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Im Vorfrühling wird zu Henna das Fest der Toten gefeiert. Am Morgen, ehe es hell geworden ist, beginnen überall in der Stadt die Glocken zu läuten. Da stehen die Menschen in ihren Häusern auf, zünden Kerzen an und richten den Tisch für die Toten. Denn in dieser Nacht, heißt es, hätten die Verstorbenen sich aus ihren Gräbern erhoben und lautlos auf den Weg in die Stadt gemacht, um den Tag mit den Lebenden zu verbringen. Wenn die Glocken läuten, betreten sie die Straßen von Henna, niemand sieht sie, aber sie sind dennoch da, und alle begegnen ihnen mit schweigender Ehrfurcht. Die Toten suchen ihre Häuser auf, in denen sie gelebt haben, und sitzen am Tisch mit ihren Kindern und Enkeln, kein Wort wird gesprochen und dennoch alles gesagt. Um Mittag ist die Zeit der Verstorbenen abgelaufen. Die Verwandten geleiten sie hinaus auf die Friedhöfe, wo sie, in der hellsten Stunde des Tages, in die ewige Ruhe zurückkehren.
Am frühen Abend versammelt sich das Volk von Henna in der Kirche am Fischmarkt. Die Menschen sind traurig, weil ihre Toten sie verlassen mußten. Sie kommen schweigend und setzen sich still auf die Plätze. Wenn alle versammelt sind, erscheint der älteste Feldmarschall des 138 Reiches. Er gedenkt der Toten, die nicht auf dem Friedhof von Henna ruhen, die im Kampf um das Land gefallen sind. Wenn er in der vordersten Reihe Platz genommen hat, kann die Feier beginnen. In dem Schimmer weniger Kerzen tritt der Tod vor die Menge und tröstet sie singend mit den Worten, daß er das Gesetz in den Händen halte, niemandes Freund und niemandes Feind, zu allen käme und in seinem bitteren Tun noch Raum genug für das Leben lasse. Ein leises Orgelspiel begleitet seinen Gesang und führt ihn empor in ein höheres Reich, gibt ihm den Glanz der zeitlosen Dinge und die Tiefe der Ewigkeit. Über die Menschen kommt große Ruhe und Gelassenheit. Sie empfinden, daß in allem Unabänderlichen viel Trost verborgen liegt und richten sich auf in einer stillen Heiterkeit, welche all die befällt, die das Gesetz in dem Werk des Todes erblicken und es gutheißen. Die Musik der Orgel senkt diesen Frieden tief in ihre Herzen, darin er wirken und walten kann und wie ein Gefäß ist, das den Wein des Lebens in einer schönen Begrenzung umfaßt. Wenn der Tod sein Lied beendet und das Schwert, das er in den Händen hält, gesenkt hat, gehen die Menschen still in ihre Häuser. Eine einsame Glocke beginnt zu läuten. Es klingt, als wolle sie die ruhige Gewißheit in den Herzen des Volkes festhämmern. Das Lied der Glocke wird leiser und leiser und schweigt endlich um Mitternacht. Dann ist das Fest der Toten zu Ende, und die Leute spüren nur noch den quellenden Zauber der Vorfrühlingsnacht.
Es war für das Volk von Henna nicht leicht, den Sänger des Todes zu finden, denn er bleibt ein Mensch und kann das Gesetz des Sterbens nicht in seiner letzten Klarheit begreifen. So hatten sie lange Zeit voller Zweifel gesucht und erst spät den Mann gefunden, der nun Jahr für Jahr das Lied des Todes sang. Er übte in Henna ein seltsames 139 Gewerbe: das des Lumpenmachers. Er besaß ein Anwesen weit draußen vor der Stadt, sammelte und kaufte Lumpen, soviel er bekam, und fügte sie, nachdem er sie gewaschen und getrocknet hatte, zu neuen Stücken zusammen. Der Lumpenmacher betrachtete die Lumpen und suchte ihre Art und ihr Wesen zu erfassen; sie täuschten oft, er mußte hinter dem Schein die Wirklichkeit erkennen, wenn er sie verwandeln und in ein neues Leben hinüberführen wollte. Den Preis setzte der Lumpenmacher nicht nach der Güte und Größe eines Fetzens fest, sondern danach, welcher Mensch ihn getragen und welche Seele er ihm eingehaucht hatte. Der Lumpenmacher war schweigsam, von gewaltiger Größe und Kraft, und es hieß in Henna, alle Kleider gingen den Weg zu ihm. Seien sie einst noch so prachtvoll gewesen – sie wanderten doch in sein Bündel, zerrissen, verblichen und verbraucht, allen Glanzes beraubt, und dennoch voll neuer Hoffnung, voll Vertrauen in die geschickten Hände des Lumpenmachers. Diesen eigenmächtigen und gerechten Menschen hatten die Leute von Henna dazu ausersehen, in der Kirche am Fischmarkt die Worte des Todes zu singen, und niemals hatte ein Mann seine Aufgabe besser erfüllt.
Im weiten, weißen Mantel trat er neben den Altar, tröstete die Menschen, die um ihre Toten trauerten, stiftete Ruhe und Gleichmut und ließ die Heiterkeit des unerbittlichsten Gesetzes in einem milden Lichte erstrahlen. Dazu erklang leise Orgelmusik, die seinem Liede den Schmerz nahm, ohne ihm die Schwere zu rauben.
Diese Musik ließ in der Kirche am Fischmarkt zu der Zeit, als der Lumpenmacher den Tod sang, ein unscheinbarer alter Mann erklingen. Er hieß Amadäus und hatte seinen Dienst auf der Orgelbank viele Jahre lang mit Eifer und Treue versehen. Kaum einer von den Leuten aus Henna wußte mehr von ihm, als daß er ein tüchtiger 140 Musikant und ein stiller, bescheidener Mann war, dem seine Kunst alles, der Ruhm aber nichts galt. Wenn er sein Spiel beendet hatte, ging er, in einen schwarzen, dürftigen Mantel gehüllt, unter den Letzten, welche die Kirche verließen, durch eine Seitenpforte hinaus, wo er bald den Blicken der Leute entschwand. Den Tag über blieb er in seinem Hause am Fischmarkt; niemand bekam ihn zu Gesicht. Am Abend trat er hinaus in einen kleinen Garten, der hinter dem Hause verborgen lag. Amadäus zog hier Beerensträucher und seltene Blumen, denen seine ganze Liebe gehörte. Im Frühjahr kniete er bei der Arbeit auf die Erde nieder, und es war, als wolle er die ersten, zarten Blumen aus dem Boden hervorrufen. Wenn es Sommer war, stand er, das Haupt gebeugt, über den erwachsenen Blüten und atmete ihren Duft. Amadäus schaffte in seinem Garten Abend für Abend, bis es dunkel wurde; dann ging er in die Stube zurück. Frühzeitig löschte er das Licht, und es war Nacht in seinem Hause.
In Amadäus' Hause wohnte ein junger Mensch, der auf den Namen Renatus hörte und von dem Meister in der Kunst des Orgelspiels unterwiesen wurde. Die Leute nannten ihn »den kleinen Amadäus«, weil er all das mit Liebe und Eifer nachtat, was dem alten Orgelspieler in einer langen Gewohnheit zu eigen geworden war. Jeden Morgen, ehe es Tag wurde, erhob sich Renatus von seinem Lager und ging über den Fischmarkt in die Kirche hinüber, wo er beim Schein einer Kerze seine Finger übte. Und wenn im Winter die Kälte der Nacht in den Steinen ruhte und sein Atem gleich einem roten Nebelhauch sich über dem Glanz der Kerze wölkte – er wurde es nicht müde und hatte recht eigentlich seine Freude daran. Später, sobald der Tag durch die bunten Scheiben schien, verließ er die Kirche und ging mit unbewegtem Gesicht über den Fischmarkt in sein Haus, aus welchem 141 er bald mit einem kleinen, weißen Beutel zurückkam. Nun machte er sich auf den Weg zu einem Bäcker und gab acht, daß die Schritte, die er tat, und die Worte, die er sprach, die gleichen waren wie am Vortag, weil dieser Gang die Musik, die in seinem Herzen aufbewahrt und noch lebendig war, nicht verdrängen durfte. Bis zur Mittagszeit schrieb er Noten aus alten Blättern auf frisches Papier. Der Nachmittag sah ihn wiederum in der Kirche. Am Abend spielte er oftmals für den alten Amadäus, wenn dieser müde war, zur Andacht. Viel Volks hörte ihm zu, aber kaum einer bekam den emsigen Jüngling zu Gesicht. Wer ihn hätte anschauen können, der hätte zu seinem Erstaunen bemerkt, wie eine ruhelose Glut in seine Augen trat, die ihn gänzlich verwandelte, und vielleicht für eine kurze Zeit alles das an das Tageslicht emporhob, was in ihm unerlöst und verborgen lag. Der rote Schein eines Kirchenfensters fiel bisweilen auf seine Wangen, daß der Jüngling fast den Anblick eines jungen Kriegers bot, freilich nur für einen vergänglichen Augenblick, gerade so lange, als einer gebraucht hätte, das Wunder der Verwandlung wahrzunehmen. Wenn sein Spiel beendet war, entschlüpfte Renatus durch eine Seitenpforte, von der ihn sein Weg über Treppen und Höfe auf eine enge, dämmrige Gasse hinabführte. Solche Bescheidenheit übte er fleißig. Der kleine Amadäus war ein guter und gelehriger Schüler, und ein Teil der Achtung, welche die Leute von Henna dem alten Meister entgegenbrachten, fiel auch auf ihn.
Amadäus wußte, welch große Gewalt er über den Jüngling besaß. An manchen Tagen nahm er ein silbernes Herz, das er an einer Kette um den Hals trug, unter seinem Rock hervor, und hielt es lange in den Händen. Durch dieses Schmuckstück, so glaubte er zu wissen, übte er eine geheimnisvolle Macht über die Seele Renatus' aus 142 und vermochte es, dessen Leben nach seinem Bilde zu gestalten. Vor vielen Jahren hatte es die Mutter des Jünglings sterbend in Amadäus Hände gelegt und ihn gebeten, den elternlosen Knaben zu leiten und zu bewahren und ihn mit dem Gesetz seines Daseins zu erfüllen. Wer das Herz, so hatte ihn die scheidende Frau beschworen, in den Händen halte, der sei der Herr auch über das Herz Renatus', er könne ihn führen, wohin er wolle, und all seine Gedanken müßten in dem Knaben Gestalt gewinnen. Amadäus preßte das silberne Schmuckstück fest zwischen den Fingern. Er glaubte an dessen Macht und hatte mit eigenen Augen das Wunder erlebt, wie seine Gedanken das Wesen des Jünglings verwandelt hatten. Der alte Orgelspieler seufzte tief: Könnte ich selbst durch die Kraft dieses Schmuckes noch einmal Gestalt gewinnen! Aber der Tod hebt schon die Hände, mich fortzunehmen. Ja, Amadäus war alt geworden und fühlte sein Ende nahen. Doch wenn die Menschen meinten, er ginge leichten Herzens hinfort und fiele dem Tod wie eine reife Frucht in den Schoß, so täuschten sie sich. Vielleicht hatte der alte Orgelspieler mit seinen sparsamen Gebärden den Tanz des Lebens nicht eigentlich mitgetanzt und empfand daher an dessen Ende kein Bedürfnis nach Ruhe, vielleicht auch erwachte in ihm das letzte, verzweifelte Flackern einer verlöschenden Kerze – Amadäus spürte eine gewaltige Furcht vor dem Tode, und hie und da, in Augenblicken der Muße, begann er schon darüber nachzusinnen, wie er dem Bannstrahl entgehen könne.
An einem Wintermorgen entdeckte Renatus, als er nach einer alten Notenschrift suchte, auf dem Dachboden des Hauses die Maske eines Mädchenantlitzes, die verborgen und in Einsamkeit von der Wand herabblickte. Durch ein Fenster im Dach fiel der Strahl der Morgensonne gerade auf das Bildnis, und es schien zu sprechen und zu 143 dem Jüngling zu sagen: Bist du endlich gekommen? Ich habe dich lange erwartet. Die Züge des Mädchens, welche hier für die Ewigkeit festgehalten waren, zeigten ein stilles und glückliches Lächeln, als wären sie einer großen Freude teilhaftig geworden, die sie nun niemals mehr vergessen könnte. Renatus blieb wie verzaubert vor der Maske stehen. Kennst du mich nicht?, schien das Bildnis zu fragen. War ich dir nicht immer nahe, ohne daß du es wußtest? Nun bin ich da. Der Jüngling hob die Arme, aber die Maske schien einer Berührung zu wehren, sie blieb fern in ihrer Kälte und war doch nahe in ihrer sprechenden Gegenwart. Renatus, sagte das Antlitz, genügt es dir nicht, daß du mich kennst und siehst? Daß wir miteinander sprechen? Hebe mich nicht aus dem Frieden des Bildes, darin ich glücklich bin! Laß mich ruhen, ich habe lange geruht und gewartet. – Bis auf diese Stunde, flüsterte der Jüngling und sah zu dem Bildnis empor. Die Haare des Mädchens, wie von zarten Fingern zurückgestrichen, gaben die hohe und gewölbte Stirne frei, darauf das Licht des Morgens durch das zitternde Weingerank vor dem Fenster spielte und flimmerte. Er wollte noch einmal die Hand zu dem Bilde heben, da hörte er Amadäus Stimme unten im Hause, die nach ihm rief. Auf Wiedersehen, sagte Renatus und konnte sich lange von dem Bildnis nicht trennen. Er schloß die Augen, da merkte er, daß er es in sich trug und mit hinabnehmen konnte in die andere Welt. Bei dieser Gewißheit überkam ihn eine große Ruhe und Glückseligkeit, er fühlte sich frei, zu gehen, wohin er wollte: das Antlitz würde ihn niemals verlassen. So stieg er hinab.
Renatus besuchte Morgen für Morgen die Maske des Mädchens in ihrer verborgenen Einsamkeit. Er nahm Blumen und Reiser mit hinauf, soviel die Winterszeit ihm geben konnte, um den Platz, an welchem das Bildnis hing, zu 144 schmücken. Doch jedesmal deuchte es ihm, als seien ihrer zuviel oder zuwenig, um sein Gefühl auszusprechen, und er nahm sie am Ende wieder mit hinab, wo sie liegen blieben, welkten und starben. Morgen für Morgen aber sprach das Bild des Mädchens ihn an und sagte: Da bist du, Renatus! Ich habe mich auf diese Stunde gefreut! Als der rote Schein der Sonne meine Stirn berührte, da wußte ich, daß du kommen würdest, und habe mein Herz für dich bereitet. Siehe, nun bist du hier. Und Renatus antwortete auf die Worte des Mädchens und dankte ihr; doch alles, was er sprach, war so wenig und reichte niemals heran an das, was das Mädchen ihm zu sagen hatte.
Anfangs weilte Renatus an jedem Tage nur eine kurze Zeit bei dem Bilde. Wenn er die Tür wieder hinter sich schloß, erschien es ihm, als verließe er eine fremde Welt und kehrte zurück in sein eigentliches Dasein. Als aber der Winter zu Ende ging und es in Henna Frühling werden wollte, hatten die Gedanken, die sich um das Bildnis spannen, sein ganzes Leben verwandelt. Dann war es ihm oft, als hinge alles, was er tat und sagte, nur wie ein dünnes Kleid um ihn, das er zu jeder Stunde abwerfen könne. Er tat es aber nie, sondern freute sich im Stillen über die tausendfältigen Möglichkeiten, die er besaß, als wäre er ein Herr über weite Gefilde und hielte sich doch einsam in einem Kämmerlein. Renatus ergab sich eifrig dem Orgelspiel, und es konnte dahin kommen, daß er sich sagte, nur dies sei nötig und nichts anderes. Er ahnte aber und wußte in seinem Herzen, daß ihm viele und größere Glückseligkeiten offenstanden. Noch verleugnete er sie, aber warum verleugnet man ein Glück, wenn es nicht aufgespart und endlich reif und süß genossen werden soll? Der Frühling hatte seine ersten Boten gesandt, die Eisschicht über den Gewässern war gesprungen, und die Bäume erglänzten in ihrer ersten scheuen Blüte. 145 Am Morgen vor dem Tage, an dem in Henna das Fest der Toten gefeiert werden sollte, zog Amadäus in der Frühe seinen Mantel über, ergriff einen kleinen, blauen Milchtopf und wollte sich, wie er es zu tun gewohnt war, auf den Weg machen, um Milch zu holen. Als er die Treppe betreten hatte, kehrte er noch einmal zurück und bat Renatus, er möchte ihm die Noten für das Lied des Todes heraussuchen, welches morgen in der Kirche am Fischmarkt gespielt werden müßte. Der Jüngling lehnte am Fenster und hielt die Stirn gegen die Scheibe gedrückt. Vor seinem Munde war das Glas von dem warmen Hauch erblindet. Renatus, fragte der alte Orgelspieler, hörst du mich nicht? Der Jüngling hob langsam den Kopf und richtete sich auf. Er lächelte. Seine Augen schienen feucht. Mit einer Hand strich er die Haare aus seiner Stirn. Das Lied des Todes, fragte er und begann zu lachen. Ich wollte, ich könnte den Tanz des Lebens hören! Er wandte sich halb um; es schien, als begriffe er nun erst den Sinn seiner Worte, er wußte nicht, wo er bleiben sollte und eilte hinaus. Amadäus schüttelte den Kopf. Dann aber glitt ein Lächeln über seine Züge, und er sprach leise: Das Bild des Mädchens dort oben hat deine Sinne verwirrt, ich habe dich gesehen, wie du mit dem steinernen Antlitz gesprochen hast, und bin fortgegangen, um dich nicht zu stören. Ich kenne dich, Renatus! Ach, trügest du soviel Überfluß des Lebens in deinem Herzen, daß du auch mir davon geben könntest. Er winkte nach der Seite, wo der Jüngling verschwunden war; aus seinem Winken wurde ein leises Drohen und endlich wieder ein Winken.
Amadäus betrat die Straße. Man hätte meinen können, es seien seine Füße gewesen, welche die Steine in der Gasse und die Stufen vor dem Milchladen so ausgetreten hätten. Alles, was er auf seinem Wege tat und sprach, 146 wußten die Leute von Henna im voraus, denn es war Morgen für Morgen das Gleiche: der alte Mann stieg die drei Stufen empor und betrat durch die offene Tür den kleinen Raum, in dem stets ein buntes Gedränge herrschte. Er nahm seinen Hut ab, rückte mit zwei Fingern den Kragen zurecht und wartete geduldig, bis er an der Reihe war. Aufmerksam las er die Schilder durch, die an den Wänden hingen, und deren Inhalt er gewiß längst auswendig wußte. Seine Lippen bewegten sich dabei. Es war, als ermahne er sich ernstlich, mehr Milch zu trinken, um gesund zu bleiben, und keinen Hund in den Laden zu lassen. Kopfnickend nahm er zur Kenntnis, daß hier nur reine Milch ausgeschenkt würde. Hin und wieder fuhr er mit der Hand in die Tasche, als wollte er sich vergewissern, daß die Münzen noch darin waren, die er für die Milchfrau zurechtgelegt hatte.
Wenn er an der Reihe war, gab er seinen Topf über den Ladentisch und wünschte der Frau einen guten Morgen. Guten Morgen, sagte die Milchfrau, wie geht es Euch? – Danke, erwiderte Amadäus, wie soll es gehen? Nicht gut und nicht schlecht. Die Tage kommen und gehen, und man lebt so dahin. Diese Antwort gab er Morgen für Morgen, mit geringen Abwandlungen, etwa daß er sagte: Man findet sich hindurch, oder: es ist immer das gleiche. Dann nahm er seinen Topf entgegen, stellte ihn vor sich hin und warf die Pfennige, die er zu zahlen hatte, auf den Ladentisch. Er tat das offenbar, damit die Frau an dem Klang der springenden Münzen hörte, daß sie echt waren, wie es sonst nur der Brauch bei Gold- und Silberstücken ist.
Danach verließ Amadäus den Laden: er nahm den Milchtopf in die eine Hand und verschloß mit der anderen sorgfältig die Tür, rüttelte noch einige Male an der Klinke, um sich zu vergewissern, daß sie wirklich 147 geschlossen war, setzte seinen Hut auf und ging fort. Wenn er um die Ecke verschwunden war, kam die Milchfrau hinter dem Ladentisch hervor und öffnete die Tür wieder. An diesem Tage aber geschah es, daß der alte Mann noch eine Weile in dem Laden blieb und ein Gespräch mit der Milchfrau anfing. Es war kein eigentliches Gespräch, sondern vielmehr eine Rede zu sich selbst, in welcher er von dem, was sein Herz erfüllte, mitteilte, und zu dem die Milchfrau nur still und versonnen nickte. Der Frühling, sagte er, beginne in diesem Jahre schöner als jemals, er trüge schon jetzt den ganzen Sommer in sich und sei so voller Leben, daß, wer das Fest des Todes überstehe, nimmer sterben könne. – Da habt ihr recht, erwiderte die Milchfrau, der Frühling ist immer wieder eine Erquickung, und man kann seiner Macht nicht widerstehen. Amadäus trat dicht an den Ladentisch. Er wisse es genau, flüsterte er, dieses Frühjahr habe eine zauberische Gewalt, es könne den Tod verbannen, und wen es mit hinübergenommen über das Fest der Toten, der könne in ihm nicht sterben. Amadäus kicherte vor heimlicher Freude. Der Tod müsse besiegt werden, sagte er. Dann hielt er erschrocken inne. Staunend sah er sich im Kreise um und verließ den Laden, ohne die Tür zu schließen. Er vergaß seinen Topf, den ihm die Milchfrau nachtragen mußte. Ja, ja, sagte Amadäus zum Danke und setzte seinen Weg fort.
Dicht vor seinem Hause hörte er auf der Straße den Ton einer Flöte. Der Greis verhielt seine Schritte. Eine tiefe Stille lag über dem Fischmarkt, nur die Tropfen sangen, die in der erwärmten Luft von den Dächern fielen, und die Flötenmusik klang dazwischen, die den perlenden Tropfen seltsam verwandt schien. Eine rote Sonne stand über der Stadt. Amadäus hob den Kopf. Vor ihm, auf der gleichen Seite der Straße, ging eine Flötenspielerin, 148 im wehenden Rock, ohne Hut, und die Morgenluft spielte in ihren Haaren. Sie wanderte schnell, ihr Lied klang leiser und leiser. Der alte Orgelspieler folgte ihr. Es war ihm, als habe er diese Töne lange gesucht und müsse sie nun verlieren. Er öffnete den Mund, doch er brachte keinen Laut heraus. Scheu winkte er mit den Armen. Niemand sah ihn. Das Lied verwehte in der Ferne. Aber seltsam – der alte Mann hörte die Töne deutlich im Ohr, sie wurden lauter und klarer, die Melodie hob sich von seinen Lippen und berührte sein Herz. Amadäus begann zu laufen. Ein schmerzliches Verlangen war in ihm erwacht, weit vorn wehte das Kleid des Flötenmädchens. In den Ohren des alten Mannes summte und sang es, und manchmal war es ihm, als tanzte er durch die morgenstille Straße. Der leise Wind wehte einzelne Töne herüber, das Lied schien an Süße und Helligkeit zu wachsen. Als er aufblickte, war die Flötenspielerin um eine Ecke verschwunden wie ein Spuk, als wäre sie nie gewesen. Es war sehr still geworden in den Straßen von Henna. Amadäus stand allein. Mit Schrecken ward er inne, daß er sich in einer fremden Straße befand, die er niemals gesehen hatte. Die Gasse lag still im Morgenglanz wie zu allen Tagen. Der Greis stand vor der Tür eines niederen Hauses. Sehr fern und leise hörte er jetzt das Meer rauschen. Er senkte den Kopf und wollte beschämt nach Hause gehen. Aber siehe, da klang das Flötenlied wieder in seinen Ohren und hatte nichts an Klarheit und Helligkeit verloren. Amadäus hob den Kopf. Ich muß ihm nachgehen, sagte er sich und schritt mutig vorwärts. In der Hand hielt er den kleinen blauen Milchtopf. Er achtete der Pfützen nicht, die in seinem Wege lagen, und nicht der zahllosen kleinen, rinnenden Bäche, die zwischen den Steinen spielten. Blaß und frühlingswarm lag die Sonne auf den Mauern der fremden Häuser.
149 Auch an Renatus' Ohren war das Lied der Flötenspielerin gedrungen. Er hatte den Kopf gehoben und gedacht: Solcher Art müßte der Gesang sein, der morgen in der Kirche am Fischmarkt erklingen soll! Die Melodie wanderte gerade unter seinem Fenster vorüber. Wie sie jubelt und tanzt, rief der Jüngling, wie sie lockt und verheißt! Wer sie gehört hat, kann sie nimmer vergessen. Es fiel ihm ein, daß in jedem Jahre, wenn der Winter vorbei ist, Mädchen aus den Dörfern als Flötenspielerinnen nach Henna kamen, um die ersten Blumen aus dem Boden hervorzulocken.
Wenn sie alle, sprach er zu sich, in die Kirche am Fischmarkt zögen und ihr jubelndes Frühlingslied vor den Menschen erklingen ließen – weiß Gott, ich könnte aus vollem Herzen einstimmen! Renatus war ans Fenster geeilt. Er sah das Mädchen draußen vorüberwandern. Ihr dunkles Haar wurde vom Winde getragen. In dem Weiß der Augen spiegelte sich der blaßblaue Morgenhimmel. Sie hatte die Flöte an den Mund gesetzt und blickte zur Seite. Es war nur für einen Augenblick, daß Renatus ihr Bild wahrnahm. Das Lied klang leiser und leiser, ihre Schritte verhallten in der Morgenstille. Der Jüngling fuhr mit der Hand über die Augen. Er sah das Maskenbildnis plötzlich voller Leben und Wärme vor seinem Blick und wußte nicht mehr, ob das Antlitz des wandernden Mädchens das steinerne Bild mit lebendigem Blut erfüllt oder ob die Maske ihre Züge der Flötenspielerin aufgeprägt hatte.
Renatus packte die Noten, die er für den alten Amadäus herausgesucht hatte, in eine Mappe und trug sie hinüber in die Kirche. Als er über den Fischmarkt ging, war es ihm, als tönte die Frühlingsmelodie aus der Ferne noch fort und ihre Klänge wehten wie erste, frühe Blüten durch die morgenstillen Straßen von Henna. Der 150 Jüngling setzte sich an die Orgel und versuchte das Lied, welches zum Fest der Toten von diesem Platz aus erklingen sollte. Das Gefüge der Töne aber brach auseinander, und aus den Trümmern hob sich der Gesang der Flöte, erst zaghaft und mit dünnen Tönen, dann lauter und kräftiger, als entzünde er seine Leidenschaft an dem eigenen Feuer. Renatus horchte auf. Es kam ihm wie ein Wunder vor, daß das Lied, welches die Flöte ihm gebracht hatte, auf der Orgel ein Leben haben konnte. Die hellen Töne klangen wie das Singen der Melodie bei einem Tanzfeste, die dunklen glichen dem Gesumm der vielen Menschenstimmen, dem Stampfen der Füße, dem Rauschen der Kleider – kurz, dem ganzen Jubel und der ganzen Trunkenheit eines Reigens. Renatus geriet mehr und mehr in eine hitzige Leidenschaft. Bald war es ihm, als bewege er das bunte Gewoge mit den Tönen, die er unter seinen Fingern entstehen ließ, bald fühlte er sich selbst von den Wellen des Liedes emporgetragen und hinfortgeführt. So ist es recht, flüsterte er atemlos, während er immer noch die Tasten der Orgel bewegte, dieses Lied klingt gut, alle Menschen müßten es hören, denn das Bildnis lebt, ja es lebt und singt!
So spielte Renatus, bis es Mittag werden wollte. Hernach verließ er die Kirche in einer großen Unruhe. Es war ihm, als habe er ein Feuer entfacht, das er nun nicht mehr löschen konnte. Für Augenblicke sehnte er sich nach dem Frieden seines früheren Daseins zurück. Dann versuchte er sich vorzustellen, es läge noch offen vor ihm, und er könnte jederzeit dorthin zurückkehren. Er wußte aber, daß er, so wie es um ihn stand, den Weg verloren hatte und ihn nicht wiederfinden konnte. Er wartete auf Amadäus. Aber Mittag ging vorüber, und der Meister blieb fern. Da wußte Renatus in seiner Verwirrung sich nicht mehr zu helfen. Es war ihm, als habe eine fremde und 151 unheimliche Macht sein Dasein verwandelt, daß er es selbst nicht wiedererkannte. Endlich, zwei Stunden nach Mittag, hörte er die Tür gehen und vernahm Amadäus' Stimme im Flur. Er eilte dem Alten entgegen, doch als er ihm die Hand gab, da war es, als begrüße er einen Fremden. So sehr hatte das Flötenlied auch Amadäus' Züge verwandelt. Ob er sie gehört hätte, fragte der Meister mit verwirrtem Blick und summte leise die Melodie, die ihn so tief ergriffen hatte. Ein Mädchen, entgegnete Renatus, sei an seinem Fenster vorübergewandert. Sie habe dieses Lied auf der Flöte geblasen. Als er so in Ruhe dem alten Meister Antwort gab, berührte ihn für einen flüchtigen Augenblick das Trugbild eines wiedergewonnenen Friedens, und um es festzuhalten, sagte er eifrig: Ja, er habe dieses Lied vernommen, doch es gehöre einer fremden Welt, an der sie beide keinen Teil hätten. – Die fremde Welt ist das Leben, entgegnete Amadäus mit dumpfer Stimme, die unsere aber ist der Tod. Dann ging er an dem erstaunten Schüler vorbei und warf sich, ohne sein Essen anzurühren, auf das Lager, wo er sogleich in einen schweren und ruhelosen Traum versank.
Er sah sich am Pult vor der Orgel sitzen, es war aber nicht in der Kirche am Fischmarkt, sondern weit draußen auf dem freien Felde, unter blauem Himmel im sommerlichen Duft, und tief unter ihm tanzte das Volk von Henna nach seinem Liede einen wilden und endlosen Reigen, allen voran der Tod im wehenden weißen Mantel. Es klang ein lautes Getön in der Luft; das Lied aber, das er spielte, vernahm Amadäus genau: es war die Melodie, die er am Morgen gehört hatte, zu einem trunkenen Jubelgesang gesteigert. Dann wieder sah der Greis sich selbst in dem wilden Rausch des Reigens, und auf der Orgelbank saß sein Schüler mit geröteten Wangen und glänzenden Augen. Zuletzt bewegte der Alte mit seinen 152 Händen den ganzen Trubel, Musik und Tanz, er gab keine Ruhe und rief mit verzweifelter Stimme: Weiter, weiter! Sonst ist der Tod über uns!
Als Amadäus am späten Nachmittag erwachte, befand er sich in einer tiefen Entrückung. Er eilte hinüber in die Kirche am Fischmarkt. Der Tanz, den er im Traume gesehen hatte, bewegte sich noch vor seinen Augen, die Musik dröhnte ihm in den Ohren. Der Tod, rief er, tanzt in meinem Reigen, und ich spiele ihm auf! Ein frevelhafter Plan war in seinem Herzen wachgeworden: morgen, am Fest der Toten, wollte er in der Kirche den Tanz des Lebens erklingen lassen, zu dem Gesang des Todes den Reigen der trunkenen Freude aufführen, um des Grausamen Macht zu brechen und seiner Verfolgung zu entgehen. Niemals hatte der alte Orgelspieler den Tod so gefürchtet wie in dieser Stunde, sein Gesetz so sehr gehaßt und seine stille Kraft verabscheut. Er wollte es aber nicht wahrhaben, er fühlte sich als Sieger und sah den endlosen Reigen vor seinen Augen, hörte das Pochen der jubelnden Musik, und er eilte die Stufen hinauf, um die trunkenen Töne leibhaftig zu vernehmen.
An der Tür trat ihm der Lumpenmacher von Henna entgegen. Er bat den Alten, ihm auf der Orgel das Lied des Todes zu spielen. Amadäus erstarrte. Er habe, sagte der Lumpenmacher, sein Bündel neben die Pforte gestellt und viele Stunden auf ihn gewartet. Ja, viele Stunden, entgegnete Amadäus und lächelte ein wenig. Er müßte, sprach der Lumpenmacher, dieses Lied noch einmal vernehmen, bevor er es morgen vor allem Volke ertönen lasse. Er müsse dessen Klang im Ohr behalten, daß es ihm das Herz rühre, denn es sei eine heilige Handlung, den Tod zu singen. Alle Ruhe und alle Ferne solle über einem solchen Menschen liegen, daß er das Gesetz erfüllen könne, welches ihm aufgetragen.
153 Warum, dachte Amadäus bei sich, bin ich ein alter Mann und besitze so wenig Kraft, dem Tod zu widerstehen? Mit einer müden Bewegung seiner Hand lud er den Lumpenmacher zu sich und ging selbst voran über die steinerne Wendeltreppe. Hier ergriff ihn sein Trotz noch einmal mit aller Gewalt. Er hörte die Melodie, die am Morgen sein Herz gefangen hatte, heiter und wehmutsvoll in der Ferne erklingen, und der Schmerz des Abschieds rührte ihn an. Jäh wandte er sich zu seinem Begleiter um und schrie: Ich kann es nicht, laßt ab von mir, ich will Euch den Willen nicht tun! Der Lumpenmacher ergriff die kalte Hand des Alten und wärmte sie lange zwischen seinen Fingern. Ihr seid müde und krank, Amadäus, sagte er ruhig, Ihr solltet die Ruhe suchen. Den alten Orgelspieler durchströmte die Wärme des Blutes in den Händen des Lumpenmachers, und er fühlte, daß es sinnlos sei, sich gegen den Willen des Todes aufzulehnen. Er wand seine Finger aus denen des Mannes und schritt mit einem trockenen Schluchzen voran auf die Empore, wo seine Orgelbank stand. Amadäus begann die Melodie des Todes zu spielen.
Als er Stunden später die Kirche verließ, war er so müde wie noch niemals in seinem Leben. Das Lied des Todes hatte ihn bezwungen, doch die Melodie des Lebens war wach geblieben in seinem Herzen und drang nun, da ihn der Lumpenmacher verlassen, und er die Kirchentür hinter sich geschlossen hatte, machtvoll empor, stärker und lockender als je zuvor. Ich bin dem Tode unterlegen, sprach er verzweifelt, es war zu viel für mich, meine Kraft reicht nicht aus, der Tod ist stärker als ich, und sein Wille wiegt schwerer! Er glaubte, sich anklagen zu müssen, weil er zeitlebens dem Gesetz gefolgt sei und ihm nun nimmer entkommen könne. Ich bin gefesselt!, rief er, die Gewohnheit hat meinen Willen gelenkt, ich 154 bin ihr Gefangener und habe keinen freien Weg mehr! Vor der Tür seines Hauses begann er zu taumeln; er hielt sich mit der einen Hand an einem steinernen Pfosten fest und führte die andere, in jähem Erschrecken, an die Brust. An seinen Fingern spürte er eine kleine Härte: das silberne Herz des Renatus. Amadäus richtete sich auf. Er legte den Kopf leicht auf die Seite, als lausche er auf eine Botschaft, die aus weiter Ferne, jedoch stärker und stärker mit jedem Augenblick, ihm an die Ohren drang. Seine Lippen bebten, bis er endlich mit verhaltenem Jubel ausrief: Das silberne Herz des Renatus! Noch besitze ich es und damit eine Macht, die mir niemand nehmen kann! Langsam öffnete er die Tür und trat in das Haus. Renatus ist jung, sprach er zu sich, er wird die Kraft haben, der Gewalt des Todes zu widerstehen.
Als Amadäus in seiner Stube angelangt war, wand er ein wollenes Tuch um den Hals und legte sich zu Bett. Dann rief er mit müder Stimme nach seinem Schüler. Renatus trat ein. Er hatte in den frühen Abendstunden ein wenig Ruhe gefunden. Bald, nachdem Amadäus das Haus verlassen hatte, war ein Friede über sein Gemüt gekommen, daß er meinte, die Ruhelosigkeit sei wie ein schwerer Traum vorübergegangen, und unversehens habe er in sein altes Dasein zurückgefunden. Er hatte Noten geschrieben und in einem Buch gelesen, und erst, als er Amadäus' Schritte vor dem Hause vernahm, war wieder die frühere Unruhe in seinem Herzen erwacht. So färbte, als er jetzt vor dem Meister stand, ein roter Schimmer seine Wangen, und in den Augen glomm und verlosch es wie Irrlichter in der Nacht. Amadäus sah es mit heimlichem Wohlgefallen. Ach, mein Sohn, klagte er, die Tage sind gezählt, da ich noch unter den Lebenden weile, ich bin sehr müde und fühle den Tod in großer Nähe. Renatus erschrak. Er trat näher an den alten Meister 155 heran. Hatte er nicht ein verborgenes Frohlocken in seinen Augen wahrgenommen? Amadäus aber klagte weiter: Ich mag das Licht des Tages nicht mehr sehen, die Sonne schmerzt mich, wenn ich sie erblicke, die Menschen auf den Straßen sind mir wie ein böser Traum. Renatus, ich bin müde, sehr müde! Der Schüler nahm die Hand des Alten und streichelte sie sacht. Was war das? Lächelte der Greis zu seinen Klagen? Ich werde morgen zum Fest der Toten nicht spielen können, fuhr Amadäus mit gebrochener Stimme fort, ich bin zu schwach geworden, meine Finger versagen ihren Dienst. – Armer Herr Amadäus, sprach der Schüler. Seltsam, die Hände des Alten schienen ihm mit lebendiger Lust erfüllt. Heute nachmittag in der Kirche, sagte Amadäus, habe ich erkennen müssen, wie es um mich steht. Das Leben versagt sich mir, und wenn man das erkennt, so soll man ruhig fortgehen, ohne Aufhebens. Amadäus packte die Schultern des Jünglings: Du mußt morgen, beim Fest der Toten, für mich die Orgel spielen, flüsterte er heiser. Hörst du, du sollst den Tod bei seinem Gesang begleiten und alles so tun, wie ich es täte. Er sah seinem Schüler voll in die Augen. Dann ließ er ihn los. Ein freudiger Schreck durchfuhr Renatus. Werde ich vor den Ohren der vielen Tausende auch bestehen können, fragte er sorgend, doch es war nur die Furcht vor dem Glück, die ihn diese Worte sprechen ließ. Sei ohne Angst, stieß Amadäus hervor. Er schien dem Jüngling seltsam erregt. Kaum war er fähig, seinen keuchenden Atem zurückzuhalten. Laß mich nun allein, flüsterte er. Renatus gehorchte. Mit leisen Schritten verließ er das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Als der Jüngling gegangen war, richtete sich Amadäus jäh im Bette auf. Sein Herz jubelte. Hatte er nicht ein Feuer in den Augen Renatus' aufspringen sehen, zitternd und flimmernd wie ruhelosen Flammenschein? Mit 156 bebenden Händen nahm er das silberne Herz von seinem Halse und preßte es fest zwischen den Fingern. Durch dieses Herz, flüsterte er, habe ich Macht über dich, du mußt meinen Willen tun, den Gedanken Leben schenken und die Träume Gestalt werden lassen. Er öffnete seine Hand und betrachtete das Schmuckstück: Ich befehle dir, Renatus, sprach er und führte das Herz nahe an seine Lippen, ich befehle dir, daß du morgen für mich in der Kirche am Fischmarkt den Tod besiegst, daß du das Lebenslied anstimmst und die Menschen von Henna den Tod vergessen läßt, daß du sie zu einem heiteren Tanze bewegst und den Grausamen endlich aus dem Felde schlägst. Dies, mein Renatus, befehle ich dir, es ist mein Wille, mein Gedanke und Traum, darauf geht all mein Sinnen, du mußt es in deinem Herzen spüren und danach handeln, denn ich besitze Macht über dich. Amadäus hielt inne. Erschöpft sank er in die Kissen zurück und blieb ruhelos liegen, wilder Hoffnungen und einer unbegreiflichen Sehnsucht Opfer.
Renatus hatte das Haus verlassen und wanderte in die Nacht hinaus. Das Bildnis des Mädchens, das er vor Augen trug, hatte sich wunderbar belebt und war dem Antlitz der Flötenspielerin verwandt geworden; es war bei ihm und sprach mit dem Jüngling, und das Lied der Flöte tönte in seinen Ohren. Renatus ging durch dunkle Straßen, zu seinen Füßen rauschte das Wasser. Bald kannte er die Gegend nicht mehr. Er schritt weiter in eine fremde Welt. Die Häuser waren hier niedriger, der Duft des Meeres wehte herüber. Roter Laternenschein spiegelte sich stumpf in großen Wasserlachen. Sah er nicht, wie die Tropfen an den Bäumen spielten? Renatus hob sich auf die Zehenspitzen und streifte das Naß mit den Lippen von den hängenden Zweigen einer Weide. Warmer Wind breitete seine Flügel aus und hob den 157 Jüngling empor, daß er meinte, der Boden unter seinen Füßen sei geschwunden. Am Wege stand ein Brunnen. Renatus setzte sich auf seinen Rand und tauchte den Finger in das kühle Naß, nahm ihn empor und sah, wie ein Tropfen über die Spitze herabrann und zurückfiel in das Wasser. Der Wind trieb Wolken an dem Monde vorbei. Renatus ging weiter. Er lauschte in die tropfende, rinnende Nacht hinaus. Das Flötenlied, dieser jubelnde Tanz des Lebens klang überall wider; es war wie ein Auferstehen in der nächtlichen Welt. Die Häuser lichteten sich und Renatus trat hinaus auf einsame, freie Plätze. Die Steine auf der Straße hatten aufgehört, in den Boden war leicht und weich zu treten, er nahm die Schritte des Jünglings fort, daß es ganz still um ihn ward und nur noch die rinnenden Wasser sprachen. Renatus begann zu singen. Von Ferne glaubte er einen Widerhall zu hören. Oder war es das Lied des Windes, der zu seinen Häupten sang? Jetzt hörte er sie ganz deutlich, die Melodie des Flötenmädchens; aber nein, es war seine eigene Stimme, die sich so seltsam verwandelt hatte. Renatus, sagte das Bild des Mädchens, singe mir dieses Lied! Solange du singst, lebe ich und bin bei dir. In der Ferne sah der Jüngling einen Feuerschein glühen. Er ging darauf zu. Die Augen hatte er weit geöffnet. Ein Feuer? Wo mochte es brennen? Er wanderte schneller. Ein einsames Haus nahm den Feuerschein fort, aber bald erblickte ihn Renatus wieder, näher und dennoch viel kleiner. Es mußte kurz vor Mitternacht sein. Das letzte Stück ging er über eine Wiese, dann stand er vor einem langen Bretterzaun. Es war das Anwesen des Lumpenmachers von Henna. Renatus fand, als er über den Zaun sah, den Mann zu dieser späten Stunde noch bei der Arbeit. Unter dem Schein eines Holzfeuers hängte er die gewaschenen Lumpen zum Trocknen an die Luft. Seine Bewegungen waren ruhig 158 und hatten alle Hast abgelegt. Dazu sang der Lumpenmacher leise ein Lied vor sich hin, das in seine Arbeit floß und zu dieser Stunde nicht mehr bedeuten wollte als eben ein Lied. Es war kaum hörbar, denn der Mann hatte eine Tabakspfeife zwischen den Zähnen; mit Schaudern aber erkannte Renatus, daß es das Lied des Todes war. Der Gesang der Flöte wurde leiser in Renatus' Herzen, und eine Müdigkeit überfiel ihn, daß er an Schlaf und Ruhe dachte; zugleich regte sich aber der Trotz in ihm und schoß in der Frühlingsluft gewaltig empor. Hier draußen war es kälter und das Eis an den Bäumen noch nicht ganz geschmolzen. Nun streifte der Föhn ganze Ketten zerbröckelnder Kristalle von den zitternden Ästen, daß sie mit Klirren, wie ein Korb voll Gläser, zu Boden fielen. Eine heiße Lust überkam den jungen Renatus; er spannte die Brust, hob die Hände empor, als wolle er gewaltsam in den Himmel greifen, und plötzlich stieß er einen Jubelruf aus, faßte die Bretter des Zaunes mit beiden Händen und rief hinüber: Morgen zum Kampfe, gerechter Tod! Dann sprang er schnell in die Nacht hinaus. Es dauerte lange, bis der Lumpenmacher mit seiner Arbeit innehielt, den Kopf hob und in die Richtung blickte, aus der ihm der Zuruf ertönt war. Ja, morgen abend, kleiner Amadäus, entgegnete er, zum Fest des Todes, wie es Brauch und Sitte ist. Dann wandte er sich wieder seinen Tüchern zu. Von einem nahen Turm schlug es Mitternacht. Das Fest der Toten begann.
Unterdeß saß Amadäus aufrecht in seinem Bett. Er hielt das silberne Herz in den Händen und summte unentwegt das Lied der Flötenspielerin. Dabei dachte er an Renatus. Vor seinen Augen tanzten Bilder der nächtlichen Stadt, spiegelnde Lachen und niedere Häuser, Brunnen, in denen das Wasser sprach und weit draußen große, freie Plätze, über die ein Feuerschein tanzte. So saß er lange wie in 159 einem Fieber. Um Mitternacht wurde er ruhiger und bald darauf schlief er ein. Das silberne Herz aber ließ er nicht aus den Fingern.
Am frühen Morgen kehrte Renatus nach Hause zurück. Seine Wangen waren von der Nachtluft gerötet. Er nahm einen Spiegel und betrachtete sich lange. So kenne ich mich nicht, flüsterte er. Eine feste Entschlossenheit sprach aus seinen Augen. Die Lippen hatten sich aufeinander gepreßt, als wollten sie kein Wort hervorlassen. Renatus legte den Spiegel beiseite und blickte auf. Es war ihm, als wäre er auf dem Marsch auf einem fremden Wege. Er glaubte, den Klang seiner Schritte zu hören. Von diesem Wege, sprach er, gibt es kein Zurück. Renatus legte sich zu Bett und versank bald in einen tiefen Schlaf.
Eine Stunde vor Beginn der Feier rief Amadäus seinen Schüler noch einmal zu sich und sprach, wie er es gewohnt war: Nun tu, was du kannst, und trage dein Teil bei zu einem glücklichen Ende! Er zog Renatus an sich heran, hob den Finger und sagte: Führe dir nur recht vor Augen, daß es kein höheres Fest in Henna gibt und viele Tausend deinem Spiele lauschen. Amadäus hielt inne und wandte den Kopf ab. Es ging ihm auf, daß er mit solchen Worten sein Ziel nicht erreichen konnte. Er nahm dem Schüler allen Mut zu dem Frevel, den er für ihn begehen sollte. Amadäus zog den Jüngling noch dichter an sich heran, führte seinen Mund an dessen Ohr und sagte mit einem heimlichen Kichern: Wenn dir aber aus dem Gefühl ein Gedanke kommt, und du möchtest ihn in ein Lied umsetzen – so tu es getrost, denn es sind die besten Gedanken, die aus dem Fühlen kommen. Renatus nickte mit dem Kopf. Er hörte die Worte seines Meisters nicht, in Gedanken war er in der Kirche am Fischmarkt, und alles um sich hatte er vergessen. Den alten Amadäus aber schmerzte, was er sprach, er drehte das Gesicht zur Wand 160 und sagte leise: Nun geh, Renatus, und ein gutes Gelingen! Weiter konnte er nicht sprechen; die Scham peinigte ihn unsäglich, er kämpfte mit ihr wie ein Ertrinkender, und im tiefsten Grunde seines Herzens wünschte er sich den Frieden. Renatus ging still hinaus. Als er den Fuß auf die Treppe setzte, rief ihn der Meister noch einmal zurück. Er möge ein Fenster öffnen, bat Amadäus, daß auch er das Lied der Orgel vernehmen könne. Der Jüngling tat, wie ihm geheißen. Er hüllte den Alten in eine Decke und ging fort.
Als es dunkel wurde, trafen die Leute in der Kirche am Fischmarkt zusammen. Sie hatten Abschied von ihren Toten genommen. Das Herz war ihnen schwer, und sie kamen, um sich von den Worten des Todes trösten zu lassen. Still suchten sie ihre Plätze auf und senkten den Kopf, denn noch hatten sie die Ruhe und Gelassenheit nicht gefunden, die des Totenfestes würdig ist. Manch einer hielt den Blick starr emporgerichtet auf eine Ampel oder den zarten Schimmer eines bunten Kirchenfensters, als ob diese in ihrer Stille und Stetigkeit ihnen Frieden geben könnten. Mehr und mehr füllte sich der Raum. Die Männer standen in den Gängen und hielten ihren Hut in den Händen; andere, die später kamen, fanden nur auf den Stufen stehend Platz, und endlich drängten sich die Menschen bis weit hinaus auf den Fischmarkt von Henna. Was tat es? Leise und fern, wie aus einer anderen Welt, drang das Lied des Todes auch zu ihnen, und nahm der Wind es fort, so tönte es dennoch in ihren Ohren, weil sie es so oft gehört hatten und es ihnen Jahr für Jahr zum Trost geworden war.
Durch die Reihen des Volkes ging ein leises Raunen. Der alte Amadäus, hieß es, sei krank geworden, und sein Schüler spiele heute zu dem Fest des Todes. Die Leute von Henna nickten mit den Köpfen. Warum nicht auch, 161 dachten sie, es kommt nicht auf den Orgelspieler an – das Fest des Todes nimmt seinen Verlauf, heute wie vor hundert Jahren; es ist alles festgelegt, und ein alter Brauch wird leicht geübt.
In der Dunkelheit trat endlich der Feldmarschall ein. Er hielt seinen Helm in der Hand und ging langsamen Schrittes durch den Mittelgang in die vorderste Reihe. Sein Gesicht war ernst, auf dem Weiß der Haare lag roter Kerzenschimmer. Es hieß von ihm, er sei der Unerbittlichste aller Heerführer; doch das wollte niemand glauben, der ihn ansah, so sanft war die Gewalt, die von ihm ausging, so unspürbar und auch so unentrinnbar. Der letzte Sproß einer alten Familie, war er schon früh zu den höchsten Ehren aufgestiegen; als das Wunderbarste aber erschien es, daß niemand je eine Wandlung seines Wesens an ihm bemerkt hatte, er war als Greis wie er als Mann gewesen, sprach selten mehr, als es notwendig war, und was er sagte, besaß die einfache und endgültige Klarheit eines Gesetzes. Als der Feldmarschall Platz genommen hatte, hoben die Leute von Henna ihre Köpfe, und eine hohe Erwartung bewegte aller Herzen. Der Tod im weißen Mantel trat neben den Altar, und die Feier konnte beginnen.
Leise hub die Orgel an zu spielen; die Menschen bereiteten ihre Gedanken auf das Lied des Todes. Aber was war das? Deutlich erklang von der Höhe der Orgel eine fremde Melodie, lieblich und voller Übermut, wie die Musik zu einem Tanze. Die Leute von Henna wandten ihre Köpfe. Das Lied der Orgel wurde lauter mit jedem Tone wie ein Reigen, der nur langsam in Gang kommt. Der Tod stand wartend neben dem Altar. Früher oder später komme ich doch, schien er zu sagen. Einmal erweckte es den Eindruck, als blickte er dorthin, wo der Orgelspieler verborgen saß, und ein Erkennen streifte 162 seine Seele. In die Augen der Menschen trat ein unruhevoller Schimmer. Das fremde Lied warb um ihre Herzen, es wollte sie hinausführen in die Frühlingsluft und zu einem jubelnden Tanze verlocken. Manch einer blickte zornig auf und bewegte die Lippen. Wer wagte es, das Fest der Toten zu stören? Trunken und seiner selbst vergessen tönte der Reigen fort.
Da hob der Tod das Schwert, trat einen Schritt vor und begann mit lauter Stimme zu singen. Die Orgel verstummte. Aller Blicke wandten sich auf den Tod. Er bannte sie mit einer unheimlichen Gewalt. Feuer glühte in seinen Augen. Das Erz seiner Waffe spiegelte den Schein der Kerzen wider. Für diesen Augenblick war er der Herr in der Kirche am Fischmarkt. Bald aber setzte das Spiel der Orgel wieder ein, es fuhr fort, wo es abgebrochen hatte, ein Ton des Schmerzes und der Verzweiflung gab ihm tiefere Kraft. Ich bitte euch, schien es zu rufen, hört auf meine Melodie, wendet euch um und schenkt euer Herz diesen Tönen, erhebt euch von den Bänken und beginnt den Tanz des Lebens, vergeßt den Tod, höret auf mich, ich bitte euch, jubelt. – Unbeirrt sang der Tod seine Melodie, es schien, als hätte sie tief in seinem Herzen Leben gewonnen, als hebe er sie mit den Händen empor und ließe sie im roten Scheine erglühen. Er hörte nicht mehr die Musik der Orgel. Mit mächtiger Stimme sang er sein eigenes Lied, das Lied des Todes, das seit uralten Zeiten zu dieser Stunde und an diesem Orte erklungen war, und heute so wie immer erklingen mußte.
Aber das Brausen der Orgel ward lauter, es wuchs zu einem gewaltigen Jubelchor, wie aus tausend Kehlen erscholl sein Gesang und tönte fort in dem hallenden Raum der Kirche. Die Stimme des Todes drohte unterzugehen. Eine große Unruhe bemächtigte sich aller Menschen. Es 165 war, als wollten sie aufspringen und die Feier verlassen. Worte wurden laut, Füße scharrten; durch die Kirche am Fischmarkt ging ein unheimlich fremder Atem. Das Fest der Toten wollte versinken. Da erhob sich in der vordersten Reihe der alte Feldmarschall, faltete die Hände über seinem Helm und begann, mit lauter Stimme das Lied des Todes zu singen. Seine Nachbarn sahen nur, wie er die Lippen bewegte und sein ganzer Leib gestrafft war, als befehle er eine Schlacht in ihrer entscheidenden Stunde. Der Feldmarschall warf einen kurzen Blick zur Seite, aus seinen Augen sprach es wie ein Kommandowort. Andere Männer fielen in den Gesang ein. Sie starrten wie gebannt auf den Tod, und durch ihre Körper ging ein Schauer, als berühre sie die Weihe einer heiligen Tat. Es galt, dem Tode zu helfen und das Gesetz zu vollstrecken, welches ihm an diesem Tage aufgetragen war. Das Lied wurde stärker und stärker. Die Menschen, die noch schwiegen, erfaßte eine gewaltige Woge, die Sehnsucht nach dem Trost des Unerbittlichen und der heiteren Ruhe der Bescheidung öffnete ihre Lippen und ließ sie einstimmen in das Lied des Todes, in den Gesang des Volkes von Henna. Bald hörte niemand mehr das Spiel der Orgel. Die Stimmen der Männer und Frauen waren stärker und klangen näher an aller Ohren. Die Melodie des Todes zog einen Kreis um die singenden Menschen, der alles Fremde ausschloß und sie die Musik der Orgel vergessen ließ. Durch die geöffneten Türen drang das Lied hinaus auf den Fischmarkt von Henna. Der Wind trug es empor und entfaltete es zu seiner ganzen, flammenden Helligkeit. Weit in der Stadt öffneten sich die Fenster der Häuser und den Daheimgebliebenen war es wie ein Wunder, daß der Gesang des Todes durch die Nacht auch zu ihnen kam und sie mit dem Frieden seiner Gefaßtheit erfüllte.
166 In der Kirche am Fischmarkt senkte der Tod sein Schwert. Das Lied war zu Ende, und die Menschen schwiegen. Doch es wurde nicht still im Raume. Die Orgel spielte mit aller Gewalt den Gesang des Todes. Ihre Stimme tönte mächtig und hallte von den Mauern wider. So voller Inbrunst hatten die Leute von Henna sie niemals erklingen hören, so voller Macht und Hingabe. Der Tod hatte gesiegt.
Langsam nur fand die Orgel in das Schweigen zurück. Es war, als wollte sie immer wieder mit eindringlicher Stimme an den Tod gemahnen und ihn emporheben in die Unwandelbarkeit eines allumfassenden Gesetzes. Wind wehte durch die offenen Türen in den Kirchenraum und die Flammen auf den Kerzen legten sich nieder, ohne zu verlöschen. Langsam kehrte die Wirklichkeit zurück, und als die Leute aufbrachen, die Kirche zu verlassen, war es manchen von ihnen, als müßten sie hinaufgehen und den Orgelspieler zur Rede stellen, wie er dem Feste des Todes ein so eigenartiges Gesicht habe geben können. Sie blickten voller Erwartung auf den Feldmarschall, um den Befehl aus seinen Augen zu lesen, der alte Heerführer aber schüttelte leise den Kopf, und da die Leute unschlüssig an der Treppe stehen blieben, sagte er mit einer festen Stimme: Geht fort und laßt ihn mit sich allein. Der Tod hat den Sieg davongetragen und mehr bedarf es nicht. Die Kaiserin hütet das Gesetz, doch nicht die Herzen der Menschen, und jedermann trägt sein eigenes Geschick. – Die Angesprochenen senkten die Köpfe und wandten sich zum Gehen. Und da sie den Frieden verspürten, der in dem Raum lag, den stillen Glanz der Kerzen erblickten, da konnten sie nicht mehr begreifen, was sie vorgehabt hatten.
Die Glocke im Turm begann zu läuten.
Renatus blieb in einer tiefen Entrückung auf seinem 167 Platze und fühlte sich von einer stillen Heiterkeit umfangen, er konnte die Hände nicht von den Tasten lösen und spielte, der Zeit vergessend, mit lächelnden Lippen bis tief in die Nacht hinein. Das Lied des Todes formte sich zu einer machtvollen Fuge; es stieg hinauf und herab, rief das Bild eines gewaltigen Domes wach, dessen Streben und Pfeiler in ewiger Ruhe ein Heiligtum umschließen und es doch dem Leben offen lassen. Jetzt erst meinte Renatus die Seele der Musik zu erkennen. Es war ihm, als ginge er über ein reiches Feld, welches sein Eigen war und doch einem andern gehörte, aus dessen Händen er es dankbar entgegennahm. Ein tiefer und schwereloser Frieden war über ihn gekommen, und er spürte den Trost, in einem Gesetz aufzugehen und darin frei zu sein. Als die Glocke im Turme über ihm schwieg, wußte er, daß ein neuer Tag angebrochen war. Da löschte er die Kerzen und ging hinaus über den nächtlichen Fischmarkt.
Als er die Stubentür öffnete, fand er den Meister aufrecht in seinen Kissen sitzend. Das Antlitz des alten Mannes zeigte friedliche Heiterkeit, so daß es aussah, als habe er auf seine Weise an der Feier teilgenommen und sei von der stillen Gewalt des Todes besiegt worden. Das weiße Haar war ihm ins Gesicht gefallen, auf seinen Lippen lag ein starres Lächeln, und seine Hände ruhten mit den Flächen nach oben auf der Decke, als hätte der Greis eine liebliche Erscheinung empfangen wollen. Amadäus war tot. Das silberne Herz lag am Boden. Renatus sah den Toten unverwandt an. Er empfand keine Verzweiflung, es war ihm, als hätte er die Antwort auf eine Frage erhalten, die ihn gequält, und er könnte nun ruhig sein. Der Jüngling trat an das Bett des Meisters und schloß ihm die Augen. Dann löschte er das Licht bis auf eine einzige Kerze. Er setzte sich still zu dem Toten, und es schien ihm, als zöge er einen Kreis um sich und den alten 168 Meister, der weit war und dennoch eng, aus dessen Bann er sich niemals mehr würde entfernen können. Die Stunden vergingen, als hätten sie ihre Zeit verloren und seien emporgehoben in ein ewiges Dasein.
Als die Nacht vorüber war, und das graue Licht des Morgens durch die Fenster blickte, verließ Renatus den Toten und ging ins Nebenzimmer, in dem ein kleines Spinett stand. Er hob den Deckel – da war es ihm, als kämen ihm die Melodien entgegen und wollten aus ihrem Schlafe erlöst sein. Vor den Scheiben begannen die Vögel zu singen. Der Jüngling öffnete das Fenster; der frühe Morgen drang zu ihm herein. Wie ein blaßroter Hauch lag die Ahnung der Sonne über der Erde, ein starker Duft drang empor, und der Morgenhimmel glich einer großen, mattblauen Schale, die sich mit der Glut des Lebens anzufüllen sehnte.
Renatus setzte sich nieder und unter seinen Fingern entstand das Lied der Flöte, heiter und schwerelos, voll lächelnder Anmut, und ungestüm sang dazu vor seinem Fenster der warme Frühjahrswind. Am späten Morgen ging der Jüngling hinüber in das Zimmer des Toten, und als er das silberne Herz am Boden glänzen sah, nahm er es auf und steckte es zu sich. Dann stieg er zum Boden hinauf und trat vor die Maske des Mädchens. Da schien es ihm, als spräche aus ihrem Lächeln die gleiche milde Ruhe, welche er auf dem Antlitz des toten Meisters wahrgenommen hatte. Mit einer scheuen Bewegung hob Renatus die Hände, nahm das Bild herab und versenkte es in eine Truhe, darin es seine ewige Ruhe finden sollte. Danach trat er hinaus, um den Leuten von Henna den Tod des alten Orgelspielers zu melden.
So endete die Legende von dem alten Amadäus, der in der Kirche am Fischmarkt den Tod durch die lebendige Kraft der Musik besiegen wollte, und der selbst auf eine 169 wundersame Weise besiegt wurde. Als die Männer und Frauen von Henna den Tod des Greises erfuhren, kamen ihrer viele herbei, um von ihm Abschied zu nehmen. Er habe ein seliges Ende gefunden, sprachen sie unter sich. Der Tod hätte ihn zu keiner höheren Stunde hinfortnehmen können; als er in der Kirche am Fischmarkt das Schwert senkte, sei das Leben Amadäus' erloschen. Und die Menschen fragten sich, ob hierin ein Gleichnis zu erblicken sei, denn noch niemals, solange die Kirche stand, hatte das Fest der Toten einen solchen Verlauf genommen.