Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Die Sühne

Als der Sommer sich zum Herbst neigte und die Tage länger zu werden begannen, brach in Henna die Cholera aus. Sie kam aus den schmutzigen Straßen des Hafenviertels und verbreitete sich schnell über die ganze Stadt. In wenigen Tagen starben mehr Menschen als sonst während vieler Wochen. In den Spitälern lagen die Kranken auf Strohschütten, am Fußboden, auf den Gängen. Niemand konnte sich um sie kümmern. Am Morgen wurden die Toten auf große Wagen geworfen und hinausgefahren zum Kirchhof. Dort brachte man sie in aller Eile unter die Erde. Die Gräber lagen wüst und traurig eines neben dem anderen; niemand hatte Zeit, sie zu schmücken. Sie erhielten einfache Kreuze aus ungehobeltem Holz mit den Namen der Toten darauf, und wie sie so in der Reihe lagen, sahen sie aus wie Soldatengräber in einem fernen Land. Doch war kein Ruhm und keine Ehre dabei, nur dumpfe Not und eine bittere Verzweiflung. Das Gefäß des Leides war bis an den Rand gefüllt, und jeden Tag mochte es überlaufen.

Die Leute von Henna wußten zu berichten, daß das Unglück nicht aus heiterem Himmel gekommen sei. Am Abend, bevor die Krankheit in den südlichen 120 Hafenvierteln ausgebrochen, habe ein Mann auf dem Marktplatz mit lauter Stimme Henna und seinem Volke ein verzehrendes Leiden an den Hals gewünscht und die Hände dabei zum Himmel gehoben, als wollte er die Götter zu Zeugen anrufen. Er sei ärgerlich gewesen, weil die Kaiserin ihm den Auftrag für den Bau einer Kirche nicht gegeben, und habe auf diese Weise seine Rache üben wollen. Als die ersten Opfer der Krankheit in die traurige Totenstadt hinausgefahren wurden, sei eine große Menge Menschen in das Haus des Frevlers eingedrungen. Dort habe sie ihn tot in seinem Bett gefunden, die Cholera sei ihnen zuvorgekommen und habe das Gesicht des Gestorbenen grausig entstellt. In einer haßerfüllten Verzweiflung hätten die Leute aus dem Volke ihn vom Lager gezerrt und ungeachtet der Gefahr, die von seinem Leibe ausging, auf den Kirchhof hinausgeschafft, wo er abgesondert von den anderen ein einsames Grab gefunden habe, das wie ein Mahnmal gerade am Eingang lag. Des anderen Tages hätten viele von denen, die dem Übeltäter mit Verwünschungen und Scheltworten das letzte Geleit gegeben, den gleichen Weg gefunden mit den Füßen voran. Der Tod habe ihnen den Haß, den sie im Herzen trugen, nicht lange gegönnt.

In der ersten Woche des Herbstes erreichte die Krankheit ihren Höhepunkt. Eine unbarmherzige Sonne verwandelte die Stadt zu einem dunstigen Fieberpfuhl. Der Hafen lag verödet, das Meer in schläfriger Ruhe. Die Straßen waren still geworden, zahllose Fliegen tummelten sich in ihrer dumpfen Glut. Wo ein Kranker im Hause lag, hatten die Leute alle Hände voll zu tun. Wer aber verschont geblieben war, schloß seine Türe zu und ließ sich nur ungern im Freien blicken. Zu manchen Stunden hatte es den Anschein, als sei die Stadt ausgestorben.

Eines Tages kam ein Junge von siebzehn Jahren auf den 121 Kirchhof hinaus und fragte den Totengräber, ob er einen brauchen könnte, der die Gräber in Ordnung hielte und sie in dieser leidenvollen Zeit mit Blumen schmückte. Der Totengräber schüttelte den grauen Kopf, er war ein einfältiger Mann und begriff nicht, wie ein Mensch sich zu einer Arbeit drängen könnte, die er nicht zu tun brauchte. Der Junge sah ihm lange ins Gesicht, dann senkte er den Blick und sagte, das Elend in der Stadt übersteige alles Maß, da sei es an der Zeit, ein wenig auch auf die Freude zu achten, daß sie nicht ganz vergessen würde. Und wenn es auch gering erscheine, so sei es doch ein Trost, die Gräber geschmückt zu sehen wie in den besten Tagen von Henna. Der Totengräber hatte das Kinn auf den Griff seiner Schaufel gestützt und sagte: Ich kenne dich wohl; du heißt Johannes, und dein Vater besitzt ein Haus in der Nähe der Apostelkirche. Du wirst einmal wie er in einer Kutsche fahren, und wenn die Leute dich grüßen, huldvoll mit dem Kopfe nicken. Deine Hände haben noch keine Arbeit gesehen; die Blumen aber besitzen nur von außen einen schönen Anblick. Aus der Nähe sind sie garstig und rauh, sie haben spitze Blätter und lange, haarige Schäfte, in denen der Schmutz nistet. Hast du sonst nichts zu tun, daß du diesen Dienst übernehmen willst? Johannes schüttelte den Kopf. Das Leben in der Stadt, sprach er, sei anders geworden. Man erkenne es nicht mehr wieder. Nur hier draußen sollte es sein, wie es immer war, er werde Blumen holen und morgen mit seiner Arbeit beginnen. Der Totengräber hob die Schultern. Er war ein Mensch von langsamen Gedanken; erst jetzt fiel ihm ein, daß er diesen Jüngling recht wohl gebrauchen könne. Es ist gut, sagte er, mit dem ersten Tageslicht kannst du hier anfangen. Dann ist es noch kühl, und du magst tüchtig zu Werke gehen. Aber zieh dir derbe Kleider an, mit den deinen wirst du nicht weit kommen. 122 Johannes hatte die letzten Worte mit einem heiteren Lächeln angehört. Er dankte dem Manne und ging fort. Der Totengräber sah ihm lange nach und schüttelte den Kopf. Ich kenne dich gut, sprach er zu sich selbst. Die Leute aus deiner Straße haben von dir erzählt. Sie alle mögen dich gern, und der Teufel wird wissen, wie du es anstellst. Es scheint, als hätte ich einen guten Fang getan.

In der Frühe, als die Sterne blaß zu werden begannen und ein frischer Wind durch die Bäume wehte, kam der Junge auf den Kirchhof. Er legte seinen Rock bei dem Schuppen nieder und zog einen grauen Kittel an, den er sich mitgebracht hatte. Dann nahm er zwei Körbe unter den Arm und machte sich auf den Weg, um Blumen zu suchen. Als er die Tür des Kirchhofs hinter sich schloß, war es Morgen geworden. Die Sonne lag rot und kalt über dem Lande, und in den Lorbeerbüschen sangen zahllose Vögel. Der Totengräber hatte sich von seinem Lager erhoben und war an die Arbeit gegangen. Er sprach leise vor sich hin, wie es seine Art war. Die Mauern des Kirchhofs konnten die vielen Gräber nicht fassen. Auf dem Felde ringsum waren frische Gruben aufgeworfen, eine neben der anderen, und noch wußte niemand, wer einst darin liegen würde.

Die Totenstadt von Henna ist auf ein ödes, steiniges Land gebaut, das sich sacht gegen das Gebirge zu aufhebt. Zwischen den Steinen und grasigen Flächen stehen prachtvolle Blumen, doch man muß sie suchen, nicht jedes Auge findet sie; sie haben sich an warmen, sonnigen Flecken angesiedelt und stehen in Fülle an den Läufen der kleinen versteckten Bäche: Kuhschellen, Eisenhut und Arnika. Johannes brach sie, wo er sie fand, mit den Händen, sah sie lange an und ließ ihre Blütenblätter über seine Lippen streichen. Dann tat er sie in den Korb zu den anderen. Die ersten Blumen, die er gesehen, hatten noch 123 geschlafen, die Nacht hing in ihren Rispen, und das kalte Licht der Frühe vermochte sie nicht zu wecken. Nun hob die Sonne sich in einem gnadenlosen Glanze über das Feld, die Erde dampfte, und die Blumen öffneten weit ihre Kelche. Am späten Vormittag kehrte der Junge zurück. Der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten, und über seine Wange lief ein grüner Strich, den eine Heuschrecke ihm hinterlassen hatte. Er trat an den Brunnen und wusch sich Gesicht und Hände. Der Totengräber, der vorüberging, rief ihm ein Scherzwort zu. Johannes hob den Kopf, das Wasser lief ihm über das Gesicht; er lächelte ein wenig und sagte, die Toten wollten ein freundliches Antlitz sehen, nicht eines, das von Last und Mühen entstellt sei. Es sei heiß geworden, und man müsse mit kühlen Händen an die Arbeit gehen. Dann nahm er seine Körbe und trat auf das Feld hinaus. Er hatte manche Blumen mit der Erde ausgegraben; die pflanzte er auf die ältesten und armseligsten Gräber, welche aus den ersten Tagen der Krankheit herrührten und schon trocken und staubig geworden waren. Er goß Wasser darauf und sagte: Diese Toten haben am längsten warten müssen; nun sollen sie die ersten sein, die unter Blumen schlafen, sie haben es verdient, und es wird ihnen wohltun. Um die Mittagszeit, als die Sonne mit einer unbarmherzigen Glut auf das Land herabstrahlte, ging Johannes noch einmal hinaus, um Blumen aus dem Gebirg zu holen. An einem Bache, dessen Wasser dünn und klar über blanke Kiesel rann, hielt er Rast, aß ein Stück Brot und einen Apfel dazu. Er fürchtete sich nicht vor der Krankheit und brach große Bissen aus der frischen, grünen Frucht. Das Feld um ihn schien in einen tiefen Schlaf gesunken, wie betäubt schwiegen die Vögel, und nur die Grillen zirpten nah und fern in dem trockenen, braunen Grase. Am Nachmittag kehrte er zurück. Er war mit 124 nackten Füßen in dem Bachbett aufwärts geschritten und hatte große Mengen des starken, blauen Eisenhuts gefunden. Damit waren seine Körbe bis an den Rand gefüllt. Johannes begab sich sogleich an die Arbeit; er schüttete die verkommenen Gräber auf, pflanzte Blumen in ihren Sand, goß Wasser darüber und legte buntfarbene Steine hinauf, die er aus dem Bach aufgelesen hatte. Als der Tag zur Neige ging, und die Sonne rot und groß über dem Meere stand wie das Auge eines furchtbaren Gottes, hatte der Kirchhof sein Gesicht verwandelt. Aus dem öden und traurigen Feld war hier und dort schon ein blühender Garten geworden. Um diese Zeit brachte ein Wagen aus der Stadt viele, die an der Krankheit gestorben waren, auf den Friedhof hinaus. Die Männer, welche die Toten in ihre Gruben legten, wunderten sich sehr, wie in dieser elenden Zeit einer den Mut fände, Blumen an den Ort der Toten zu bringen. Sie blieben lange stehen und konnten die Augen nicht von dem Bilde wenden. Im letzten Sonnenschein wanderte Johannes seinem Hause zu.

Abend für Abend sahen die Leute von Henna, wenn sie hinter ihren Gardinen hervorblickten, den Jungen vom Kirchhof heimkehren. Er hielt den Kopf zur Seite geneigt und lächelte vor sich hin, wie es seine Art war. Johannes trug einen schwarzen Lodenmantel gegen den Staub, der am Abend durch die Gassen wehte, und hatte die Hände fest in den Taschen vergraben. Er ging langsam, und öfters blieb er stehen, um etwas zu betrachten – eine Katze, die sich an der Pfote verletzt hatte, oder eine Wespe, die in eine Regentonne gefallen war und kläglich darin umherschwamm. Dann mochte es geschehen, daß er sie behutsam herausfischte und das Tier ihn dabei in den Finger stach. Der Junge schien es nicht zu spüren. Mit einem heiteren Antlitz setzte er seinen 125 Weg fort. Gewißlich schmerzte ihn das Unglück der Stadt, doch er konnte seinen Schmerz nicht anders ausdrücken als durch ein Lächeln. Dabei hielt er die Augen weit geöffnet, als erstaune er über etwas, das er nicht begreifen konnte. Wenn die Menschen, die ängstlich hinter den Fensterscheiben standen, ihn grüßten, öffneten sich seine Lippen zu einem Lachen, und er nickte leise mit dem Kopf. Manchmal, wenn es ihm einfiel, fuhr er sich mit der Hand durch das Haar, als ob er es ordnen wolle. Die Leute von Henna wußten, was Johannes auf dem Friedhof zu schaffen hatte. Die Kunde davon war wie eine wundersame Fabel durch die Stadt gegangen, doch nur von wenigen wurde sie geglaubt und wie etwas wirklich Geschehenes aufgenommen. Das Volk von Henna hatte weder Auge noch Ohr für die Anzeichen der Freude, zu tief war es noch in seiner dumpfen Angst gefangen. Es ist, wie wenn wir in einem wüsten Traum den Schlag einer Glocke vernehmen; wir meinen zu schlafen und sind doch schon halb erwacht; erst viel später merken wir, daß es zum Morgen geläutet hatte. Dann ist es schon Tag geworden, die Vögel lärmen vor unserem Fenster, das Lied der Glocke aber ist längst still geworden, und wir haben die köstliche Stunde versäumt.

An einem Abend kniete Johannes auf dem Boden vor einem Grabe, das ärger als die anderen und zerschundener nahe dem Eingang zum Kirchhof lag. Es dauerte ihn der Tote, der in diesem elenden Hause ruhte, und er wollte ihm eine Freude bereiten. Der Jüngling schüttete die Erde auf und pflanzte einen gelbblütigen Fingerhut auf den Hügel. Als die Blume sich vor seinen Augen hoch emporreckte und ihre hängenden Kelche vom Licht durchflossen waren, freute er sich an dem Anblick und ließ die Finger sanft über die vielen Blüten streichen. Da fühlte Johannes sich heftig am Arme gepackt; als er sich 126 umwandte, sah er den Totengräber bei sich stehen. Sein Gesicht war zornig und ängstlich zugleich. Bist du von Sinnen, fragte der Mann, und schmückst das Grab des Verräters, der uns allen die schändliche Krankheit an den Hals gewünscht hat? Habe ich dir nicht gesagt, daß dieser Fleck wüst und leer bleiben muß, als habe der Teufel darauf gesessen? Der Junge schüttelte den Kopf. Der Totengräber hatte desgleichen wohl einmal erwähnt, doch es war Johannes längst aus dem Sinn gekommen, wie er alles vergaß, was er nicht zu begreifen vermochte. Er ist tot, sagte er, und fühlt nicht mehr, was euch allen das Herz bewegt. Er hat keine Augen und keinen Mund, und aus seinem Grabe wächst eine gelbe Blume. Seht, wie sie vom Abendlicht überfließt! Über diese Worte geriet der Totengräber in einen heftigen Zorn, er riß die Blume aus der Erde und trat sie unter seine Füße. Was sollen die Leute von Henna sagen, rief er, wenn sie die Toten herausbringen und den Fingerhut auf dem Grabe sehen? Sie werden dich steinigen und mich dazu! Johannes zog seinen Mantel über und rüstete sich zum Aufbruch. Er war so bestürzt und erschrocken, daß er kein Wort hervorzubringen vermochte. Leise bewegte er die Lippen, es war, als spräche er zu sich selbst, um sein Herz zu beschwichtigen. Hin und wieder huschte ein zaghaftes Lächeln über sein Gesicht, es kam und ging wie Irrlichterschein, er hielt den Blick abgewandt und wagte nicht aufzusehen. Ohne Gruß ging er fort. Der Totengräber bückte sich und hob die zertretene Blume vom Boden auf. Es ist schade darum, sagte er, doch sie gehört nicht auf dieses Grab, da ist es schon besser, wenn sie zertreten wird.

Als der Jüngling die Straßen von Henna betrat, fand er die Stadt von einem tiefen Schmerze niedergedrückt. Es war die Stunde, in der die Zeitungen ausgetragen wurden. Die Blätter waren schwarz umrandet und meldeten 127 den Tod eines alten Feldmarschalls, der im Volke sehr geliebt wurde. Die Kaiserin bat alle, die den Weg noch gehen konnten, den alten Kriegsmann auf seinem letzten Gange nicht allein zu lassen und ihm auf den Friedhof hinaus das Geleit zu geben. Die Leute von Henna hatten ihre Häuser verlassen, wie sie es sonst während der Zeit der Krankheit nicht taten, und riefen einer dem andern die Unglücksbotschaft zu. Ihre Gesichter waren fahl, weil sie so lange die Sonne nicht gesehen hatten, die Gestalten gebeugt vom endlosen Wachen an den Betten der Kranken, und die Augen zu müde, um zu weinen. Johannes blieb mitten auf der Straße stehen. Das Leid der Menschen überfiel ihn mit aller Heftigkeit, und da wollte es ihm scheinen, als wüßten die Menschen schon, daß der Totengräber die Blume von dem zerschundenen Hügel gerissen hatte. Es reute ihn, daß er fortgelaufen war und das Grab in seiner Armseligkeit hatte liegen lassen. Was halfen alle seine Mühen, wenn dieser düstere Hügel sie zuschanden machte? Einem jeden mußte er ins Auge fallen, es wehte um ihn eine Fülle wüster und trauriger Erinnerungen, und die anderen Blumen schüttelten umsonst ihre gelben und blauen Blütenglocken. Ein heimliches Lachen war auf dem Gesicht des Jungen erwacht. Wie stets weckte der Anblick des Elends den heftigen Drang in ihm, die Freude zu sehen und Freude zu bereiten. Er wandte sich um und kehrte den Weg, den er gekommen war, zurück. Als er am Friedhof anlangte, lag der letzte, purpurrote Abendschein über der Totenstadt. Es war still geworden, die Vögel ruhten in den Zweigen, und ein kühler Hauch kündete die nahende Nacht an. Bei den alten Gräbern standen hohe, aus Eisen getriebene Kreuze, sie standen eines hinter dem anderen, wie ein kunstvolles Gitterwerk; nun waren sie von blutigem Licht übergossen, und die Strahlen auf ihren Spitzen leuchteten 128 gleich Kohlenflammen. Der Totengräber war fortgegangen. Johannes suchte auf dem ganzen Kirchhof nach einer Blume und nahm sie endlich, da er keine fand, von einem fremden Grabe. Es war ein blauer Eisenhut mit hohem, holzigem Stamme. Still kniete er nieder und schmückte den Hügel. Als er aufstand und die Erde von seinen Händen streifte, war die Dämmerung hereingebrochen. Der Junge setzte sich auf eine Bank an die Mauer und lehnte seinen Rücken gegen den noch sonnenwarmen Stein. Der Wind spielte mit seinen Haaren, und eine Schwalbe segelte über den farblosen Himmel. Da überkam es ihn, daß er weinen mußte, es waren Tränen der Fröhlichkeit, und sie rannen ihm warm und leicht über die Wangen. Mit der sinkenden Nacht ging er nach Hause und legte sich zu Bett. Er war sehr müde.

Als Johannes erwachte, war es Tag geworden. Er hatte seine Stunde verschlafen und eilte sich, an die Arbeit zu kommen. In der Küche trank er einen Topf Milch, und als er eine bunte Raupe über die roten und weißen Fliesen kriechen sah, freute er sich an ihrem Anblick. Sie befand sich gerade in einem Sonnenstrahl, der durch das staubige Fenster hereinfiel. Als der Jüngling die Tür aufstieß und auf die Straße hinaustrat, kam ihm der heiße Atem des Vormittags entgegen. Johannes hob den Kopf und öffnete seinen Mund; es war, als wollte er den Hauch des Tages trinken, er hielt die Hand empor, wie man es tut, wenn es zu regnen beginnt, und lachte, als er es warm und lind an seinen Fingern spürte. Es wollte dem Jüngling scheinen, als herrsche in den Straßen heut ein regeres Leben; er sah es mit einem Glanz der Freude in seinen Augen und schritt rüstig aus, um nicht allzu spät zu kommen. Er hatte ein großes Feld von Arnika in seinen Bergen entdeckt; das versprach eine reiche Beute für seine Körbe.

131 Von fern schon sah er eine große Menge Volkes auf dem Kirchhof versammelt. Es waren die Leute, die den Feldmarschall zu Grabe geleitet hatten, doch Johannes wußte es nicht; er hatte den Tod des alten Kriegers über Nacht vergessen und dachte nur an das Feld von gelber Arnika, das einen würzigen Duft ausströmte. Manchmal glaubte er, er habe es nur im Traume gesehen; dann senkte er den Kopf und dachte nach, wo es wohl stehen könnte. So sehr hatten Wahn und Wachheit sich in seinen Gedanken verwirrt. An der Gittertür blieb er stehen. Der Totengräber war ihm in den Weg getreten. Johannes sah ihn wie in weiter Ferne. Ob er es gewesen, rief der Mann ihm ins Gesicht, der hinter seinem Rücken jenen verfluchten Hügel bepflanzt habe? Es stehe eine dunkelblaue Blume darauf, die einem anderen Grabe fortgenommen sei. Der Junge nickte mit dem Kopf; er sah dem Totengräber gerade in das Antlitz, und ein Lächeln huschte über seine Züge, wie es bei einem Menschen geschieht, der ein fröhliches Geheimnis offenbart. Er ging an dem Manne vorbei und trat mitten unter das Volk von Henna; er meinte, die Menschen müßten ihm nun entgegenkommen und ihn fragen, wo er die Blumen gefunden habe. Er sah nicht die dumpfe Glut in ihren Augen und nicht die Lippen, die sich bewegten, als wenn sie zornige Worte sprechen wollten. Ach, wußte er nicht, daß man selbst mit der Freude manchmal behutsam umgehen muß, weil den Menschen, die sie empfangen sollen, eine Verkehrtheit in den Sinn gekommen ist, in der ihnen endlich alles zum Üblen ausschlägt? Als der Jüngling sich zu dem Grabe niederbeugte, traf ihn ein Schlag ins Gesicht. Johannes blickte auf. Er lächelte noch immer und schüttelte den Kopf, als wollte er den Leuten von Henna sagen, daß sie den Falschen getroffen hätten. Er konnte nicht begreifen, daß der Schlag ihm gegolten habe, und 132 suchte mit seinen Augen nach einem Zeichen, welches ihm recht gab. Da aber sah er die Gesichter der Menschen voll Empörung auf sich gerichtet, und er ahnte dumpf, daß eine Liebe, die nicht begriffen wird, dem Hasse ähnlicher ist als jedem anderen Gefühl. Er wußte sich nicht zu wehren, seine Gedanken verwirrten sich; er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch er fand die Worte nicht.

Der Junge sah, wie die Leute aus dem Volke nach der Blume griffen und sie aus der Erde rissen. Da überkam ihn eine seltsame Empfindung. Es war ihm nämlich, als wollten ihm diese Menschen sein Werk aus den Händen nehmen; sie taten ihm leid, weil sie in ihrer Blindheit sich selbst einen Schmerz zufügten, und er suchte nach einer Gebärde, dem irren Spuk ein Ende zu bereiten. Auf einem Grabe sah er einen Kranz von Nelken. Es war die Ruhestätte des alten Feldmarschalls. Johannes wußte es nicht, und wenn er es ahnte, so mochte es ihm in dieser Stunde erscheinen, als gälten die Menschen im Tode alle gleich; es wog nicht viel, wer die Blumen für den anderen gab, wenn nur die Freude auf den Kirchhof zurückkehrte, von dem sie niemals verbannt werden durfte. Der Jüngling nahm den Kranz und legte ihn auf das Grab des ausgestoßenen Mannes. Er blickte auf, und es war, als erwarte er in jedem Augenblick, daß die Freude sich aus ihrem Banne löste, daß sie wie eine Frau am Morgen aus ihrem Hause trete mit aller Frische der durchschlafenen Nacht, daß die Menschen in einen Jubel einstimmten oder still heimgingen – wer konnte wissen, wie es kam? Seine Augen waren weit geöffnet, man sah das Weiße in ihnen schimmern. Wer nahe an ihn herantrat, mochte erkennen, daß seine Lippen leise bebten.

Da traf ihn ein Stein an der Stirne. Johannes bewegte sich nicht, obgleich das Blut sofort über seine Wangen lief. Es war, als sei das Leben in ihm erstorben. Ein 133 zweiter Stein schlug ihm an das Kinn. Der Junge hob den Blick, und wer seine Augen sah, die wie in einem großen Leid erloschen waren, dem mochten die Tränen aufsteigen; doch es sind ja Schmerz und Lust nahe beieinander, und oftmals ist kein Verlangen heftiger, als dem eigenen Herzen wehe zu tun. Als der dritte Stein den Jüngling traf, zog er sich langsam zurück; er ging wie einer, der keine Eile mehr hat, weil es für ihn nichts zu verlieren gibt. Er suchte ein Tuch aus seiner Tasche, doch er führte es nicht an die blutende Stirnwunde, sondern behielt es in der Hand. Johannes hatte den Blick gesenkt, als wollte er nichts mehr sehen. Er verließ aber den Kirchhof nicht, setzte sich vielmehr auf einen Haufen trockener Reiser und legte das Gesicht in die Hände. Es traf ihn noch mancher Stein, und das Blut schimmerte dunkel durch sein Haar. Er saß reglos und schien nichts mehr zu fühlen. Als die Leute von Henna endlich innehielten und ihn aufrichteten, war er tot. Man wußte nicht, ob er an den Steinwürfen gestorben war oder ob der Kummer ihm das Herz gebrochen hatte.

Als sie den Leblosen in ihren Händen hielten, überkam die Menschen der Schmerz mit einer solchen Heftigkeit, daß ihrer viele erschüttert und hemmungslos zu weinen begannen und nicht eher aufhörten, als bis die Kraft sie verließ. Sie suchten den Jüngling mit vielen Worten in das Leben zurückzurufen, doch er blieb ihnen fern, wie er es immer gewesen, und ferner als noch vor einem kurzen Augenblick. Sie trockneten seine Wunden mit ihren Tüchern und legten ihn endlich, da sie sahen, daß er nicht zu ihnen zurückkehrte, auf den Boden nieder. Da war es gerade Mittag, und aus der Stadt klang das Läuten einer Glocke herüber, das kurz und heftig war und sich wie ein Schelten anhörte. Ein Wind hatte sich aufgemacht und trieb feine Schleier eines grauen Staubes dem Meere zu.

134 Am andern Tage wurde Johannes in die Erde gesenkt. Die Leute von Henna, die wiederum in großer Zahl auf den Kirchhof hinausgekommen waren, pflanzten rote Mohnblumen auf sein Grab, die ein Mädchen für ihn auf dem Felde gesucht hatte. Und wie um ihm noch einmal eine Freude zu bereiten, schmückten sie auch das Grab des Ausgestoßenen; sie setzten drei starke, kaum erblühte Eisenhutblumen darauf, die noch lange standhielten, als die anderen Blumen längst verwelkt waren.

Von diesem Tage an, es mochte nun Zufall sein oder sich ein tieferer Sinn dahinter verbergen, nahm die Seuche an Heftigkeit ständig ab. Es sah so aus, als ob sie an den Leuten in Henna keinen Gefallen mehr fand; sie kümmerte sich nicht mehr um sie und verließ endlich ganz die Stadt. Die Menschen kamen aus ihren Häusern hervor, und die Straßen füllten sich wieder. In den Hafen kehrten die Schiffe zurück, und ein freudiges Aufatmen belebte alle Tätigkeit, wie man es nur nach einem großen Elend erfährt.

 


 


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