Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Das Tribunal auf dem Fischmarkt von Henna

Jeden Donnerstag, wenn die Sonne über der goldenen Stadt versank, betrat der Kanzler den Fischmarkt von Henna. Am Freitag wurde im ganzen Reiche Fisch gegessen, darum kam der Kanzler am Abend vorher, sich selbst sein Teil zu holen. Wollte er den Fisch nicht essen, so mußte er ihn doch zur festgesetzten Stunde kaufen. Der Gang auf den Fischmarkt gehörte zu den Pflichten seines Amtes.

Der Kanzler war ohne Begleitung, und er ging zu Fuß. Durch die engen Gassen der Altstadt hätte kein Wagen sich drängen können. Außerdem war es Sitte seit unvordenklichen Zeiten, daß der Kanzler zu Fuß auf den Fischmarkt kam.

Manchem wäre das Herz schwer geworden auf diesem Wege. Zum Fischmarkt kamen die großen Herren ohne Purpur und Gold. Da waren sie Männer aus dem Volke wie andere auch. Ein jeder durfte sie ansprechen, und jedem mußten sie Antwort geben. Wer da nicht ein geborener Herr war, der fand die richtigen Worte nicht. Und wer auf dem Fischmarkt versagte, der war abgetan. Die Kaiserin gab ihm zu wissen, daß sie seiner Dienste nicht mehr bedurfte.

174 Der Kanzler lächelte auf seinem Wege. Der Abend auf dem Fischmarkt gehörte zu den wenigen wirklichen Freuden seiner Arbeit. Wenn er im Dämmerlicht den Markt verließ, fühlte er sich gestärkt wie nach einem tiefen, kühlen Labetrunk. Dann war er glücklich, aber er sagte es niemandem.

Als der Kanzler an diesem Abend aus dem Gewirre der kleinen Gäßchen auf den Marktplatz trat, lag die Sonne wie goldener Rauch über dem Trubel. Die Wasserspiegel in den Fässern leuchteten gleich großen, roten Halbmonden aus der Dämmerung zwischen den Ständen, und es war ein Summen in der Luft von den vielen tausend Stimmen, welches mit dem Dunste sich zu mischen schien und wie ein feiner, verklärender Nebel das Bild in unendliche Fernen rückte.

Es ist alles ein Volk, dachte der Kanzler, was hier umhergeht, Große und Kleine, aber es ist kein Fremder darunter. Was Wunder, wenn ich mich glücklicher fühle als in meinem Haus?

Er schritt durch die Gassen zwischen den Ständen, und alle Menschen grüßten ihn. Obgleich es Abend war und das Meer um diese Stunde schon die erste Kühle über die Stadt zu senden pflegte, war es hier noch unerträglich heiß. Die große Enge und die Nähe der vielen Menschen hielten die Glut des Tages wie ein Edelstein das Licht. Es roch nach Fischen und getrocknetem Salz, Unrat und Schmutz hatten um die Fässer sich angefunden. Die Schuppen auf den Kopfsteinen glänzten wie Silberplättchen in der Abendsonne, man hätte sie für eine ganze Saat fortgeworfener Pfennige halten können.

Ein Mann mit einer Schiffermütze goß dem Kanzler einen Bottich voll Fischwasser über die Füße. Seht euch vor, alter Tölpel!, rief der Kanzler, oder meint ihr, ich könnte in diesem Zustand vor der Kaiserin erscheinen? Der Mann 175 lächelte verlegen und zog seine Mütze vom Kopf. 's ist Fischmarkt heute, sagte er, da geschieht das wohl mal. Habe auch laut und deutlich Vorsicht gerufen. – Schon gut, antwortete der Kanzler, und der Mann sagte: Der Kanzler war wohl in schweren Gedanken. Aber ich werde ein Tuch holen und Schuhe und Hosen abwischen. Es ist nicht nötig, rief der Kanzler im Weitergehen, es trocknet von selbst, und zur Kaiserin geh' ich heut nicht mehr!

An einer Ecke stand ein Mädchen, das hielt Blumen in der Hand. Sie sah einen Jüngling an, von dem sie die Blumen erhalten hatte. Es waren einfache Margeriten, aber das Mädchen freute sich darüber. In ihren Augen lachte ein heimliches Glück. Sie hatte den Mund geöffnet, als ob sie etwas sagen wollte. Eine Locke ihres Haares war ihr über die Stirn gefallen. Sie sah plötzlich, wie der Jüngling sich zur Seite wandte, seinen Hut zog und mit leuchtenden Augen einem Manne den Gruß erwies. Da erkannte das Mädchen den Kanzler. Sie schritt auf ihn zu. Das Lächeln blieb auf ihrem Antlitz stehen, sie strich die Locke nicht von der Stirn. Die Blumen hielt sie in den Händen. Ihr Mund war noch immer geöffnet, als ob sie sprechen wollte. Darf ich euch, fragte sie endlich, darf ich euch diese Blumen zum Geschenk machen? Der Kanzler lächelte: Habt tausend Dank. Aber wie soll ich die Blumen tragen? Ich gehe, einen Fisch zu kaufen. Es soll ein großer sein, da brauche ich beide Hände. Das Mädchen erwiderte: Wenn es euch recht ist, so trage ich euch die Blumen bis zu der Stelle, wo ihr nachher euren Wagen besteigt. Der Kanzler sah das Mädchen freundlich an und dankte ihm. Dann schickte er sich zum Gehen an. Das Mädchen folgte treulich seinen Schritten. Sie hielt die Blumen mit den Köpfen nach unten, damit sie frisch blieben in der heißen Luft des Fischmarktes. Hin und 176 wieder blieb sie stehen und ließ, wo sie in einem Faß reines Wasser fand, die Blumen trinken. Danach lief sie jedesmal mit ihren nackten, braunen Füßen, bis sie den Kanzler wieder erreicht hatte. In weitem Abstand, durch den Trubel versteckt, folgte der Jüngling.

Im Weiterschreiten sah der Kanzler einen Mann, der auf der anderen Seite der Gasse stand und einen Fisch in der Hand hielt. Der Mann war groß und kraftvoll, in dem silbrigen Haar spielte die Abendsonne. Um ihn herum stand eine Schar Kinder, denen er etwas zu erzählen schien. Die Leute nannten ihn den Dichter von Henna, welcher wie kein anderer die Seele des Volkes darzustellen wußte und darum Ruhm und Ehre in Fülle genoß. Sie glaubten, er sei der Glücklichste im ganzen Reich, aber der Kanzler wußte, daß der Mann, so wie die Freuden, auch die Leiden seines Volkes im Herzen trug und darum voll größerer Freude und voll tieferen Schmerzes war als andere Menschen. Der Kanzler scheute nicht das Wasser einer Pfütze und nicht einen Haufen fortgeworfener Fischköpfe, um hinüberzugehen. Als der Mann den Kanzler sah, beugte er tief das Haupt. Der Kanzler erwiderte den Gruß, auch er verneigte sich tief. Jedesmal, sagte er, wenn ich meinen Fisch hole, dann sehe ich euch. Und auch ihr habt einen Fisch in den Händen. – Das ist eine gute, alte Sitte, erwiderte der Dichter, daß ein jeder, der auf sich hält, in der Woche einmal den Fischmarkt besuchen muß. Wer den Menschen auf dem Fischmarkt in die Augen sehen kann, der hat noch ein klares Herz, mag er auch wissen, wie oft schon eine Notwendigkeit Härte und Schuld von ihm gefordert hat. – Ja, sprach der Kanzler, in einem lebendigen Herzen hat vieles Raum. Wer kann das Müssen von dem Wollen trennen? Gemeinsam sprechend gingen die beiden Männer ihres Weges, einander gebend und nehmend aus der 177 reifen Erfahrung ihres Lebens. Die Kinder umsprangen sie, liefen nach ihrer Art ein Stück voraus, warteten und sprangen weiter, versuchten immer wieder, in die Nähe des Kanzlers zu kommen, der ihnen liebevoll über die Köpfe strich.

Nach einer Weile war der Kanzler an seinem Stande angelangt. Er grüßte die Frau und wartete, daß sie ihm seinen Fisch aus dem Bottich holte. Die Frau war groß und dick, sie trug eine Schürze aus rotem Gummi und auf dem Kopf eine Schiffermütze wie die Männer. Sie war die zweite Fischfrau im ganzen Reich und also auserwählt, dem Kanzler jeden Donnerstag einen Fisch zu verkaufen. Die erste war für die Kaiserin da, bei der dritten durfte der Feldmarschall seinen Fisch kaufen und so fort, immer nach Rang und Stand.

Wie geht's?, fragte der Kanzler, denn die Frau stand unter seinem Schutz, und wer ihr ein Leid antat, der hatte auch den Kanzler beleidigt. Danke, sagte die Frau und griff mit ihren bloßen Armen in den Bottich. Mir geht's schon gut, aber mein Vater, der wird's wohl nicht mehr lange machen. – Seht ihr, rief der Kanzler, ich habe es gesagt. So alt, wie er ist, kann er nicht jeden Morgen mehr mit hinausfahren. Die Luft ist kühl, und zwischen dem Hafen und der Insel liegt ein tückischer Nebel. Kein Wunder so, wenn er krank wird, der alte Mann! Die Fischfrau jammerte: Ich hab's ihm tausendmal gesagt! Vater, hab' ich gesagt, du darfst nicht mehr mit hinaus, du bist alt und wirst krank werden! Auch der Kanzler hat dich gewarnt, und gegen das Wort des Kanzlers zu handeln, das hat noch keinem Glück gebracht! Sie hatte den Fisch ergriffen und ihm den Kopf abgeschnitten. An unserm Kleinen aber haben wir Freude, schwatzte sie weiter, er ist kaum vier Jahre und hilft schon den Männern die Fische sortieren, wenn sie in der Frühe 178 zurückkommen. Ich sage euch, er hat ein gutes Auge und einen sicheren Griff. Das wird einmal ein Fischer! Wenn er groß ist, und seine Frau fährt auf den Markt – ich wette, bei der kauft die Kaiserin! Sie hielt plötzlich inne und sah an dem Kanzler vorbei auf den Trubel des Marktes. Eine Frau in schwarzen Kleidern steht da, sagte sie, die sieht euch unverwandt an. Es haben sich schon Menschen um sie gesammelt,

Der Kanzler blickte sich um und sah eine Frau mit bleichem Gesicht und Augen, die vom Weinen rot waren. Sie trug lange, schwarze Kleider von der Art, wie man sie vor zwei Jahrzehnten sah, und stand scheu am Ausgang einer Gasse, den Blick unverwandt auf den Kanzler gerichtet. Die Marktleute mußten schon eine ganze Zeit aufmerksam geworden sein, es war ruhig geworden im Umkreis, und die Fischfrauen lagen mit ausgebreiteten Armen über den Tischen, neugierig der Dinge, die da kommen sollten. Ein alter Herr saß auf einem Bottich, den Stock vor sich auf den schmutzigen Boden gestützt. Auch er wartete auf ein großes Ereignis.

Die Frau trat mit gemessenen Schritten an den Kanzler heran. Sie verneigte sich und wollte zu sprechen beginnen, da wurde sie an den Augen des Kanzlers irre, die wie ein Metall funkelten. Sie verneigte sich noch einmal und begann: Nicht für mich komme ich. Niemals wollte ich die Sorge des Kanzlers um meine Not vermehren. Ich komme für einen Toten. Dem Toten zu helfen, sind meine Hände zu schwach, auch die Gedanken wissen nicht mehr weiter. Aber helfen muß ich, das ist mir von Gott aufgetragen. Da blieb mir als letztes, euch zu bitten. Die Frau sprach mit einfachen Worten und einer klaren Stimme, aber es ging eine seltsame Gewalt von ihrer Sprache aus, daß sie die Umstehenden sofort in ihren Bann zog. Vielleicht war es, weil verhaltener Schmerz 179 aus den Worten schimmerte, wie dunkler Wein durch das Glas eines Kruges.

Ihr seid, fuhr die Frau fort, der Nächste nach der Kaiserin. Eure Macht ist groß. Ich bitte euch, helft mir, eine unglückliche Mutter will euch das Herz ausschütten.

Die Umstehenden begannen, sich für ein längeres Zuhören einzurichten, holten Stühle und Bänke hervor, ließen sich auf Bottichen und Leiterwagen nieder, die Jungen auch auf dem Boden, wie es sich gerade traf. Vergessen schwammen die letzten Fische in den Fässern, die Sonne stand rot und groß über den niedrigen Dächern, vom nahen Kirchturm klang das Abendläuten.

Die einzigen, die noch standen, waren der Kanzler und die Frau. Sprecht! sagte der Kanzler, und wenn ich euch helfen kann, so will ich nicht zaudern. Die Kirchenglocken, die mitschwangen, gaben seinen Worten einen vertrauten Klang.

Der Tote ist mein Sohn, sprach die Frau, er ist nicht gestorben wie andere Menschen. Er ist – hier stockte sie, ein eigentümlicher Glanz kam in ihre Augen. Ich kann es nicht aussprechen, sagte sie leise. Sie wurde im Gesicht noch um eine Spur bleicher.

Redet so, wie es euch wohltut, entgegnete der Kanzler, aber redet! Ich sehe wohl, ihr müßt euer Herz erleichtern.

Der Tote ist mein Sohn, sagte die Frau zum zweiten Male, er wird nicht dort begraben werden, wo die anderen Menschen liegen. Er wird –. Sie brach wiederum ab, und nun begannen ihr Tränen über die Wangen zu laufen. Ich kann es nicht, rief sie, ich kann es nicht mit einfachen Worten sagen! Ihr würdet euch abwenden von mir, euer Herz würde sich verschließen, ich würde dastehn in all meiner Armseligkeit und allein sein, und alle würden ihres Weges gehn! Ich kann es nicht mit 180 nüchternen Worten sagen! Sie weinte heftig, dann trocknete sie ihre Tränen mit einem kleinen weißen Spitzentuch und sah den Kanzler fragend an. Ich müßte eine lange Geschichte erzählen, sagte sie, die Sonne würde darüber versinken, und die Dämmerung würde kommen . . .

Erzählt sie, erzählt sie!, riefen die Leute aus dem Volke. Der alte Herr, der auf dem Bottich saß, nickte bedächtig, und die Jungen hingen mit traumverlorenen Augen an der Frau.

Ja, erzählt nur, sagte der Kanzler. Er setzte sich auf eine Bank neben die Fischfrau und blickte auf den ruhigen, schimmernden Spiegel in einem Fasse, der nur von Zeit zu Zeit getrübt wurde durch den zarten, zitternden Wellenschlag, welchen der letzte Fisch in dem Wasser erregte. Es war sehr ruhig geworden. Die Menschen saßen still im Kreise und sahen auf die Frau, die eine der Ihren war und deren unbekanntes Leid sie alle traf, auf eine geheimnisvolle Weise.

Die Frau als einzige stand in der Mitte. Ihr kennt meinen Sohn nicht, sagte sie, ich will ihn euch schildern. Er war der liebste und artigste Junge weit und breit. Kein Hauch des Schlechten trübte seine Seele. Wie in einem klaren Wasser, so spiegelte in ihm sich die Sonne. Dabei war er mutig und verwegen und ein Soldat schon von Jugend an. Ihr werdet nun denken, er sei ein vollkommener Mensch gewesen. Ach nein – eines war, was ihm fehlte: Er kannte die Macht des Bösen nicht. Er wußte, wozu man das Geld gebrauchte, aber er wußte nicht, daß Gold eine eigene, unheimliche Macht besaß. Er kannte schlechte und feige Jungen, aber die standen unter ihm und duckten sich, wo er kam. Darum ahnte er nicht, daß die Schlechten auch Macht gewinnen können und dann für einen verhängnisvollen Augenblick stärker sind als die Guten. Er wußte auch nicht, daß es manchmal selbst 181 für den Guten keinen anderen Ausweg gibt, als einem Schlechten die Hand zu reichen, um einen noch Schlechteren zu verderben. Später hätte er es gelernt und seine Fröhlichkeit dabei zurückgewonnen. Aber so hat ihm das Leben keine Zeit gelassen. Er ist zu früh hinausgegangen.

Mit siebzehn Jahren wurde er Soldat. Es war damals die Zeit, als auf den Guluppen-Inseln der fürchterliche General die Männer unseres Volkes in die Gefängnisse werfen ließ. Die Zeitungen waren voll von den Greueln auf der fernen Insel, und es hieß, daß die Kaiserin es nicht mehr lange mit ansehen würde. Trotzdem hörte der General nicht auf, die Leute aus Henna zu entehren, und der Pöbel in seiner Stadt half ihm bei allen Übeltaten. Es standen blutige Wolken über der Insel, ein ganzes fremdes Volk rief das Verderben in seine Häuser.

Er fuhr hinaus. Mit anderen Müttern stand ich am Kai und hielt ein weißes Tuch in die Höhe. Die Tränen rannen mir über die Wangen, aber ich schämte mich nicht. Die anderen Frauen weinten auch. Das Schiff, das die Soldaten hinüberbrachte zu dem großen Dampfer, fuhr schon weit draußen zwischen Booten und Fässern. Der Rauch aus seinem Schornstein sank über das Heck, wie goldener Staub lag der Abenddunst über dem Wasser. Ich sah meinen Jungen nicht mehr. Alle Soldaten waren eins geworden, viele Männer in braunen Röcken, die herüberwinkten und sangen. Auch die anderen sahen ihre Kinder nicht mehr, aber sie winkten alle und weinten dazu.

Als die Nacht herniedersank, gingen die Frauen fort. Ich blieb in der Dunkelheit allein. Der Dampfer dort draußen hatte Lichter gesetzt, die sah ich an, aber andere Lichter kamen dazwischen, rote, grüne und weiße, da sah ich die meinen nicht mehr und hielt bald dies und 182 bald das für das richtige, bis mir die Lichter vor den Augen tanzten und durch meine Seele zogen wie über das dunkle Wasser vor mir. Da horchte ich hinaus, ob ich etwas vernahm von meinem Kinde, aber das Meer war voller Leben, die Wellen rauschten, und Nebelhörner tönten über das Wasser, Menschen riefen wie aus großer, großer Tiefe, und alles war weit und unheimlich und voller Fremdheit. Da ging ich fort.

Als die Frau schwieg, spürte man, wie still es im Kreise geworden war. Der Kanzler hatte schon lange die Augen von dem Fischbottich auf die Frau gerichtet, auch die anderen sahen auf die Gestalt der Mutter, die wie eine Mutter von allen war. Man spürte auch, wie eine Spannung die Menschen ergriffen hatte, die sie nun, da die Frau schwieg, für einen Augenblick freigab, daß es wie ein Aufatmen durch die Menge ging. Der alte Herr, der auf dem Fasse saß, seufzte laut und stellte seinen Stock von neuem auf den Boden, worauf er wieder empor und auf die Frau blickte, als wollte er sagen, er sei nun bereit, das Weitere zu hören.

Bei Nacht, sagte die Frau, landeten die Soldaten auf der feindlichen Insel. Vor Morgengrauen schon standen sie in schweren Kämpfen. Wir, die wir in Henna zurückgeblieben waren, wußten nichts davon. Die Zeitungen meldeten es erst später, es ging alles so schnell. Ich fühlte, daß mein Sohn in Gefahr war. Mein Mann lachte und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, es sei noch nicht so weit. Aber ich war doch wie von Sinnen. Da holte mein Mann eine Karte hervor, er bewies mit vielen Worten, daß die Schiffe erst in diesem und diesem Hafen seien, daß die Soldaten auch Ruhe brauchten und auf der Fahrt manches verlorenginge, was dann ersetzt werden müsse. Früher, als er Soldat war, sei es auch so gewesen. Ich lächelte dazu und sagte ja, aber ich glaubte ihm 183 nicht. Mein Herz sagte mir, daß ich recht hatte. Später meldeten es dann die Zeitungen.

Mein Junge schlug sich tapfer. Vielleicht wußte er nichts vom Tode, vielleicht kannte er ihn nur in seiner lieblichsten Gestalt. Er war so jung. Die alten Soldaten, die mit ihm waren, spotteten manchmal seiner sorglosen Jugend, aber zugleich liebten sie sie und schöpften Mut daraus wie aus einem nie versiegenden Brunnen. Der Junge gehörte nicht zu denen, die im Kampfe mutig sind bis zur Tollkühnheit, aber bei Hunger und Müdigkeit ein klägliches Gesicht zeigen. Die meinen, so etwas sei nicht der rechte Krieg, sondern ein elendes Aushalten. Er trug das Alltagskleid des Feldzugs ohne Klagen. Vielleicht hatte die Mühsal seinen Leib zum Schweigen gebracht, daß er ihn kaum noch fühlte und nur das Herz noch schlagen hörte in Mut und Zuversicht. Die Straßen des Krieges sind lang und oft voller Dunkelheit, Not hockt in vielerlei Gestalt an ihrem Rande, und manchmal weiß keiner mehr, wo ein Ende ist. Die Soldaten ziehen schweigend ihres Weges, sie blicken nicht um, ein jeder denkt an sich und seine Not. Dann ist es gut, wenn einer ist, der das Lachen noch nicht verlernt hat, dessen Blick hell und voller Leuchten ist, als sei dieser Tag und sei diese Stunde der Vorabend des Sieges und einer neuen, schöneren Zeit. Morgen, sagt er, und seine Augen blicken weit in das vom Kriege angerührte Land, morgen sieht alles schon anders aus. Oft kommt das Glück über Nacht, und wer heute noch an Sterben dachte, der hält morgen schon eine Welt in den Händen. Ich bin so froh, es ist eine große Hoffnung in mir. Ich kann euch nicht sagen warum, aber ich fühle, es ist eine Freude in unserer Nähe. Die anderen hören das, sie blicken auf, aber sie schütteln die Köpfe. Wo soll die Freude herkommen, denken sie. Bis dann der eine ein Lied anstimmt, ganz leise, er summt es mehr 184 vor sich hin, als weilte er fern in einem schöneren Lande. Es ist kein hohes Lied, kein Lied von Helden und von Sieg und Sterben, ein stilles Lied der Heimat erklingt dort, ein Lied von den Morgennebeln über dem Strande von Henna, von dem blinkenden Sand und den leise wiegenden Booten, von Fischgeruch und Seewind und der großen Sehnsucht des Meeres. Die Männer hören eine Weile zu, sie klopfen ihre Pfeifen aus und wissen nicht recht, was sie sagen sollen, sie sehen fort von dem Jungen, der dort singt. Aber dann fällt plötzlich einer ein, ein zweiter und ein dritter, und nun gehen die Soldaten dicht beisammen, es ist keiner mehr, der da schweigen wollte. Sie singen das Lied zu Ende, sie fangen ein neues an, und so marschieren sie in den dämmernden Abend, nichts wissend von Zeit und Gegenwart, nahe und ferne zugleich. Ein Wind macht sich auf, er zerstreut die Wolken, ein letzter abendlicher Strahl fällt auf die singenden Männer. Sie ziehen dahin, es ist, als habe ein Zauber sich ihrer Seelen bemächtigt, alle sind eins, und einer trägt die Sorgen des andern. So viel vermag die Kraft eines ungebrochenen Herzens, und darum liebten die Soldaten meinen Jungen. Später, wenn die Männer am Feuer saßen, wenn Ruhe war für eine kurze Stunde und nur der Wind noch klagend um das Lager ging, dann fragte wohl der eine und der andere: Wo nimmst du deinen Mut her, Kamerad? Es ist manchmal so schwer, und dann läßt einer wohl den Kopf hängen und möchte am liebsten nichts mehr sehen und hören. Wie kommt es, Kamerad, daß du so fröhlich bist? Bei solchen Worten stieg meinem Sohn das Blut ins Gesicht, er wußte nichts zu sagen. Er sah den Sprecher nicht an, er blickte voraus in die Glut des Feuers, im stillen dachte er: Nun ist es an mir, daß ich nichts hören und sehen möchte. Es waren für ihn die schwersten Stunden.

185 Regen und Sonnenschein wechselten über den Soldaten. Immer taten die Männer, was sie tun mußten, als könnte es anders nicht sein, ob sie Freude im Herzen trugen oder heimliche Not. Sie sagten manches, was bitter klang, doch wenn es zum Kampfe ging, dann hatten sie es vergessen, dann taten sie, als wäre niemals etwas laut geworden von ihren Nöten. Und Tag für Tag gingen sie einen Schritt dem Siege entgegen.

Als der feindliche General sah, daß sein Spiel verloren war, dachte er zuerst daran, einen Frieden zu machen. Aber er begriff wohl, daß er nicht viel Gnade zu erwarten hatte. Darum erschoß er sich mit einem grimmigen Lachen, wie die Menschen berichten, die es gehört. Was aus seinem Land wurde, das kümmerte ihn nicht. Es kamen andere Männer, die nun zu sagen hatten. Sie waren nicht besser, als der General es gewesen, aber sie hatten keinen Mut, und so schlossen sie einen Frieden mit unseren Leuten. Darin hieß es, daß sie uns als Herren anerkennten und uns fortan die Treue halten wollten, wie es Knechten geziemt und worin der Knechte Ehre besteht, welche so groß sein kann wie die der Herren. Die Leute von den Guluppen-Inseln beschworen den Frieden mit großen Worten, aber es war ihnen nicht Ernst. Sie warteten auf einen besseren Tag, da wollten sie alles heimzahlen.

An dem Abend, als der Friede verkündet war, durften die Soldaten zum erstenmal in die Stadt gehen. Sie hatten ein Lager nicht weit von den letzten Häusern. Die Hauptstadt der Guluppen-Inseln ist seltsam gebaut. Sie liegt am Meere, und das Meer ist so mit ihr verschwistert, daß es ihre Häuser umspült in tausend Wasserstraßen und Kanälen. Brücken führen von Haus zu Haus, unter den Brücken fahren die Menschen in Booten, so wie sie bei uns über die Straße gehen. Zwischen den Kanälen 186 aber liegen anmutige Häuser mit schönen Plätzen in ihrer Mitte, auf denen das Volk Feste feiert und Feuerwerk abbrennt zu Ehren der Heiligen. Es sind aber schlechte Leute, die dort wohnen, und dürften sie kein Feuerwerk brennen und keinen Jahrmarkt mehr halten, so würden sie die Heiligen in die Kanäle werfen und an nichts mehr glauben als an das Geld. Viele verschwiegene Winkel gibt es in der Guluppen-Hauptstadt, aber sie sind nicht traulich wie bei uns, sondern voller Schande. Ein schlechtes Volk wohnt in den Straßen dieser Stadt.

Bevor die Soldaten sich auf den Weg machten, rief sie der Hauptmann zusammen und sagte: Seid auf der Hut, Soldaten! Die Leute in der Stadt feiern Feste, aber sie haben tückische Gedanken. Sie werden euch nicht umbringen, aber ihr müßt wissen, daß sie nicht eure Freunde sind. Seid auf der Hut! Ein Glas Wein ist nicht zuviel, aber eine Flasche gewiß nicht zu wenig. Wenn ihr noch laufen könnt, ist es gut – könnt ihr den Mund noch halten, so ist es besser!

Die Soldaten lachten und wollten sich sogleich auf den Weg machen. Aber der Hauptmann rief sie noch einmal zurück. Er hatte ein ernstes Gesicht und sah jeden der Reihe nach an. Dann sagte er: Vergeßt nicht, daß wir die Herren sind und die andern auf uns schauen, um einen Makel an uns zu entdecken. Nichts freut den Pöbel mehr, als wenn er an Herren eine Schwäche entdeckt. Er denkt dann, der andere sei seinesgleichen. Vergebt euch nichts, Soldaten, seid auf der Hut – am meisten gegen euch selbst!

In der Stadt hatte das Volk wirklich einen Jahrmarkt aufgebaut. Sie sagten, es sei das Fest des Friedens. In einer Bude war unter einer Plane ein Ungeheuer zu sehen. Gegenüber konnte man für wenige Pfennige Porzellan zertrümmern. Auf einem Herd brieten rostbraune 187 Würste, überall schrie es, und von der Höhe des Riesenrades flogen Papierschlangen hernieder. Mein Sohn ging zuerst mit einem Kameraden in den Gassen zwischen den Buden auf und ab, dann hatten beide den Trubel satt und tranken in einem kleinen Gasthaus, wo sie die einzigen Gäste waren, einen Wein.

Der Wein ist schwer, sagte mein Junge, meine Beine sind fort. Ich gehe ins Lager. – Was denn, rief da sein Kamerad, jetzt willst du schon gehen? Es sind noch zwei Stunden bis Mitternacht. – Trotzdem, der Hauptmann hat gesagt . . . – Nun gut, sagte der andere, ich bringe dich bis zum Jahrmarkt. Da laß ich dich dann allein, ich will mich noch ein wenig umtun.

Auf dem Jahrmarkt trennten sie sich. Der Kamerad gab meinem Jungen die Hand und ließ ihn stehen. Bald war er im Gewühle verschwunden. – Es wurde viel Wein ausgeschenkt auf dem Jahrmarkt, der tat seine Schuldigkeit. Auch die Angst war gewichen, die die Leute aus der Stadt anfänglich noch gehabt. Hie und da wagten sich einige Mutige schon hervor. Den Haß verbargen sie unter dem Mantel einer überschäumenden Fröhlichkeit.

Als der Junge so allein in dem Trubel stand, erblickte er auf dem Boden zu seinen Füßen ein Geschmeide von schimmerndem Gold. Er hob es auf und tat es in seine Tasche. Am Morgen wollte er es dem Hauptmann geben. Als er noch so stand und darüber nachdachte, hörte er die Stimme eines Mannes: Heda! Mann aus Henna! Der Junge erschrak, er merkte, daß er gemeint war. Vor ihm stand ein Mann aus der Stadt, er trug einen schmutzigen Anzug und um den Hals ein rotes Tuch. Der Mann lachte, er roch nach Wein. Mann aus Henna!, rief er, tapferer Soldat, weiß zu führen ein Gewehr! Hältst du die Wette? Drei Schuß stehend freihändig, über Kimme und Korn genau ins Ziel! Drei Schüsse, drei Siege! Wer 188 hat gesiegt in diesem Kriege? Heda! Mann aus Henna, wer wagt, der gewinnt! Den Jungen ekelte es, er wollte weitergehen. Aber der Mann hielt ihn am Ärmel: Halt doch! Der Soldat aus Henna schlägt fünf andere! Vier Freunde und ich, wir treten an den Tisch und schießen auf die Scheibe. Dann kommst du, wir bezahlen für dich. Wollen doch sehen, ob die Leute aus Henna wirklich solche Helden sind! – Laßt mich los! sagte der Junge. Ich schieße, wenn es der Hauptmann befiehlt, nicht wanns euch paßt. – Ei, rief da der Mann und lachte mit einer fettigen Stimme, du willst kneifen! Heda, Leute, ein Mann aus Henna will kneifen! – Nicht doch, sagte mein Sohn, ich tu's, was ihr wollt, nur nehmt den Namen meiner Stadt nicht in den Mund! – So ist's gut, sprach der Mann, drei Schuß stehend freihändig. Wer gewinnt, hat die Ehre. Los!

Die Leute aus der Stadt schossen zuerst. Sie trafen nicht gut und nicht schlecht, sie waren trunken, und vor ihren Augen kreisten die Bilder. Aber sie hatten Glück. Obgleich sie die Sache nicht ernst nahmen, gewannen sie einige Ringe. Der Mann, der den Jungen angesprochen hatte, traf am schlechtesten. Er hatte am meisten getrunken. Als er geschossen hatte, gab er das Gewehr an meinen Sohn. Jetzt ist Henna an der Reihe, rief er und hielt sich an einem Pfosten, wer den Sieg hat, hat die Ehre! Drauf!

Mein Junge trat an den Tisch. Er wußte, daß er nicht gut schießen würde. Der Wein war ihm in den Kopf gestiegen, der Trubel des Jahrmarkts tönte in seinen Ohren, bunte Lichter zogen an seinen Augen vorüber. Er war unsicher, aber er hoffte, er würde Glück haben. Der erste Schuß saß schlecht, der zweite nicht viel besser. Wenn der dritte ausfiel wie die beiden ersten, dann würde er unterliegen. Einer der Leute aus der Stadt 189 hatte besser geschossen. Wenn ich unterliege, dachte der Junge, dann haben die Feinde einen Sieg errungen. Sie werden es überall erzählen und sich damit großtun. Sie werden nicht glauben, daß wir die Herren sind. Unser Reich soll unbesiegbar sein auf dem Schlachtfeld wie auf dem Jahrmarkt. Wir müssen besser sein in allen Dingen. Wie sollten wir sonst herrschen? Sie müssen uns ehren, sich vor uns neigen. Er schloß die Augen. Aber ich werde unterliegen. Die Leute aus der Stadt werden lachen. Sie werden denken, unfehlbar seien die Männer aus Henna nicht. Er legte an, die Mündung schwankte hin und her. Der Hauptmann, dachte er plötzlich, er hat gesagt, wir dürfen keine Schwäche zeigen. Wenn ich unterliege . . . Eben berührte die Mündung eine Querstange, die benutzt wurde, wenn aufgelegt geschossen werden sollte. Einen Augenblick lang lag der Lauf auf dem Holz. Da drückte der Junge ab. Er schloß die Augen, an seinem Ohr wurden Stimmen laut. Bravo, hörte er, eine Zwölf! Ja, die Leute aus Henna! Er blickte auf. Niemand, wie es schien, hatte etwas bemerkt. Die Männer aus der Stadt lärmten und tranken aus vollen Gläsern, die sie sich von der Bude gegenüber holten. Sie spendeten Lob aus vollem Halse, aber ihr Lob war Haß und Feindschaft, darum übertrieben sie und nannten die Leute aus Henna Helden. Fort, dachte der Junge, fort aus dieser Gesellschaft! Fort, in die Stille der Nacht hinein, mit Mond und Sternen Zwiesprache halten und die verwundete Seele heilen! So sehr quälte ihn die Scham.

Als er noch nicht weit vom Markt entfernt war, hörte er Schritte hinter sich. Heda! Mann aus Henna, rief es, warte doch mal! Der Junge ging weiter. Ich möchte jetzt im Lager sein, dachte er, bei den Kameraden, und der Hauptmann soll ruhig schimpfen . . . Aber er war noch weit vom Lager, und der Mann hinter ihm kam schnell 190 heran. Da blieb mein Junge stehen. Was kommen muß, sprach er zu sich, das mag schnell kommen. Der Mann hatte ihn bald erreicht, es war der nämliche, der ihn zuerst angesprochen. Ich habe es gesehen, sagte er und zwinkerte mit den Augen. – Was habt ihr gesehen?, fragte der Junge, und er fror plötzlich sehr. – Schon gut, entgegnete der Mann, aufgelegt trifft es sich leichter als freihändig, man braucht nicht aus Henna zu sein, um das zu wissen. – Ihr werdet schweigen. – Es kommt darauf an. – Ihr seid ein Ehrenmann! rief der Junge. – Die Leute aus Henna, sagte der Mann, sind gewiß Ehrenmänner, und sie betrügen auch. Was bleibt da einem kleinen Mann aus unserer Stadt? – Ihr werdet nicht schweigen? Der Mann lachte, seine Augen blinkten im Mondlicht wie blanke Messer. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch den Bart über seinen dicken Lippen und sagte: Du hast vorhin ein Geschmeide aufgehoben, ich hab's gesehen, wie du dich bücktest. – Ich habe nichts Unrechtes getan, entgegnete der Junge, ich gebe es morgen meinem Hauptmann, der Besitzer wird sich finden. – Du wirst das Geschmeide mir geben. – Aber gehört es denn Euch? – Frag nicht so dumm, brummte der Mann, gib es mir einfach, sonst . . . – Was tut ihr sonst? – Sonst erzähl' ich der Stadt, wer die Leute aus Henna sind – Betrüger! Hier erst bemerkte der Junge, wie der Mann es meinte. Und wie es oft geschieht, wenn eine reine Seele zum ersten Male in die Gewalt des Schlechten gerät, ergriff ihn eine grausame Wut. Kerl, stieß er hervor, eh du das tust, da würg' ich dich mit diesen Händen! Er packte den Mann und schüttelte ihn. Ja, würg doch, würg doch, rief der Mann, aber es kommen Leute vorbei, die Straße ist belebt, die werden mich befreien, und ich sag' ihnen dafür, wer die Leute aus Henna sind – Betrüger und Mörder! Der Junge hielt inne, er war 191 betroffen, er wußte nicht weiter. Es war ihm, als spränge sein Herz in dieser Stunde, das Herz, welches die Mutter gehegt, das reine Herz seiner Kinderjahre. Er stand wie versteinert und sah in den Himmel empor. Der Mann reckte seine Hand vor. Nun? fragte er. Mein Sohn holte das Geschmeide hervor und ließ es in die Hand des Mannes gleiten. Er tat aber alles, als wäre er selbst nicht dabei und ein Fremder befehle seinen Körper. Der Mann wollte gehen. Halt, sagte der Junge, eines seid ihr mir noch schuldig: schwört, daß ihr keinem Menschen sagt, was ihr von mir wißt! – Ich schwöre es, rief der Mann bei Gott und allen Heiligen und beim geliebten Vaterland! Dann ging er fort. Vaterland, dachte der Junge, das Wort blieb in der Nacht und stand über ihm wie die Sterne am dunklen Himmel.

Als ein Jahr vergangen war, saß mein Sohn mit seinem Unteroffizier am Wachtfeuer. Es war kalt, die beiden Soldaten schlugen ihre Mäntel um sich und sahen in die springenden Funken. Aus der Stadt klang ein ferner Lärm herüber, fremde Laute; und auch das Wehen des Windes und das Rauschen des Meeres schien ihnen in dieser Nacht fremd.

Der Junge hatte Heimweh. Da liegen wir bei dieser fremden Stadt, sagte er mit seiner heiseren Stimme, liegen ein Jahr schon hier und sehen die Heimat nicht. Ich möchte einmal wieder in Henna auf dem Fischmarkt stehen, ich möchte die Glocken läuten hören und in der Mittagsglut die Tauben auf dem Schloßplatz sehn . . . – Du hast gut reden, sprach der Unteroffizier, du sehnst dich nach Fischmarkt, Glocken und Tauben. Das mögen gewiß recht schöne Dinge sein, es gibt sie an keinem anderen Ort, ich glaube es wohl. Aber ich habe einen Hof zu Hause, der versorgt sein will, ich habe eine Frau, die auf mich wartet, und Kinder, die den Vater nicht 192 entbehren können. – Warum liegen wir hier, flüsterte der Junge, auf dieser verfluchten Insel unter lauter fremdem Volk? Ist nicht Friede in der Welt? Was müssen wir wachen und immer wachen? – Das verstehst du nicht, sagte der Unteroffizier, es ist wohl Friede, aber ein fauler Friede. Die Leute von der Insel hassen uns. Man muß den Menschen auf die Finger sehen. – Aber sie haben doch einen Frieden geschlossen, sie haben ihn beschworen mit vielen Worten! – Du bist ein Kind!, entgegnete der Ältere, wenn alles so einfach wäre, das möcht' uns schon gefallen. Aber die Leute von der Insel haben den Frieden geschlossen, weil wir die Stärkeren waren, darum halten sie ihn auch nur, solange wir sie in den Fingern haben. – So sind sie alle Verräter? – Freilich, in einem gewissen Sinne sind es alles Verräter. – Auch der einzelne? – Wie meinst du das? – Nun, der Mann auf der Straße, dieser oder jener, der dir sein Wort gegeben hat. – Wie das Volk, so der Mann, sagte der Unteroffizier. Ich würde keinem von ihnen vertrauen. Er legte einen frischen Scheit in das Feuer, blickte mit kleinen Augen in die auflodernde Glut. Er sah nicht, daß das Gesicht des Jungen weiß geworden war, ein harter Glanz in seinen Lichtern glühte. Beide schwiegen eine lange Zeit. Dann sagte der Junge: Es heißt doch, daß man es immer dem Hauptmann melden soll, wenn etwas nicht richtig ist. Hast du es immer getan? – Weißt du, entgegnete der andere, eine Vorschrift hat zwar ihren Sinn, aber ich denke doch, daß es der Mann allein gut machen soll, was er verdorben hat, wenn es nur immer angeht. Ich hab's so gehalten mein Leben lang und bin doch ein aufrechter Mann und ein braver Soldat. – Das meine ich auch, sagte der Junge, man muß es mit sich allein abmachen, das ist eine gute Lehre. – Hast du etwas verbrochen, Kamerad?, fragte der Unteroffizier. – Ja, sagte der Junge, 193 – aber damit muß ich nun ganz allein fertig werden. – Als er so gesprochen hatte, trat ein anderer Soldat an das Feuer. Du bist an der Reihe, sagte er zu meinem Jungen, es ist bitter kalt. Der Mondkahn fährt herauf über die Ebene. Der Wind weht, es ist kein Schutz weit und breit. Mach dich bereit, zwei Stunden sind eine lange Zeit. Mein Junge stand auf, griff nach Koppel und Helm, nahm das Gewehr und ging in die Nacht hinaus. Der Unteroffizier sah ihm nach und schüttelte den Kopf. An den folgenden Abenden suchte mein Sohn in der Stadt nach dem Manne, der ihm das Versprechen des Schweigens gegeben hatte. Er fand ihn lange nicht. An einem Abend stellte er den Gesuchten auf einer Brücke. Der Mann stand mit dem Rücken an das Geländer gelehnt und betrachtete die Menschen, die vorübergingen. Als er den Jungen sah, begann er leise zu lachen. Es klang, als wenn ein Bösewicht den andern begrüßt. Na, fragte er, wieder ein Geschäft? Der Junge sagte: Ihr habt mir vor einem Jahr das Versprechen gegeben, über gewisse Dinge zu schweigen. Seid ihr gesonnen, euer Versprechen zu halten? – Wie meinst du das?, fragte der Mann. Er begriff noch nicht, er wollte Zeit gewinnen. Ich will euch nur daran erinnern, sagte mein Sohn, daß ihr mir ein Versprechen gegeben habt, und daß ihr es halten müßt bis in alle Ewigkeit. Der Mann lachte. Ewigkeit ist nichts für Sterbliche, sagte er, und die Versprechen werden auch alt. An ein Jahr mögen sie halten, dann ist's aus. Der Junge starrte den Lumpen an. Sie müssen erneuert werden, sprach der Mann und hielt die offene Hand hin. Mein Sohn erbleichte: Ich habe nur Pfennige. – Pfennige!, lachte der Mann und wischte sich den Mund. Er drehte sich um und sah hinab auf den dunklen Kanal. Nach einer Weile wandte er sich wieder dem Jungen zu: Du könntest noch einmal ein Geschmeide 194 finden. Das ist ein guter Preis. – Ihr seid ein Lump, jetzt sehe ich, worauf ihr hinauswollt! Ich löse euch von eurem Versprechen nicht. Ihr habt es zu halten. – Ob ich es halte, entgegnete der Mann, das ist meine Sache. Aber du könntest mir dabei helfen, du könntest meinem guten Willen das Rückgrat stärken. Ein kleines Geschmeide oder ein Ring, die finden sich doch überall. Als der Junge das hörte, war es ihm, als zerbräche etwas in seinem Herzen, als ginge ein Glas in Stücke, das schon lange brüchig gewesen. Er wurde ein anderer in diesem kurzen, furchtbaren Augenblick. Mit einer kalten Stimme sagte er: Ich werde euch meinem Hauptmann melden. Meine Ehre ist dann verwirkt, aber ihr seid ein Feind meines Landes, und Feinde muß man vernichten. – Es nützt dir nichts, erwiderte der Mann, wenn du zu deinem Hauptmann gehst. Noch heute nacht erzähle ich, was ich von dir weiß. Die Menschen auf der Straße halte ich an und sage ihnen, so und so sind die Soldaten aus Henna. Auf ein Papier schreib' ich's und hefte es an die Kirchentür – es nützt dir nichts, wenn du zu deinem Hauptmann läufst, dir nichts, und nichts deinem Vaterlande. Der Mann dünkte sich sehr klug, aber er wußte etwas nicht, was Lumpen niemals wissen. Die Menschen, die reinen Herzens sind, geraten oft in das Hintertreffen, weil sie nicht alle Waffen gebrauchen, die den Lumpen gut dünken. Aber die Edlen sind bereit, um eine Entscheidung ihr Leben einzusetzen. Solchen Mut kennen die Lumpen nicht; darum rechnen sie nicht mit ihm, und unversehens kommen sie um die Früchte ihrer leichten Siege. Der Junge sagte: Erinnert ihr euch an den Abend vor einem Jahr, als ich euch drohte zu würgen? Damals sagtet ihr, die Menschen auf der Straße würden euch helfen, und der Soldat aus Henna als ein Mörder dastehen. Aber heute – seht doch die Straße entlang! Der 195 Mann blickte nach links und rechts. Kein Mensch war seit geraumer Zeit über die Brücke gegangen. Da erbleichte der Lump und hätte gewünscht, er wäre weniger grausam gewesen. Mein Tod hilft dir nichts, sagte er, es kommt an den Tag, dann zeigt man mit Fingern auf die Leute aus Henna. – Oh, entgegnete der Junge, ein Lump wie ihr kommt auf manche Weise ums Leben. Findet man ihn tot, dann fragt man nicht viel. – Ich hab's schon verraten, flüsterte der Mann, du änderst es nicht mehr . . .« – Das hätte ich erfahren, sagte mein Sohn, glaubt mir, es wäre mir nicht verborgen geblieben. Ihr lügt . . . – Ich habe gelogen!, schrie der Mann, aber ich will mein Versprechen halten, heute, morgen und in alle Ewigkeit! – Du hältst es nie, sagte der Junge, ich habe dich kennengelernt. Unversehens packte er den Lumpen und würgte ihn, bis er keinen Laut mehr von sich gab. Dann ließ er ihn über das Geländer in das dunkle Wasser hinabfallen. Er schloß die Augen. Mein Vaterland!, sprach er leise, vielleicht verstehst du nicht, was ich getan habe. Du wirst mich verachten, aber ich habe dich geliebt. Er schloß die Finger über dem kalten Geländer, er sah in die Nacht hinaus und betete lange, nicht zu Gott und den Heiligen, zu dem unsichtbaren Geiste allein, den er Vaterland nannte. –

Er erwachte wie aus einem tiefen Traume. Er wußte, was er getan hatte. Der Mann war aus dem Wasser des Kanals nicht wieder emporgetaucht. Am gleichen Abend noch meldete mein Sohn seine Tat dem Hauptmann. Ich will nicht fragen, sagte der Hauptmann, wie du dies tun konntest und wie es in dir ausgesehen hat, als du keinen Weg mehr sahest als diese Tat. Ich verstehe dich, nur weiß ich nicht, ob ich dir helfen kann. Der Hauptmann sprach es mit leiser Stimme: Ich weiß nicht, wie ich es machen soll, um dich zu retten. Ich sehe keinen Weg, 196 aber vielleicht finde ich ihn über Nacht. Die besten Gedanken kommen, wenn es dunkel ist. Der Hauptmann sah auf. Was ist dir?, fragte er. Ich kenne dich nicht mehr. Du blickst mich an wie einer, der zum Sterben geht. Gibst du die Hoffnung schon auf? Ich will mit dem General sprechen, ich will ihm sagen, wer du bist, dann wird er begreifen, warum du es tatest. Der General ist ein Mensch wie wir, seine Schmerzen sind unsere Schmerzen, seine Freuden sind unsere Freuden. Er ist ein Mann aus Henna, das sagt alles. Gib die Hoffnung nicht auf! Der Junge antwortete: Hoffnung und nicht Hoffnung, das gilt mir nichts mehr. Mir soll niemand helfen. Was kommen muß, das komme. So denke ich jetzt. – Du bist noch verwirrt, sagte der Hauptmann, deine Tat hat mehr Gewalt über dich, als du denkst. Morgen würdest du anders sprechen. – Ich bin nicht verwirrt, entgegnete der Junge, ich war es, als ich auf der Brücke stand. Aber das ging bald vorüber. Der Weg von der Brücke ins Lager ist lang. Doppelt lang für einen, der so etwas tat wie ich. Die Nacht war kalt, Sterne standen am Himmel, der grüne Mond zog seine Bahn. Da hörte das Herz auf zu sprechen und andere Klänge wurden laut. Ich sagte mir: Was ich getan, das kann ich nicht verschweigen. Es gibt Dinge, über die ich nicht viele Worte mache, aber es kommt doch immer die Stunde, da ich sie aussprechen darf, am Feuer vor den Kameraden, auf dem Marsch, wenn endlos der Regen fällt, oder auch im Kampfe, bevor ich aufspringe aus meinem Loch und dem Tod entgegenlaufe. Diese Stunden sind die schönsten in meinem Leben, sie sind der stille Quell einer großen, überirdischen Kraft, und es können keine schlechten Dinge sein, die ich so lange verschweige, um sie in diesem Augenblick zu offenbaren. Es gibt Dinge, über die ich selten spreche, aber dies, was ich jetzt getan, gehört nicht zu ihnen. Ich 197 müßte mich schämen, wollte ich es einmal so dahinsagen, als wäre es schön und groß und selbstverständlich. Nein, nein – ich müßte es immer bei mir behalten und es verbergen wie eine heimliche Schande, und wenn ich es doch laut werden ließe, dann müßte ich schamlos lachen und mich brüsten und wenden wie ein Prahler, daß doch die andern meine Scham nicht bemerken. Sie würden sie aber dennoch spüren. Da sagte ich mir: Ich muß es offen aussprechen, noch am Abend heute, ich muß es dem Hauptmann sagen, aber nicht den Kameraden, daß sie es nicht mittragen müssen. Der Hauptmann wird es dem General melden, dann endlich weiß es der, der es wissen muß, der über Leben und Tod befindet. Dann kann ich sagen, nun ist es gut, nun ist es getan, was getan werden mußte, nun geht das Schicksal seinen Weg, und ich kann ihm zusehen mit reinem Herzen. Mein Junge schwieg; er wartete, was der Hauptmann sagen würde; er sah dem Mann fest in die Augen, und der erwiderte seinen Blick. Und was meinst du, fragte der Hauptmann, was der General sagen wird? – Er wird sagen, sprach der Junge, daß ich den Tod verdient habe, aber es wird ihm leid um mich sein. Vielleicht ist er einen Augenblick uneins mit sich. Doch er wird darüber kommen. Es wird allen so gehen, die von mir hören. Sie werden sagen, er hat einen Menschen getötet, und es läßt sich allemal ein anderer Ausweg finden. Sie haben recht; es ist alles sehr schnell gegangen, und sicher hätte ein anderer es anders gelöst, ich selbst vielleicht zu einer besseren Stunde. Aber im Tiefsten ihres Herzens werden die Menschen wissen, daß sie mich achten und lieben über den Tod hinaus. Sie tun es aber, weil ich nicht mehr bin. Als der Junge so gesprochen hatte, erhob sich der Hauptmann und gab ihm nur stumm die Hand. Dann wandte er sich ab; der Junge grüßte und verließ wortlos den Raum.

198 Drei Tage später trat ein Kriegsgericht zusammen; es verurteilte meinen Sohn zum Tode.

Als sie fragten, ob er einen Wunsch hätte, da bat er, man möge ihn nach Henna bringen. Dort wolle er den Tod empfangen, wenn es so sein müßte, aber die Menschen auf der Guluppen-Insel sollten nichts wissen davon, damit doch seine Tat nicht umsonst sei. Der Junge sagte dies mit solchem Ernst, daß das Gericht ihm seine Bitte gewährte, obwohl es gegen die Bestimmungen ging. Man brachte ihn nach Henna. Ich durfte ihn noch einmal sehen. Da hat er mir alles erzählt. Heute in der Frühe haben sie ihn erschossen.

Ich hörte, daß man die verurteilten Soldaten auf einen besonderen Friedhof bringt, wo sie wie Lumpen, ohne Geleit und ohne Ehren begraben werden. Mein Mann legte heute früh seine Orden an und ging aus dem Hause. Er sagte: Ich ertrage es nicht, daß sie ihn einscharren wie einen schlechten Menschen. Er war ein guter Soldat und ein braver Mann. Er hat es nicht verdient. Ich suche einen General oder einen Obersten, der mir hilft. Sie können es mir nicht abschlagen; ich habe in vielen Kriegen mitgefochten und auch Wunden davongetragen. Mein Mann hatte aber keinen Erfolg. Ein General mit einer goldenen Kette empfing ihn. Ich verstehe euch, sprach er, und teile euren Schmerz. Aber ich kann euch nicht helfen. Gesetz ist Gesetz. Die Kaiserin muß hart sein, und ich bin ihr General. Da ging mein Mann fort . . . Als er nach Hause kam, sagte er: Es ist aus, Frau. Ich ertrage die Schande nicht. Das Licht der Sonne schmerzt mich, ich mag die Augen nicht heben. Die Stunden sind tot von nun an. Aber noch gibt es eine ehrliche Kugel. Da weinte ich und fiel ihm um den Hals. Doch er wehrte ab und sagte nur traurig: Du machst es auch nicht wieder gut. Er weinte selbst, die Tränen fielen ihm in den 199 grauen Bart, seine Hände zitterten. Laß, sagte er mit erstickter Stimme, ich halt es nicht mehr aus. Da ließ ich ihn, ich zog mich an und ging auf den Fischmarkt. Ich wollte der Kaiserin zu Füßen fallen. Als ich ankam, war die Kaiserin schon fort. Ich sah noch die Menschen, wie sie ihr mit weißen Tüchern winkten. Ich war zu lange bei meinem Mann geblieben . . .

Die Frau sprach leiser mit jedem Wort, ihre Kraft versiegte unter den Augen der Menschen. Der Himmel war hoch und farblos geworden, Dämmerlicht lag über dem still gewordenen Markte. Keiner der Menschen hätte sagen können, zu wem die Frau gesprochen hatte. Über Lebende hinweg war es eine Zwiesprache mit ihrem toten Sohne gewesen. Jetzt erinnerte sie sich, wo sie war. Sie sah den Kanzler an, der wie in einem Traum verloren auf der Bank saß. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und sagte: Da sah ich euch. Der General konnte nicht helfen. Die Kaiserin war fort, als ich kam. Nun seid noch ihr, an den ich mich wenden kann in meinem Schmerz. Wollt ihr der Kaiserin die Bitte überbringen?

Ein Schweigen entstand. All die Menschen, die sich versammelt hatten, fühlten das gleiche. Die Bitte der Mutter war ihre eigene Bitte, sie hätten sie aussprechen mögen mit tausend Zungen. Aber niemand von ihnen fand ein Wort. Die Erzählung hatte sie fortgeführt in eine andere Wirklichkeit, aus der fanden sie nur langsam zurück auf den Fischmarkt von Henna. Als die Frau begonnen hatte zu sprechen, da war es hell gewesen, und der Abendglanz der Sonne hatte über dem Markt gestanden. Jetzt war es fast dunkel. In der Zeit, die dazwischen lag, hatte die Stimme der Mutter die Menschen manches Licht und manche Finsternis sehen lassen. Sie hatte ihnen Tage und Nächte gezeigt und das Dämmern der Abende, purpurnes Licht an dem Strande von Henna und heillose 200 Dunkelheit über der Stadt auf der fernen Insel. Das alles mußte erst in den Herzen der Menschen zur Ruhe kommen.

Wenn mein Sohn, sagte die Frau, unter ungeweihter Erde liegt, dann ist die Schande nicht mehr auszulöschen. Morgen soll er begraben werden. Es ist nur dieser Abend noch, seine Ehre zu retten. Die Frau hatte die Hände ein wenig gehoben. Sie stand vor dem Kanzler mit trockenen, brennenden Augen. Der Kanzler saß noch immer auf der Bank neben der Fischfrau. Sein Gesicht war hart geworden, ein heiliger Ernst stand darin geschrieben. Man sah es ihm an, daß er ergriffen war von einer anderen Art als die des Volkes auf dem Markte.

Ich bitte euch, rief die Frau, ich bitte euch mit meinem ganzen Herzen: helft mir, die Ehre meines Sohnes zu bewahren! Der Kanzler stand auf: Die Ehre eines guten Menschen, sagte er, ist eine heilige Sache. Doch auch der Spruch der Kaiserin ist uns heilig! Er sagte das mit einer Sprache, die klar und rein war wie das Wasser eines Bergsees, dessen Grund man, wiewohl er hell heraufschimmert, in großer, gefährlicher Tiefe weiß. Etwas wie ein Befehl war in seinen Augen. Er sah auf die Menschen, als warte er auf ihre Stimme. Die Gesichter der Leute änderten für einen Augenblick ihren Ausdruck. Das Unbedingte ihrer Bitte wurde überflogen von Zweifeln und Fragen, wie der Wind in Wellen über ein Kornfeld weht. Die Mutter stand schweigend dabei.

Es blieb lange still auf dem Fischmarkt. In diesem Schweigen gewannen die Menschen ihre Sicherheit zurück. Es zeigte sich, daß die Achtung vor dem Toten stärker war als alle Zweifel. Sie hatte tief in den Herzen Wurzeln gefaßt. Die alte Klarheit kam zurück in die Gesichter der Menschen. Der Ausdruck des Bittens war deutlicher zu lesen als vorher. Schon hörte man die ersten Worte. Sie 201 waren noch leise gesprochen, aber voller Erregung und voller Leidenschaft. Es redete ein Mann zu seinem Nachbarn. Darauf sprach ein anderer, und bald war ein Gesumm von vielen, vielen Stimmen zu hören, die alle mit dem gleichen Eifer im Verborgenen für die Ehre des Jungen stritten, als gelte es die eigene Ehre. In dieses Summen hinein sprach der Kanzler: Die Kaiserin soll einen Spruch aufheben, den sie selbst gesprochen hat. Das ist sehr viel. Sie tut es nur, wenn das Volk, für sich und in seinem Herzen, nicht bei dem Spruche steht. Wenn die Seele des Volkes nein sagt, dann darf ich die Kaiserin bitten. Darum sagt laut, was ihr zu sagen habt!

Die erste Wirkung dieser Rede war ein gespanntes Schweigen. Die Menschen ordneten die Gedanken und suchten ihre Worte zusammen. Sie sagten sich im stillen: Jetzt ist es an dir, den Mund aufzumachen, und du wirst es auch tun, wenn kein anderer spricht, oder wenn die richtigen Worte nicht gefunden werden. Die Leute von Henna fühlten, daß es nicht nur um das Schicksal eines Soldaten ging, sondern um Sieg oder Niederlage ihrer Herzen und der Art ihrer Gedanken.

Die erste, die zu Worte kam, war die Fischfrau des Kanzlers. Sie stand hastig auf und sagte mit einer lauten Stimme: Ist denn einer von uns, der die Tat des Jungen verabscheut? Der sich schämt, daß dieser aus Henna war? Der nicht stolz darauf ist, wie sehr unser Land geliebt wird? Weiter kam die Fischfrau nicht. Die Menschen drängten heran, wie von einem unsichtbaren Zwange getrieben. Ein jeder sprach etwas, was er den Worten der Fischfrau hinzuzusetzen hatte. Keiner verstand des anderen Stimme. Bei aller Erregung zerbrach aber der weite Kreis nicht, der sich um den Kanzler und die Mutter gebildet hatte.

Da hörte man durch den Lärm hindurch eine helle 202 Stimme. Die Umstehenden merkten auf, dadurch wurde es ruhiger, und bald war es ganz still im Umkreis. In der ersten Reihe, nahe dem Kanzler, stand das Mädchen, welches die Blumen trug. Ihre Augen glänzten wie von einem überirdischen Feuer. Sie hatte die Blumen an ihre Brust gepreßt, daß sie ganz müde und welk geworden waren, aber sie hielt sie fest, als gelte es einen kostbaren Besitz. Glaubt mir, rief das Mädchen, für mich ist er ein Held! Nach diesen Worten wollte das Mädchen sich umdrehen und durch die Menge nach hinten fliehen, aber die Menschen ließen sie nicht hindurch. Sie mußte stehenbleiben und den Blick der Leute ertragen, denen sie eben ihr Herz geöffnet, so groß und weit, wie sie es bis heute niemals getan.

In dieser Not kam ihr der Jüngling zu Hilfe, von welchem sie vorhin die Blumen erhalten hatte. Er drängte aus einer der letzten Reihen nach vorn, doch schon auf halbem Wege konnte er die Worte nicht mehr bei sich behalten und rief: Er ist einer der unseren, ach, er ist mehr als wir, er ist wirklich ein Held! Wir müßten uns schämen, wenn wir ihn in schlechter Erde bestatteten! Der Jüngling wollte noch mehr sagen, aber er fand die rechten Worte nicht. Das Herz war ihm voll zum Überlaufen, er suchte nach großen und prächtigen Ausdrücken, ein jeder schien ihm zu ärmlich, das Heldentum dieses Soldaten zu schildern. Darum suchte und rang er und schwieg endlich in einem grimmigen Ungenügen.

Während dieser Zeit hatte der alte Herr, der auf dem Bottich gesessen hatte, sich erhoben und seinen Stock zurechtgestellt. Er sah sich im Kreise um und sagte mit einer festen Stimme: Ich glaube, ich bin der Älteste hier und habe also das Recht auf die ruhigsten und nüchternsten Worte. In der Tat, welche der Junge beging, liegt der höchste Edelmut, dessen ein Mensch fähig ist. Es ist aber 205 auch ein tiefes Unrecht darin, denn die Tat war nicht notwendig, und Unerfahrenheit in den Dingen des Lebens galt noch nie als ein Grund für ein schweres Vergehen. Sein Unrecht hat der Junge gebüßt. Nun, meine ich, dürfen wir ihm den Edelmut vergelten!

Der Kanzler stand auf, aber er ging nicht auf die Frau zu, er trat an den Rand des Kreises, der sich um ihn und die Frau gebildet hatte, und reichte über andere hinweg einem Manne, der dort gesessen hatte, seine Hand. Der Kanzler mußte ihn schon lange gesehen und die ganze Zeit über sich seinen Ort gemerkt haben, den er durch den hellen Schein in des anderen Augen und den weißen Schimmer von dessen Haaren nicht verloren hatte. Hier ist einer, sagte der Kanzler, der das letzte Wort zu sprechen vermag! Da erkannten die Menschen ihren Dichter, der nun aus dem Dunkel des Volkes in das letzte Dämmerlicht trat. Sie zogen ihre Hüte und verneigten sich tief. Der Dichter sprach: Ihr sagtet, mein Kanzler, die Ehre eines Menschen sei eine heilige Sache, doch der Spruch der Kaiserin gelte nicht weniger. Es geht hier nicht mehr um die Ehre eines Menschen. Unserem Volke ist ein Opfer gebracht worden, das haben die Leute erkannt. Sie tragen den Dank in ihren Herzen und auf ihren Lippen, jeder so gut er es kann. Das Volk wehrt sich, daß ihm das Opfer entweiht wird. Darum bittet es um die Ehre des Jungen: es bittet um seine eigene Ehre. Sie ist heiliger als der Spruch der Kaiserin. Die Kaiserin wird stolz sein auf ihr Volk, wenn sie seine Bitte hört. Die letzten Worte hatte der Dichter nicht dem Volke gesagt. Er hatte die Mutter angesehen, als hielte er mit ihr allein stille Zwiesprache.

Als der Mann gesprochen hatte, war eine große Bewegung im Volke. Es geschah, als wiche eine schwere Last von ihnen allen; aber sie wagten nicht, ihre Freude laut 206 werden zu lassen. Sie sahen auf die Mutter. Darum schwiegen sie und warteten, daß der Kanzler etwas sprach, was ihnen nach dem Herzen war.

Der Kanzler stand auf und ging auf die Frau zu. Er hielt ihre Hand und sah so froh aus, wie die Leute ihn niemals gesehen hatten. Ihr habt es gehört, sprach er, was die Menschen denken, die mit euch und eurem toten Sohne eines Herzens, weil sie eines Volkes sind. Ich verspreche euch, noch heute vor die Kaiserin zu treten. Glaubt mir, auch die Kaiserin fühlt wie alle die, die euch zugehört haben.

Nach dieser Rede hätte eigentlich ein Jubel ausbrechen müssen, wie es sonst auf dem Fischmarkt geschah, wenn die Kaiserin oder der Kanzler das letzte Wort gesprochen hatten. Es blieb aber ruhig an diesem Tage – die Menschen wußten nicht, wie sie ihre Freude zeigen sollten. Zuletzt fanden sich einige, die der Frau das Geleit geben wollten durch die Straßen der Stadt. Da aber sahen sie, daß die Frau schon gegangen war. Auch der Kanzler war fort. Niemand hatte ihn gehen sehen.

Am anderen Ende des Marktes holte den Kanzler ein Mann ein. Es war derselbe, welcher ihm das Wasser über die Füße gegossen hatte. Der Mann zog seine Mütze. Um Vergebung, sagte er, ich habe ein Tuch. Ihr geht nun doch zur Kaiserin; erlaubt, daß ich euch Schuhe und Hosen abreibe. Und ehe der Kanzler es sich versah, kniete der Mann zu seinen Füßen.

Als der Kanzler später seinen Wagen bestieg, sandte er einen wehmütigen Gruß hinüber zum Fischmarkt. Leb wohl, sagte er, du bist der schönste Ort auf der Erde. Es ist sehr heiß bei dir, und dein Geruch ist schlimmer, als ich einen kenne weit und breit. Aber ich weiß keine größere Freude, als auf dir zu spazieren, deine Menschen zu sehen und deine Schicksale. 207 Ich preise Gott, daß ich mächtig bin und helfen kann! Der Kanzler schloß die Augen. Es war Tag vor seinem inneren Blick: die Sonne stand hoch am Himmel. Auf dem Friedhof trugen sie einen Soldaten zu Grabe. Der Soldat war nicht allein auf seinem letzten Wege. Viele Menschen waren bei ihm, sie standen zwischen den Gräbern und auf den Wegen. Manch einer sah nichts von dem Sarge, aber er war dabei, und es genügte ihm. All die Menschen hatte eine große Bewegung ergriffen, sie waren sehr still, doch sie spürten einer des anderen Nähe und gleichen Herzschlag. Es war ihnen, als ginge ihrer aller Bruder und liebster Freund von ihnen, und jeder wußte, daß der Nachbar so dachte wie er. Der Kanzler sah unter all den Menschen sich selbst, wie er dort am Wegrand stand, wie die Leute ihn wohl sahen und sich freuten, daß er bei ihnen war, aber doch mit ganzem Herzen bei dem Soldaten blieben in Schmerz und Stolz und einer stillen Dankbarkeit. Da wurde der Kanzler selbst von dem Strome ergriffen, und er vergaß, daß es Abend war, der Fischmarkt gerade zu Ende, und daß der Tag des Begräbnisses morgen erst kommen sollte. –

Die Nacht wurde tief und blau, die Luft war voll vom Dufte der Bäume und dem Geruch des nahen, salzigen Meeres. Atemlose Lichter gingen umher, ein Leben der Freude klang über den Dächern der großen Stadt. Die Nächte von Henna sind schöner als irgendwo in der Welt. –

 


 


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