Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Vorwort

Irgendwo unter dem blauen Himmel südlicher Sonne liegt sie am Meer: Henna, die goldene Stadt, in der die Kaiserin in ihrem Palast wohnt. Die blaue Fahne mit der strahlenden Sonne darin wiegt sich im Winde, der an jedem Tage, wenn die Glocken zur Vesper läuten, sich sanft vom Meer her erhebt, wie eine gütige Hand liebevoll über die Wunden des Tages streicht und die milde Ruhe der Weite mit sich bringt.

Henna ist die liebliche Hauptstadt des Landes, umgeben von blühenden Wiesen, sanften Hügeln mit Zypressen und Pinien bestanden und dem sich endlos dehnenden weißen Strande. Von den vielen kleinen Dörfern, die wie Spielzeug um Henna verstreut liegen, führen holprige Karrenwege und staubige Chausseen nach der Stadt. Sie erweitern sich zu breiten Straßen, je mehr man sich Henna nähert – der Stadt, die das Ziel, der Mittelpunkt aller Bewohner des Landes ist. Den Menschen wohnt etwas kindlich Leichtes, kindlich Entschlossenes und kindlich Tiefgründiges inne. Sie sind heiter wie der Himmel, dessen Segen über ihnen liegt, fruchtbar wie das Land, das sie umgibt, und mächtig wie die Stadt Henna, deren Geschichte von Helden und Herrschern erzählt.

Dies alles sind Dinge, die das Bild der goldenen Stadt herbeizuzaubern imstande sind; aber sie sagen nichts von ihrem eigentlichen Wesen. Erscheint sie uns so nicht wie eine Stadt unter vielen anderen? Eine von der Natur und vom Schicksal bevorzugte zwar – aber was mehr?

Die Macht Hennas liegt in seiner Tiefe und Reinheit: nichts ist oberflächlich, alles ist wahr, wahrhaft erlebt und empfunden. Alles wird in seiner Fülle bis zum Letzten ausgekostet, und so erhalten Freude und Schmerz und damit jegliches Erleben erst seine ureigene Bedeutung – seine Vollendung. Nichts ist ohne Sinn: nicht die träg summende Fliege, die des Mittags auf den heißen teerduftenden Holzplanken im Hafen sitzt, und auch nicht die Tränen der Menschen, für die ein barmherziger Gott verstehend seine Hände öffnet, damit sie nicht verloren gehen. Selbst die Sonne, die mit ihrer glühenden Mittagshitze die Luft über den Straßen flimmern macht, ist eine andere, als wir sie kennen. Jedes hat seinen eigenen Charakter. Auch das Unvollendete, das Ungewisse und Unbeständige ist als Bild abgerundet, da es seinen Sinn erfüllt.

Die Menschen dieser Stadt sind weiter nichts als Menschen; aber sie sind es mit vollem Bewußtsein, mit aller Liebe und mit allem Haß, die Menschen in sich tragen können. In ihnen wohnt die reine Schönheit, die der Inhalt ihres Lebens ist; manchen fällt sie in den Schoß wie eine reife Frucht, andere wieder müssen sie suchen, weil sie sich unter dem Leiden und der Schlechtigkeit verbirgt – dem Bösen, das im Grunde alle verabscheuen, weil sie es als Irrung erkennen, das aber auch eine Stufe auf dem Wege zum Höchsten ist.

Nur eins gibt es in Henna nicht: Mittelmäßigkeit. Sie kann in dieser Stadt nicht gedeihen; sie müßte entweder wachsen zum Guten oder verdorren.

Henna liegt an den Ufern der Unendlichkeit und wird von deren Wellen umspült. Es ist unbegrenzt – erreichbar für viele, von den meisten unerreicht. Es ist die Stadt, in der die Liebe und die Gerechtigkeit regieren – in der aber auch alle Menschenleiden zu Hause sind. Dieses Gegensatzes bedarf es, um dem Guten und Schönen eine Grundlage zu geben und beide bewußt werden zu lassen.

Henna ist Brücke und Ziel
Licht und Weg zugleich –

 


 


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