Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Die fremde Stadt

In der Stadt Orla herrschte der Hunger. Die einzigen, die Brot besaßen, waren die Soldaten aus Henna und die fremden Kriegsleute. Der Tod ging durch die Gassen, und seinen Schritten folgte das Grauen. Kinder hockten bettelnd vor den Türen, Greise starben am Mittag auf der Straße, und die stolzesten Frauen verkauften ihren Leib. Es gab manche Wege, den Tod zu betrügen, doch alle führten durch das Dunkel, und nur die Schlechtesten wußten dem Tod und dem Elend zugleich zu entgehen. Wie ein Unwetter wehte die Not über die Stadt, sie traf Schuldige und Schuldlose mit grausamer Blindheit. Warum auch hatten die Leute von Orla dem aufständischen General Hilfe geleistet und seine Sache zu der ihren gemacht? Vielleicht konnten sie nicht anders, vielleicht war ihr Schicksal schon besiegelt, als sie noch ein ungetrübtes Glück genossen. Der König des fremden Landes, in welchem der Aufstand ausbrach, bat die Kaiserin von Henna um Waffenhilfe. Drei Regimenter aus der goldenen Stadt rückten nach Norden. Das Feuer des Aufstandes erlosch so schnell, wie es aufgeflammt war, doch was es zurückließ, waren Trümmer, Brandgeruch und ein furchtbares Erwachen. Der rebellische General starb auf 212 der Flucht. Die Leute von Orla beugten sich unter das Joch der Not. Die Soldaten des fremden Landes, die dem König treu geblieben waren, und die Bundesgenossen aus Henna hielten Wacht in der traurigen Stadt wie vor einem dunklen Kerker. Und dennoch war Orla einmal ein Ort des Glückes, des Stolzes und Reichtums gewesen. An einem Abend rief der Hauptmann von Henna seine Soldaten zusammen und sagte: Schließt eure Augen vor dem Grauen, es geht euch nichts an. Verstopft eure Ohren vor dem Lärmen der fremden Soldaten, die hier in ihrem Lande sind und also sprechen können, wie es ihnen gefällt. Wir sind nicht da, das Elend zu heilen, doch ebensowenig, die Not zu vergrößern. Blickt auf die Stadt, als sähet ihr sie nicht. Dann fügte der Hauptmann mit leiserer Stimme hinzu: Wenn die Leute aus Orla euch Ringe und Ketten für ein Brot anbieten, so fragt nicht und nehmt, wenn euer Herz nicht nein sagt. Zweifelt es aber, so behaltet euer Brot und laßt den anderen ihr Gold. Sie verkaufen es dann an der nächsten Ecke an einen, der es nimmt ohne Aufhebens, ohne Freude und Schmerz. Es ist nicht das gleiche, wenn zwei Menschen das gleiche tun. Der Hauptmann schwieg und sprach dann, daß es klang wie das Laden einer Waffe: Eine Frau, die aus Not ihren Leib verkauft, verachtet den, der ihn annimmt. Wer von euch sich der Verachtung preisgibt, den verachtet auch die Kaiserin. Was die fremden Soldaten, die mit uns in der Stadt die Wache halten, mit den Frauen ihres eigenen Volkes tun, geht uns nichts an. Wir sind Fremde in Orla, sie nicht. Wir leben in einer anderen Welt. Die ihre ist uns dunkel.

Einer der Soldaten, der den Namen Michael trug, ging allein durch die Straßen der Stadt. – Wir leben in einer anderen Welt, sprach er und schritt mit offenen Augen durch das Grauen von Orla. Bettelnde Kinder säumten 213 seinen Weg. Sterbende hockten am Rande der Straße. Schwärme von Fliegen summten in den dunstigen Gassen. Der Tod ging um. Hie und da ein zertrümmertes Haus, als hätte es die Faust eines Riesen getroffen. Brandgeruch stieg aus den Trümmern. Michael lächelte. Das Grauen reichte nicht an sein Herz. Er besaß die grausame Reinheit der Jugend. Seine Augen sahen alles, und er wußte, daß es Wirklichkeit war. Doch er wollte die Welt nicht anders, als sie sich gab.

Es ist alles das Werk von Göttern, sprach er, und diese Götter sind Menschen. Warum sollt' ich nicht lächeln? – Die glückselige Ahnung von irgendeinem Wunder, das aus der Not von Orla wuchs und nur aus diesem Elend sich erheben konnte, wehte ihn an. Oder war es ein glühender Wind, der mit seinen hellen Haaren spielte? Die Worte Anitas, des Mädchens, das er gern hatte, fielen ihm ein, die sie auf dem Bahnhof von Henna zu ihm gesprochen hatte: Die Fremde ist wie ein Zauber, der dich verwandelt. Ich habe Furcht um dich. Der Gleichmut deines Herzens ist ein Trug. Vor einem Zauber neigst du dich wie ein Baum im Sturme. – Du hast recht, Anita, dachte er. Es ist wahr, ich warte auf den Sturm, daß ich mich neigen kann. Nichts Herrlicheres, als sich zu neigen mit allem, was man ist, langsam und lächelnd und stolz, wie vor einem unentrinnbaren Schicksal. – Du fühlst eine Sehnsucht, hatte Anita gesagt, die ich nicht stillen kann. Sie schlummert in dir, und vielleicht wird sie niemals erwachen. Doch wenn sie erwacht, dann gibst du ihr alles hin. – Ach, dachte Michael, ich verbiete sie mir, diese Sehnsucht, daß ich sie endlich einmal um so stärker genieße. Was vermag ein Baum gegen das Blühen? Das Antlitz Anitas tauchte vor ihm auf, dieses reine, scheue und ernste Mädchengesicht, und er glaubte, ihre kühlen Hände, die immer wie eine Frage waren, an seiner 214 Schläfe zu spüren. All mein Wünschen ist, dachte er, deinen Weg zu behüten und jeden Schmerz von dir fernzuhalten. Es fiel ihm ein, daß er einen Ring für Anita erwerben könnte. Er kehrte in das Quartier zurück und holte ein Brot, das er für den Ring geben wollte. Dann lenkte er seine Schritte von neuem in die Stadt.

Diese hatte ihr Gesicht gewandelt. Das weiße Licht, das über Orla und der endlosen, einsamen Hochebene gestrahlt hatte, war erloschen, als hätte es jemand ausgeblasen. In satt leuchtender Glut lagen altersdunkle Häuser von braunem Stein, die seltsam geschmückt waren wie Paläste aus vergangenen Jahrhunderten, in purpurnem Licht die engen, prächtigen Straßen, in denen das Unkraut wuchs, und nebelhaft drangen aus dunstigen Gassen schon die Schatten der Nacht. Der Himmel war hoch und weit, von kaltem, gläsernem Grün. Eile dich, rief eine Stimme in Michael, daß du das Glück noch erlangst, ehe die Nacht es dir raubt! Er lächelte dazu, als hätte er ein unbestimmtes Glück im Auge und spielte mit ihm, weil er es längst besaß, es an sich reißen und lassen konnte, wie die Laune ihn trieb und der Schmerz seiner Sehnsucht. Voller Ahnungen war die dunkelglühende Stadt, voller Geheimnisse der warme Abendwind, der den Geruch des Brandes trug und voller Zauber die Nähe der Nacht.

Auf dem Korso sprach ihn ein Mädchen an. Willst du mich haben? fragte sie mit einer traurigen Stimme. Michael blickte auf. Er sah ein junges Antlitz von hoher Schönheit. Dunkle Haare umrahmten es, die Augen waren von der Farbe schwarzer Samtblumen, die in diesem Lande hier und dort zwischen den Steinen erblühen und eine große Kostbarkeit bedeuten. Die Frau war hoch gewachsen, ihre schmalen Finger schienen voller Kraft, als könne sie Pferde bändigen. Die Stimme war hell und 217 sehr sanft. Auf dem Antlitz des Mädchens lagen Stolz und Verachtung, als weise sie den Fremden, dem sie ihren Leib anbot, von ihrem Herzen zurück.

Die Frau glaubte, sie sei nicht richtig verstanden worden, weil sie die Sprache von Henna nur unvollkommen beherrschte. Sie wies mit den Spitzen ihrer Finger auf das Brot. Dann führte sie die Hände empor zu ihrem Hals, als wolle sie das Kleid über der Brust öffnen.

Michael erschrak. Der Jammer der hungernden Stadt überfiel ihn, als hätte er ihn niemals vorher gespürt. Doch dieser Jammer war ein seliges Leid.

Warum tust du das? fragte er in der Sprache des fremden Landes. Seine Stimme klang wie ein Degengeklirr, und er hätte so gern in der Sprache der Blumen geredet, welche Duft ist und ein seliges Leuchten.

Die Frau schüttelte den Kopf; es war offenbar, daß sie sich in kein Gespräch einzulassen wünschte, sondern schnell und so, als wüßte ihr Herz nicht, was der Leib tat, ihr trauriges Werk vollenden wollte. In der Bewegung des Kopfes war etwas von der Gebärde solcher Menschen, die nur das Befehlen gelernt haben.

Warum willst du mir keine Antwort geben?, fragte Michael und setzte seinen Hochmut gegen den Stolz der Frau. Das Blut stieg ihm in die Wangen. Er hätte so gern das Knie gebeugt und die Spitzen ihrer Finger geküßt.

Die Frau wandte sich zum Gehen. Nein, schrie es in Michael, du darfst sie nicht von dir lassen. Du wirst sie niemals mehr wiedersehen. Mit einem Sprung war er an ihrer Seite. Das Brot trug er unter dem Arm. Warum tust du das, fragte er zum zweiten Male, und diesmal klang seine Stimme leise und mild, voller Trauer. Seine blauen Augen schimmerten wie Seen voll klaren Wassers. Sie litte Hunger, erzählte das Mädchen. Ihr Vater habe 218 als Offizier an der Seite des aufständigen Generals gefochten und sei vor den Toren der Stadt gefallen. Sie hätten kein Brot, das sie essen sollten, in der ganzen Stadt gäbe es kein Brot. Nur die Soldaten besäßen es, die von Henna und die aus ihrem eigenen Volke. Die Macht des Hungers sei groß. Sie wolle nicht sterben. Also müsse sie diesen Weg gehen.

Wenn sie sprach, dann war es wie das silbrige Geräusch einer Quelle. Sie tut mir so leid, sprach es in Michael, sie tut mir so bitter leid! Seine Augen hingen an ihrem Antlitz, das weiß wie die Farbe des Elfenbeins, mit einem bräunlichen Schimmer aus dem Dunkel der Haare leuchtete. Er bewunderte ihre Augen unter den schmalen, geschwungenen Brauen, diese dunklen, tiefen und doch wie zum Lachen und Lieben geschaffenen und allem Elende fremden Augen. Er sah den stolzen Mund, der purpurfarben und gleich dem Kelch einer Blume dunkel in dem hellen Antlitz glühte. Niemand hätte sagen können, was die Frau fühlte. Ihr Herz war verschlossen. Tausend Freuden und sorglose Spiele, dachte Michael, tausend Träume und Leidenschaften hat sie in ihrem Herzen verschlossen.

Tränen glänzten in den Augen der stolzen Frau. Sie wollte fortgehen, doch Michael vertrat ihr den Weg. Nimm dies Brot, sagte er, ich schenke es dir. Sei immer am Abend hier an diesem Platz, dann will ich dir geben, was ich selbst besitze. Doch geh niemals den Weg, den du gehen wolltest! Er fragte nicht, ob sie ihn schon gegangen. Er sah nur diese Stunde, nicht Vergangenheit und Zukunft. Das Mädchen blickte ihn mit erschrockenen Augen an. Auf das höchste Elend vorbereitet, schien ihr das Glück unbegreiflich. Lebten Großmut noch und Ritterlichkeit, die sie in dem Grauen von Orla begraben wähnte? Die Frau nahm das Brot und dankte. Mit einer 219 scheuen Gebärde führte sie ihre Finger an die Wange des Mannes und strich leise darüber hin. Sie lächelte, winkte zum Gruße mit der Hand und ging fort durch das Dunkel der abendlichen Stadt.

Verwandelt blieb Michael zurück. Eine Musik klang in ihm auf, die tönte in seinen Ohren, und er konnte vor ihrem Zauber sich nicht mehr retten. Er hörte nichts anderes mehr, es war, als sänke er in ein tiefes Wasser, das diese Musik erklingen ließ, die Flut schlug über ihm zusammen; es war nur das Spiel der Wellen um ihn und das Spiel der Lichter, die von dem Grunde emporstiegen in flammender Helligkeit, kamen und vergingen in wechselndem Zauber.

Wie ein Trunkener trieb er durch die Straßen. Das silberne Licht des fremden Mondes, der Dunst der Stadt, die Erscheinungen der fremden Menschen, die, Schatten gleich, an ihm vorüberwehten, schienen ihm liebreich und vertraut. Die Mücken, die bei Nacht erwachten und in sein Antlitz stachen, die bösen und verhaßten Tiere, waren seine Freunde. Er sang mit ihrem Singen und fühlte nicht den Schmerz. O, Wunder, seine Haut war schmerzlos, die Stiche schwollen nicht, es schien, als sei er über das Gesetz der Natur emporgehoben und gehorche anderen Stimmen. Oder war es das feine Leid der Liebesfülle, das ihn die irdischen Schmerzen vergessen ließ? Voll seliger Trunkenheit strich er liebkosend über den narbigen Stein einer Mauer, umarmte die Rinde eines Baumes und trank die Luft wilder Blumen, die in einem Graben am Wege wuchsen.

In dieser Nacht, als er im Traum in seinem Schlafsack lag, hatte er das erste Gesicht. Er sah Anita, wie sie in Henna am Ufer des Flusses saß, der den Namen der Stadt trägt und seine ruhig wallenden Fluten in das Meer ergießt. Sie wusch ihre Kleider, blickte auf und rief: 220 Michael, siehst du mich noch, hörst du mich? Ach, vorbei, vorbei . . . Meinte sie das Fließen der Wellen, die kamen und gingen und, wenn sie gegangen waren, niemals wiederkamen? Michael, Lieber, siehst du mich nicht mehr? Da war es ihm, als rückte das Bild in unendliche Fernen und als hörte er Anitas Stimme von weit her; er wollte winken wie zu einem Abschied, doch da war er entrückt in ein fremdes Land, darin glühte eine schönere Sonne, und alle Büsche und alle Blüten sangen, daß es hoch in den Himmel klang.

Von nun an sah Michael das fremde Mädchen täglich. Er traf sie in einem Gartenhaus am Rande eines Parkes, wohin sie ihn am zweiten Abend geführt hatte, und brachte ihr Brot und Fleisch. Wenn er bei ihr war, entschliefen seine Gedanken, nur das Herz war noch wach und die brennenden Augen. Dann wurde die Zeit zeitlos. Warum darf ich nicht Tag und Nacht bei dir sein, dachte Michael. Sie blieb immer eine Fremde, und es war, als sei eine Wand von Glas zwischen ihnen. Die Sehnsucht des Mannes wuchs mit jedem Tage, und mit der Sehnsucht wuchs der Schmerz, die heftigste und bitterste aller Freuden. Wie mag es in ihrem Hause aussehen, dachte Michael. In einem der düsteren Paläste sitzt sie im Lichte einer Kerze allein. Woran denkt sie? Die dunklen Augen blicken durch das Fenster auf die Straßen der Stadt. Ihre Gedanken weilen bei mir. Es ist nur das Eis des großen Stolzes, das nicht schmelzen will. O, eines Tages wird es zerfließen unter der höchsten Glut der Liebe, und dann ist nichts mehr als diese Glut, die rote, atemlose, flammende Glut! So träumte er, und in seine Träume klang die sanfte, silbrige Stimme der fremden Frau, blickten ihre großen, samtenen Augen und hauchte der Blütenduft, der von ihr ausging.

Einmal sagte Michael zu seinen Kameraden: Wir sollten 221 uns zusammentun und, was wir entbehren können, den hungernden Menschen aus dieser Stadt geben, anstatt Ringe und goldene Ketten dafür einzutauschen und manchmal auch den Leib einer Frau. Es war gerade die Stunde des Waffenreinigens, und die Kameraden blickten zweifelnd von ihrer Arbeit auf. Was sie uns geben, antwortete einer, das nehmen wir. Daran ist kein Unrecht. Was die Frauen betrifft, so magst du recht haben. Ihre Ehre ist ein Heiligtum, und ist es auch dann, wenn sie sie in der Not dahingeben wollen. So habe ich deine Worte verstanden. Die anderen Dinge aber sollen wir ruhig nehmen, solange es der Hauptmann erlaubt. – Weißt du nicht, sprach Michael mit einer atemlosen Stimme, daß solch ein Ring, den du für ein Brot erwirbst, oft über hundert Jahre von dem Vater auf den Sohn gekommen ist? Daß an einer Kette der Ruhm und die Ehre eines Geschlechtes hängt? – Wenn sie diese Dinge hingeben, entgegnete der Kamerad, darf man sie wohl nehmen. Wir Leute von Henna würden sie niemals lassen. – Das sind die einen, rief Michael, die lieber den Tod erleiden als ihre Heiligtümer opfern! Den andern aber ist das Leben das größte Heiligtum, sie kämpfen, um es zu erhalten, und in diesem Kampfe ist ihnen jedes Mittel recht. Tun denn die Blumen nicht und alle Tiere das gleiche? Ich achte den nicht, der das Leben läßt um eines Gedankens willen, und in den Taten der Leute von Orla ist etwas, das uns erschrickt, uns Soldaten aus Henna. Der Kamerad lächelte. Wir sind nicht in der Not, sprach er, daß wir also denken könnten. – Kann nicht die Not kommen über Nacht?, fragte Michael. Nein, entgegnete der Kamerad und hob seine Waffe in das Licht der untergehenden Sonne, daß Lauf und Verschluß einen roten Glanz gaben. Das war eine Antwort, die Michael gelten lassen mußte. Die Leute von Henna, sagte er, haben ein 222 ruhiges Blut. Das macht die Nähe des Meeres, die Kühle, die von den Wellen weht! – Auch du bist ein Mann von Henna, erwiderte der Kamerad, und du wirst es eines Tages entdecken.

Michael versah seinen Dienst in diesen Tagen besser, als er es jemals getan. Er betrieb ihn wie ein leichtes und glückliches Handwerk. Es war, als wolle das Leben der Pflicht sich von ihm lösen, als hielte er es in der Hand und könnte mit ihm tun, was er wollte. Er war über den Alltag erhoben, sein Gang schien ein Tanz, er bewegte seine Füße nach dem Klange einer Musik. Michael aß wenig, einige Früchte und eine Scheibe Brotes am Tage schienen ihm genug, und die Fülle gab er der geliebten fremden Frau, von deren Nähe seine Träume glücklich wurden. Er lebte einen großen Traum, seine Augen sprachen davon. Die Sehnsucht erwachte in ihm, nichts zu sein als ein Hauch, der mit dem Hauche der Geliebten in eines sich mischte, und diese Sehnsucht, brennend und ungestillt, verzehrte seinen Leib wie ein inwendiges Feuer.

An einem Abend wollte ihn der Hauptmann sprechen. Ich habe gehört, sagte er, daß du dein Brot und Fleisch nicht ißt, sondern fortgibst. Ich glaube zu wissen, wohin du es trägst. Muß ich dir ins Gedächtnis zurückrufen, was ich euch über die Frauen von Orla sagte? – Ich tue kein Unrecht, entgegnete Michael. Brot und Fleisch gebe ich fort, doch ich brächte es nicht über das Herz, einen Preis dafür zu fordern. Des Hauptmanns Miene erhellte sich nicht. Sein Unmut wandelte sich in Trauer. Ich glaube deinen Worten, sprach er, und weiß nun, wie es um dich steht. Laß ab von deinem Tun. Es führt zu nichts; es kann zu nichts führen, weil du unter dem Gesetz von Henna stehst und der Geist von Orla dir fremd ist. Du wirst es erfahren. Michael lächelte hilflos. Du lebst in 223 einem Traume, fuhr der Hauptmann fort, so geht es manchen, die zum ersten Male in ein fremdes Land kommen. Ich habe viele fremde Städte gesehen und ebenso viele Träume begonnen, doch am Ende bin ich immer auf die Wirklichkeit gestoßen; die war hart und nüchtern und ohne Glanz. Auch dir wird es so ergehen. Der Hauptmann reichte Michael über den Tisch die Hand. Ich kann dir nichts vorwerfen, fuhr er fort. Du versiehst deinen Dienst ordentlich, aber mancher, der hie und da anstößt, ist mir lieber, weil er ganz in seinen Taten steckt, während du darüber stehst wie ein Fremder. Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, daß du dein Brot fortträgst, denn der General hat es nicht verboten. Aber ich wünschte doch, daß du auf deinen Weg zurückfindest.

Michael sah die Frau nur am Abend, wenn sie das Brot aus seinen Händen nahm und ihm dankte, wie man einem fremden Wohltäter dankt. Der Rest ihres Tages blieb im Dunkel. Er war ein Nichts, doch in dieses Nichts goß der Mann die Überfülle seiner Sehnsucht und lebte mit der angebeteten Frau ein glückliches und schwereloses Dasein, darin sich jeder Traum den Händen fügte, als wäre er Gewölk, wär' ein heller, sonnendurchglühter Hauch. Der Duft der Blüten und das Wehen des Sommerwindes neigte sich seinem Wunsch. Sie hat mir ihren Leib verkaufen wollen, dachte er, und vor seinen Augen flammte es auf wie eine rote, brandige Glut.

Am Sonntag wanderten die Soldaten hinaus vor die Mauern der Stadt. Es war viel Volk aus Orla dort und ein Haufen fremder Soldaten, deren Rufen und Lärmen über den ganzen Platz hallte. Es wurde Wein ausgeschenkt, und am Ende waren alle ein wenig trunken, das Volk von Orla, die Soldaten aus Henna und das fremde Kriegsvolk. Die Leute von Henna saßen um ihre Tische und lachten. Die Trunkenheit trieb sie zusammen, weil 224 sie ihre Herzen öffnete. Nur sie, die Soldaten aus der goldenen Stadt, konnten einander verstehen, die fremden hatten keinen Teil mehr daran. Als es Abend wurde, überschlug sich die Stimmung und ward von da an ohne Sinn. Die fremden Soldaten zogen auf Abenteuer aus oder suchten Händel untereinander. Sie sahen auf die Frauen ihres Volkes mit sprechenden Blicken und hier und da suchten schon einige, zu ihrem Ziele zu gelangen. Michael sah dies mit brennenden Augen. So sind sie, die Fremden, dachte er. Eine bittere Scham überfiel ihn, die Bilder tanzten vor seinen Augen, und der Lärm summte ihm in den Ohren. Da meinte er, unter den Frauen von Orla seine Geliebte zu sehen. Er ging dichter heran und gewahrte, daß er sich getäuscht hatte. Zugleich aber drängte einer der fremden Soldaten heran. Michael stieg das Blut in die Wangen, eine heiße Welle überflutete ihn. Er sah immer noch die Geliebte in der fremden Frau. Sein Sinn verwirrte sich, und mit einem Sprung stürzte er sich auf den Soldaten. Die roten Wolken des Zornes sprühten vor seinen Augen. Sogleich war er in einen heftigen Kampf verwickelt. Die Kameraden eilten herbei und hieben ihn heraus, ein Leutnant kam des Wegs und schlichtete den Streit. Michael aber hatte eine blutende Wunde an der Stirn davongetragen. Für dich, sprach er heimlich in seinem glühenden Herzen, für dich, deren Namen ich nicht kenne, und die mir doch gehört, die ich mit meinem Blut zu eigen gewinne!

Als er in dieser Nacht einsam auf seinem Lager ruhte, hatte Michael das zweite Gesicht. Anita saß auf einer Bank auf dem Fischmarkt von Henna und löste eine Flechte ihres blonden Haares. Der Markt wurde gerade abgebrochen. Es war ein großes Kommen und Gehen, und vor dem Lärm verstand er ihre Worte nicht. Er sah nur, wie die Lippen des Mädchens sich bewegten, als spräche 225 sie mit ihm. Einmal war es ihm, als fragte Anita: Kennst du mich noch? Er wollte zu ihr gehen und einmal nur ihre kühle Hand auf seiner Stirne fühlen. Aber die Menschen, die vorübergingen, ließen ihn nicht gewähren und stießen ihn zurück wie einen Fremden. Anita, rief er, vergiß mich nicht! Doch er wurde immer weiter von ihr entfernt und zurückgedrängt, mehr und mehr Volk schob sich zwischen sie, und er sah nur noch, wie das Mädchen ihm winkte. Sie vergißt mich nicht, dachte er, und dann versank ihr Bild vor seinen Augen.

Am andern Tage nahm der Kamerad, mit dem er damals beim Waffenreinigen gesprochen hatte, Michael auf die Seite und sagte: Du siehst so müde und krank aus, daß es mir in das Herz schneidet. Es ist nicht die Wunde an der Stirn, die dich so elend macht. Es muß eine tiefere Wunde sein, und sie ist älter als der Hieb von gestern abend. Habe ich recht? Michael nickte nur stumm. Der Kamerad war älter als er und seine Worte genossen eine große Achtung, weil sie aus einem ruhigen und reinen Herzen kamen. Ich kann es nicht länger mehr ansehen, sprach der Kamerad. Es ist an der Zeit, daß du Heilung findest. Du lebst in einem Traume und verzehrst dich an Bildern der Sehnsucht. Du mußt nun lernen, daß der Traum ein Trug ist. Michael sah den Älteren mit erschrockenen Augen an, und sein Herz begann, in einer geheimen Furcht zu klopfen. Sprich nicht weiter, wollte er sagen, doch eine andere Stimme in ihm verlangte nach dem, was er hören sollte. Ich bin dir einmal, setzte der Kamerad seine Rede fort, auf deinem geheimnisvollen Wege gefolgt, und da habe ich begriffen, was dich so sehr verwirrt und gleichzeitig glücklich und unglücklich gemacht hat. Ich habe diese Frau gesehen, wie sie einem fremden Soldaten für ein Stück Brot gefolgt ist. Michael erbleichte. Nein, sprach er mit einem maskenhaften 226 Lächeln und so ruhig, als sei er seiner Worte ganz gewiß, das kann nicht wahr sein, du mußt dich getäuscht haben. Es ist möglich, entgegnete der Kamerad, die Frauen von Orla gleichen einander wie alle Dinge, die uns fern und fremd sind. Ich weiß nicht, ob ich mich getäuscht habe. Auch du kannst es mit Gewißheit nicht sagen, weil die Frau, die dich betört hat, dir eine Fremde geblieben ist. Wie ein Abwesender starrte Michael auf den Sprecher. Laß es gut sein, meinte dieser, die Wirklichkeit ist hart, und sie schmerzt dich. Aber einmal mußt du sie erfahren, und so, wie ich es dir sagte, tut es vielleicht am wenigsten weh.

Auf seinem abendlichen Wege brannte das Feuer heißer denn je in Michael, aber gleichzeitig schien es, als gieße einer Kübel voll Wasser hinein, daß an dieser Stelle die Flammen erloschen und das Feuer sich flüchtete auf die andere Seite des Brandes, wo es steiler und verzehrender emporschlug. Einmal war es, als trüge er die Welt im Herzen und alle Fülle der Liebe, ein andermal schien das Leben daraus entschwunden und nichts zurückgeblieben als eine tote Wüste voller Einsamkeit.

Als Michael das Gartenhaus erreichte, sah er die Frau aus dem Dunkel des Parkes auf sich zuschreiten. Ihr Gang war leicht und frei und voller Fröhlichkeit. Doch in Michael brannte das Mißtrauen. Ist es wahr, daß du einem andern gefolgt bist für ein Stück Brot?, fragte er. Sie schwieg. Ihr Antlitz verschloß sich, ihre Schönheit wurde starr und fern wie ein Bild. Der herbe Duft des Stolzes und der Abwehr wehte um die Frau. Wenn du nicht sprichst, sagte Michael mit leiser Stimme, muß ich dein Schweigen für eine Antwort nehmen. Doch diese Antwort würde grausam sein. Die Frau verharrte in ihrem Schweigen. So ist es wahr, flüsterte Michael, was der Kamerad mir sagte. Ein Lächeln glitt über seine Züge. 227 Vorbei, vorbei!, sprach er mit Gleichmut, so, als stelle er etwas fest, was er längst gewußt. Er tat es, um die Verzweiflung seines Herzens zu verbergen. Wußtest du, rief Michael, und der Schmerz gewann plötzlich Macht über ihn, weshalb ich dir Abend für Abend mein Brot brachte und selbst Hunger litt? Warum ich den Kameraden fast ein Fremder geworden bin? Wußtest du es? Es war ihm, als blicke die Frau ihn nun an, nachdem ihr Blick bis jetzt in der Ferne geruht hatte. Sie änderte nicht die Haltung ihres Kopfes, doch die Sprache der Augen galt plötzlich ihm. Diese wurden groß und weit und glühten endlich aus einer tiefen Traurigkeit.

Da sprang eine heiße Lohe in dem Mann empor. Er sah die Frau durch einen Schleier roter Wolken, die den Blick seiner Augen trübten und die Welt in einen singenden Feuerbrand verwandelten. Waren es Zorn und Scham oder die übermächtige Leidenschaft, die endlich, des sanften Glühens satt, zu hellem Flammenschein emporsprang? Alles war ein Trug, schrie Michael, alles ein Wahnsinn! Nun hole ich mir selbst den Preis, der mir gebührt.

Die Frau wehrte sich nicht. Sie nahm die Gewalt des Mannes voller Sanftheit, wie ein Geschenk. Der heiße Atem der Ebene ging durch das Land, der Staub, in der Abendglut gleich rotem Rauch, wanderte über das heiße Gestein, fremde Vögel schrien im Ginster. Michael erkannte seine Schuld und wußte, daß er seinen Traum zerbrochen hatte . . . Das Feuer der Leidenschaft sank zusammen, es blieb nichts in ihm, als eine trostlose Öde und Einsamkeit und der Nachklang einer Trauer, so leicht und leise, wie der Duft von abgeblühten Blumen. Seine Seele war offen wie eine blutende Wunde und allen Dingen preisgegeben, die flüchtig an ihre Sphäre rührten.

In der folgenden Nacht hatte Michael das dritte Gesicht. Er schritt über den Anger der Freude vor den Toren von 228 Henna. Anita lief ihm voraus und lockte ihn mit dem Liede einer Flöte. Er mochte das Lied sehr gern, doch ein Wind kam und wehte die Töne fort, daß sie in der Ferne verklangen. Sein Schritt war müde, er konnte dem Mädchen nicht folgen, das frei und leicht wie ein Zauberwesen über das weglose Feld tanzte, Er kam an ein Moor, das seinen Fuß nicht tragen konnte. Anita stand am anderen Ufer, lächelte und winkte ihm, er solle herüberkommen. Sie spielte auf der Flöte, doch der Wind nahm die Töne fort. Komm doch!, rief sie, lachte und hob die Flöte an den Mund. Ich kann nicht zu dir kommen, antwortete Michael, und möchte dein Spiel so gern hören. Es ist mir, als hätt' ich es immer gesucht. Nun hab ich's gefunden und darf es nicht vernehmen. – Komm herüber, rief das Mädchen. Doch Michael schüttelte nur müde den Kopf. Da hob Anita den Rock von ihren Füßen, hielt die Flöte in der Hand empor und schritt über das Moor, als habe sie einen schmalen Steg darin gefunden. Deine Füße sind so schwer, sprach sie. Was wolltest du tun, wenn die meinen nicht so leicht wären!

Michael sah die fremde Frau niemals wieder. Langsam wie die Tage kamen und gingen, verblaßte ihr Bild vor seinem Auge, bis er die Kraft gewann zu glauben, daß alles, was er erlebt, notwendig gewesen und von einem gütigen Gotte so gefügt worden sei.

Am letzten Abend, bevor er mit den Kameraden zurückfuhr nach Henna, nahm Michael, wie er es in den Tagen seiner Leidenschaft getan, ein Brot unter den Arm und machte sich auf den Weg durch die Straßen von Orla. Er gab es einem alten Manne für einen goldenen Ring, den er Anita schenken wollte, wenn er zurückkäme nach Henna. Er konnte es kaum erwarten, ihre Freude zu sehen und sich mit ihr zu freuen. Ich habe Angst um dich gehabt, würde Anita sagen. Vor einem Zauber neigt sich 229 dein Herz wie ein Baum im Sturme. Ach, Anita, jeder Sturm geht vorüber, und einmal ist ein Ende mit seiner Gewalt. Dann scheint der Himmel klar und die Erde kühl, und ein Reichtum ist in den kleinsten Dingen, weil der Wunsch einem Vogel gleicht, der die Flügel brach. Ist dies das Glück, wie es die Menschen nennen? In der Ferne zuckt das Leuchten des dahingezogenen Wetters. Ich bin froh, Anita, daß du alle Schwere von mir nimmst, weil du sie selbst nicht ermessen kannst.

Purpurn glühten die dunklen Mauern der Häuser, purpurn die Schatten in den engen Straßen. Grün und gläsern spannte sich darüber der Himmel von Orla. Alle Fremdheit besaß zu dieser Stunde ein sichtbares Antlitz.

 


 


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