit dem Stift, dessen Ende ihm immer aus der Westentasche ragte, gab er der inneren Schau mit sauberster Zeichnung die fachgemäße Gestalt in Grundriß, Aufriß und Lage. Über alles, was im Raume steht und sich bewegt, konnte man Auskunft bei ihm holen, sei es ein mittelalterliches Befestigungswerk, ein Schiff, ein Geschütz, eine militärische Aufstellung, er gab sie untrüglich und unverzüglich; denn was ihm gehörte, hatte er immer zur augenblicklichen Verfügung. Manches Ringen mit widerspenstigen Stoffen hat er mir auf diese Weise erleichtert und abgekürzt. Ich konnte ihm den Dienst auf anderem Gebiete zurückgeben, wenn er etwas zu schreiben hatte und mit der Sprache, sei es der eigenen oder einer fremden, in Schwierigkeit geriet, denn noch immer blieb der sprachliche Ausdruck seine schwächste Seite, soweit der Stift nicht zu Hilfe kam, das Wort ergänzend wie bei seiner Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule in München, ein Amt, zu dem er bei der Durchsichtigkeit seiner Darlegungen in hohem Grade befähigt war, das er aber aufgab, um ganz der schöpferischen Arbeit zu leben.

Plötzlich auf der Höhe seines Könnens stockte sein Glückslauf; nicht durch seine Schuld. Es ist ja noch wie von gestern, daß infolge von Mißwirtschaft und falschem Finanzgebaren der Nachkriegszeit alle öffentlichen Bauunternehmen 243 brachlagen und dem einzelnen erst recht die Gelder zum Bauen fehlten. Da traten an den Glückverwöhnten Fehlschläge und Sorge heran. Für alle die Pläne, die großen wie die kleinen, die bis in die letzte Einzelheit durchgearbeitet waren, gab es auf einmal kein Baugeld mehr. Mit eisernem Fleiß machte er die neuen, viel viel billigeren Entwürfe, und wenn sie fertig waren, fehlten auch für diese die Mittel. Bis von Amerika her wurden Baupläne abgesagt, denn die Geißel der Arbeitslosigkeit ging ja über die ganze Welt. Inzwischen fraß das Büro die Rücklagen auf, und die seither beschäftigten Arbeitermengen drängten um Brot und Arbeit, die er nicht schaffen konnte. So Jahr um Jahr, bis das ganze Glücksgebäude in Trümmern lag und er selbst wie ein Zerbrochener umherging, denn er hatte es in der weichen Luft seiner Erziehung nicht gelernt, wie die Generation vor ihm, dem Widerwind des Geschicks zu stehen. Kein Trost konnte ihn mehr erreichen. Noch höre ich seinen flehenden Anruf an das Schicksal, es war das einzige, was man noch von ihm hörte: Nur Arbeit! Arbeit! Wenn auch nichts anderes. Nur nicht wie ein Träger die Erde nutzlos belasten! Aber diese Bitterkeit mußte das allzu verwöhnte Herz bis zum Grunde kosten.

Und dann geschah noch das Ärgste. Mitten in dieser Prüfung verlor er auch seinen besten Freund, den edlen Vater. Mit dem Wegzug der guten Mutter schloß sich das Elternhaus, in das er noch Tag für Tag seine Not getragen hatte.

Jetzt kam wieder der kleine Thole zu der Zia wie in seiner Kinderzeit. Er weinte sich bei mir satt, wenn das Leben ihm seine Krallen allzu roh ins Fleisch hieb. Aber wenn er sich ausgeweint hatte und es gelang dann, den nie entschlafenen 244 Sinn für die großen, überpersönlichen Dinge in ihm anzuregen, so ging er doch irgendwie beschwichtigt und erhoben hinweg, und es war mir ein Trost zu hören, daß er nun wieder ein anderer Mensch geworden sei. Und wie freute er sich, mir einmal eine bessere Nachricht bringen zu können; er trug dann Sorge, daß ich sie durch ihn zuerst erfuhr.

Ganze Lasten von Büchern schleppte er mir damals aus seiner reichhaltigen und erlesenen Bibliothek herbei: alles was ihn geistig bewegte, Naturwissenschaftliches, Archäologisches, auch neuentdeckte, aus den Bauten der Alten gefolgerte architektonische Geheimnisse, für die mir die Vorkenntnisse fehlten; denn es ging ihm nicht ein, daß es etwas geben sollte, das er mit mir nicht durchsprechen könnte. Wir waren auch nicht Tante und Neffe, sondern Gleichaltrige wie in seiner Kindheit, wo wir wie zwei Kinder zusammen gespielt hatten; daher er mich lebenslang nie anders als mit dem Vornamen rief.

An seiner letzten Weihnacht trat eine ergreifende Wende bei ihm ein. Er begann seiner befremdeten Wirtschafterin vom Sterben zu sprechen, blickte aber zugleich dem Leben inniger als jemals in die Augen. Als hätte er Versäumtes nachzuholen, zog er in der Frühe auch bei Sturm und Schneegestöber aus, um irgendeinen noch nicht beachteten Teil seines München, eine Anstalt, einen Betrieb, ein Warenhaus mit dem Erwachen des Tageslaufs, dem Einströmen der Arbeiter, den blassen, verschlafenen Gesichtern der Verkäuferinnen aufs deutlichste zu sehen, zu erleben, und fand auch in dem ganz Alltäglichen bedeutungsvolle Züge heraus. Es war wie ein bewegendes »Verweile doch«, an das hingestürmte Leben gesprochen.

245 Endlich, als der große politische Umschwung die stockende Wirtschaft wieder in Bewegung setzte, faßten auch die Segel Tholes frischen Wind. Die Baukunst als Ausdruck der Heimatliebe wurde von oben gefördert, die Gelder begannen flüssig zu werden, die schlummernden Millionenentwürfe erwachten zur Wirklichkeit. Mit übermenschlicher Willenskraft riß er sich aus der Gedrücktheit der Fehljahre empor. Sein Schmerzenskind, die Kirche von Weiden, im Entwurf so oft nach neuen Richtlinien umgeformt, jetzt endlich wuchs sie aus dem Boden, er sah wieder die Arbeitermassen zum Bauplatz strömen. Da griff eine unsichtbare Hand von oben ein und machte durch den unsinnigsten aller Zufälle diesem reichen, bewegten Leben ein jähes Ende. Im Frühjahr 1933, von einer Hellasfahrt heimkehrend, auf die er mich ungern hatte ziehen sehen, weil er fürchtete, die Anstrengung könnte mir schaden, fand ich Heilgebliebene meinen Thole nicht mehr, nur ein mit Blumen überschüttetes, von den Tränen des Himmels betautes Grab.

Und ich konnte ihm nichts mehr geben als den Denkspruch auf seinen Stein:

Aus hellem Stamm als letzter entsprungen
Vom Feuer der Kunst ins Mark durchdrungen
Rastlos zu höheren Zielen reifend
Mit allen Sinnen die Welt umgreifend
Unermüdlich die schaffenden Hände
Menschlichem Denken zu früh das Ende

Ich staune dir fassungslos nach, du Allzugeschwinder, wie du mit einem schnellen Lichtstreif dahinfuhrst, und ich verstehe 246 diese Schickung nicht. Deine Augen waren voll von allem Schönen der Erscheinung, warum hast du sie so frühe geschlossen? Hat die Parze ein anderes Haupt gemeint, aber in sinnlosem Umherfuchteln mit ihrer Schere den Falschen getroffen? Oder brauchten sie in jenen Räumen einen Baumeister, der etwas vermöchte, wofür gerade du vor allen ausersehen warst? Eines hast du schlecht gemacht, und es kann niemals mehr gut gemacht werden: daß du die Linie von Hermann und Marie Kurz, nachdem sie sich durch drei Generationen schöpferisch hervorgetan, auf deutschem Boden im Mannesstamm erlöschen ließest. Zu viele Frauen hatten sich in deinem Leben gedrängt, zuviel bist du geliebt worden, um selber tief und dauernd zu lieben, zu groß war die Auswahl, als daß du dich zur Wahl hättest entschließen können. Dafür ließest du aber auch keine absteigende Kurve zurück, sondern stehst wie die letzte sonnbeglänzte Erhebung, die einen mächtigen, in mannigfache Kuppen gegliederten Gebirgsstock abschließt.

Da ich nun deinen raschen Lauf von der Quelle bis zur Mündung begleitet habe, kehre ich wieder um, nicht um dich am Rande des Unwiederbringlichen allein zu lassen – in dem Kreis, wo ich wohne, wo das Ende nicht ist, kommst du mir schon von der Quelle her in deiner Kindergestalt wieder entgegen. Wir sind wieder in dem Florenz der achtziger Jahre, unser aller Leben steht noch in Blüte, und wir spielen weiter unter dem Granatbaum in der Via delle Porte nuove. Was uns dorthin führte, wie ich in den folgenschweren Mitbesitz der kleinen Villa kam, muß ich jetzt erzählen. 247

 


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