Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Der Tempel auf dem heiligen Berge

Auf dem Gipfel des Heiligen Berges nahe der Stadt Henna steht ein Bauwerk aus weißem und rotfarbenem Marmorstein, das im Volksmund der Tempel heißt, weil dort Heilige verehrt werden, die in den Kirchen keinen Raum finden: die Geister verstorbener Heerführer, Helden und Sänger, welche im Gedächtnis des Volkes lebendig geblieben waren. Vor gar nicht langer Zeit erhob sich an der gleichen Stätte ein kleines schon zerfallenes Bauwerk, das indessen kaum geringere Verehrung genoß als der prächtige Marmorbau, weil in ihm derselbe Geist der Achtung der Nachgeborenen gegenüber der versunkenen Größe seinen Ausdruck fand. Hierhin wie dorthin brachten die Leute von Henna Blumen, Zweige und kostbare Gaben in großer Zahl. Um diese beiden Bauten rankt sich das seltsame Schicksal zweier Männer, von dem ich auf den folgenden Blättern erzählen will.

Als Olm dreißig Jahre alt war, verließ er seinen Heimatort und begab sich auf den Weg nach Henna, um in der ruhmreichen Stadt der Kaiserin sein Glück als Baumeister zu versuchen. Er hatte keine Eile, denn er meinte, das Glück könne ihm nicht entrinnen. Seine Kunst galt in Henna mehr als andere Künste, und da er darin schon 46 Bedeutendes geleistet hatte, glaubte er, es könne nicht fehlen, daß er das Schicksal nach seinem Wunsche zwang. An einem Morgen sah Olm in der Ferne einen hohen Berg, der wie ein Schatten in dem Dunst der Frühe lag. Auf seine Fragen erwiderten die Leute: Er sei der Stadt der Kaiserin nicht mehr fern. Denn was er vor Augen sähe, sei der Heilige Berg, auf dessen Gipfel ein Tempel zu Ehren der Helden des Volkes stehe.

Olm wanderte den ganzen Tag über bis in die Abendkühle. Den Heiligen Berg behielt er ständig vor Augen. Gegen Mittag hatte sich der Dunst gelichtet und der Berg schien sehr nahe. Deutlich erkannte Olm das Gewirre seiner Felsen und auf der stumpfen Spitze das helle Mauerwerk des Tempels. Der Wanderer trank ein Glas Wein in einer Schenke an der Straße und setzte trotz der Mittagsglut seinen Weg fort. Er eilte. Schweiß trat auf seine Stirn. Die gelben Haare bedeckten sich mit einem Hauche weißen Staubes. Am Abend schien der Berg wieder in die Ferne gerückt. Er war in ein zartes rotes Licht getaucht, als erglühe er aus seinem Inneren. Als es dunkel wurde, legte sich Olm unter einen Schlehdornbusch und schlief sogleich ein. Vor seinen Augen stand das Bild des Heiligen Berges, auf dessen Gipfel sich ein prächtiges Bauwerk aus weißem und rotem Marmor erhob. Um Mitternacht erwachte er, brach auf und wanderte die ganze Nacht hindurch. Zur Zeit der Dämmerung betrat Olm ein Tal, das ihm die Sicht nach allen Seiten verbot. Als er es verließ, war es schon heller Morgen, und er stand am Fuße des Heiligen Berges.

Der Berg schien zu sprechen. Über seine Felsen stürzten unaufhörlich Wasser herab, die in einen weißen Dunst gehüllt waren. Olm warf alle Müdigkeit von sich. Es verlangte ihn, das Marmorbauwerk auf dem Gipfel aus der Nähe zu betrachten. Zu dieser Morgenstunde, so meinte 47 er, müßten die steinernen Säulen von einem kühlen, feuchten Schimmer umkleidet sein, den der steigende Nebel auf ihrem Leib zurückgelassen hatte. Er entdeckte eine Treppe, die in den Fels gehauen war. Nach einer Stunde hatte er die Spitze erreicht.

Vor seinen Augen lag ein kleines zerfallenes Gebäude, das mit einem hellfarbenen Putz beworfen war. Es schien im Sonnenlicht zu träumen. Langbeinige Spinnen liefen über das morsche Gemäuer, und auf der Schwelle lag mit zuckenden Flanken eine Eidechse. Blumen wuchsen in den Fenstern und zitterten in dem leisen Winde. Hast du mich so getäuscht, sprach Olm zu dem kleinen Tempel, daß du mir aus der Ferne als ein prächtiges Bauwerk erschienst? Konntest du deine Mauern im Sonnenlicht so herrlich aufleuchten lassen? Der armselige Tempel schien zu antworten: Ich bin müde, laß mir die Ruhe, in der ich seit vielen hundert Jahren träume. Und wenn ich ein Wunder vollbringe, so mach kein Aufhebens davon, ich tu es seit langen Zeiten und weiß es kaum mehr.

Langsam stieg Olm den Berg hinab und wanderte der Stadt Henna zu. Er fühlte sich sehr müde und hatte nur den einen Wunsch, die staubigen Kleider vom Leibe zu werfen und sich zur Ruhe zu legen. In einem kleinen Hause, das noch auf freiem Felde lag, fand er ein Zimmer. Hier schlief er bis zum Abend. Als die Sonne zu sinken begann, machte er sich auf den Weg in die Stadt. Im letzten Abendschein sah er die Bauten, von deren Ruhm die Welt voll ist. Es heißt, daß sie niemals schöner seien als zu dieser Stunde. Doch diese Schönheit berührte ihn nicht, es war, als gingen sie ihn nichts an. Er wanderte nach seinem Hause zurück und begab sich zur Ruhe. Bald sank er in Schlaf. Als er erwachte, waren eine Nacht, ein Tag und wieder eine Nacht vergangen.

Die Morgensonne schien hell in sein Zimmer. Es war ihm 48 schwer, sich darin zurecht zu finden. Er hatte vergessen, daß er sich in Henna befand. Keiner Straße und keines Bauwerkes konnte er sich entsinnen. Nur der Heilige Berg stand klar vor seinen Augen. Als Olm das Fenster öffnete, sah er ihn nahe vor sich liegen; ja, er meinte, seine Wasser rauschen zu hören. Viele Menschen zogen an dem Hause vorüber, Eseltreiber, Kärrner, Wandersleute und Gemüsefrauen mit großen Körben auf dem Rücken. Es sah aus, als wallfahrten sie alle zu dem Heiligen Berge. Olm konnte sich an dem Bilde nicht satt sehen.

Am Nachmittag begab er sich selbst auf den Weg. Er wanderte in dem hellen Staub der Straße und blickte rings auf das weite, reife Land. Als er die Augen hob, sah er, von der Sonne des Nachmittags beschienen, das Gemäuer des kleinen Tempels mit einer wunderbaren Kraft durch den Dunst, der den Gipfel umgab, zu ihm herabstrahlen. Wie gebannt blieb er stehen. Er glaubte wieder, ein Marmor-Bauwerk zu erkennen, dessen Stein sich hell und kalt gegen den Himmel abzeichnete, weithin leuchtend, wie er es in seinen Träumen erblickt hatte. Olm merkte nicht, daß er mitten auf der Straße stand, die Kärrner mußten um seinetwillen in den Staub lenken, die Eseltreiber schimpften, und ein Obstweib warf einen Apfel nach ihm.

Er spürte den Schmerz an der Stirn und erwachte aus seinem Traume. Zornig hob er den Apfel auf, doch dann sprach er zu sich: Es war gut so. Die Träume taugen zu nichts. Ich will mich nach einem tüchtigen Werke umschauen.

Als er fortgehen wollte, trat ein alter Mann, der ein wenig gebückt ging, an ihn heran und fragte, was er dort oben gesehen habe, daß er die Welt um sich her vergessen konnte.

Eure Augen werden es nicht sehen, erwiderte Olm, ein 49 Bauwerk von großer Schönheit, aus hartem und hellem Marmor errichtet, mit roten Steinen verziert, ein Tempel, größer und prächtiger als das armselige Haus, das dort auf der Höhe steht, würdig eines ruhmreichen Volkes und der Stadt Henna. Ich sehe den Heiligen Berg am Morgen in Nebel gehüllt, das Gemäuer des Bauwerkes aber mit herrischer Gewalt den Dunst durchstrahlen und vor aller Augen den herrlichen Glanz offenbaren, der in seinem Steine wohnt! Doch wozu spreche ich, da eure Blicke dies alles nicht erkennen können?

Sie sehen es wohl, erwiderte der Fremde mit einer heiseren Stimme. Die Augen leuchteten, auf dem Antlitz war eine flammende Röte erwacht, seine Hände zuckten, die großen Lippen bewegten sich leise, es war, als glühe ein Feuer in dem Manne. Mit einer jähen Bewegung wandte er sich an Olm und fragte: Seid ihr ein Baumeister? Wollt ihr den Tempel errichten?

Olm stieg das Blut in die Wangen. Meinen Beruf habt ihr erraten, sagte er, doch das Werk bleibt einem Größeren vorbehalten. Der Fremde maß ihn mit einem lauernden Blick. Ihr wollt es einem anderen überlassen?, fragte er. Gemeinsam traten sie den Heimweg an. Alle Menschen, die vorübergingen, grüßten den Alten, doch er erwiderte nicht immer ihren Gruß, manchmal blickte er zur Seite und murmelte vor sich hin. Er zerbrach einen Stock, den er in den Händen trug, ohne offenkundigen Grund. Trotz seines hohen Alters schien er über große körperliche Kräfte zu verfügen. Er fragte Olm nach seiner Heimat, was er gelernt und geleistet habe, er wollte alles wissen, und doch schien es, als höre er nicht zu, als habe er sich längst ein Bild gemacht, das er nur bestätigt wissen wollte. An einer Wegkreuzung nahm der Fremde Abschied.

Als er fortgegangen war, schämte sich Olm, er wußte nicht weshalb. Schließlich meinte er, es sei, weil er seinen 50 Wunsch, den Tempel zu erbauen, vor dem Fremden verleugnet hatte. Es war ihm dieser Wunsch erst auf die Frage des alten Mannes hin bewußt geworden, doch nun glaubte er, daß er ihn immer gespürt habe und eigens deshalb nach Henna gekommen sei. Olm blieb stehen, brach einen Zweig vom Baume, und begann, in den Staub der Straße Figuren zu zeichnen. Er schüttelte den Kopf, löschte sie mit dem Fuße wieder aus und fing von vorn an. Dann ging er ein Stück weiter, stand wieder still und begann sein Werk von neuem. Er sprach laut vor sich hin. Die Leute, die vorüberzogen, wandten sich um und lachten über ihn. Er hörte es nicht. Nahe bei seinem Hause ließ er sich auf einem Stein nieder und sah nachdenklich vor sich hin in den Sand. Erst als es dunkel wurde und er zu frieren begann, ging er in sein Zimmer, nahm Feder und Papier und fuhr fort, den Aufriß des Bauwerkes zu zeichnen.

Um die gleiche Stunde saß der Fremde in seiner Werkstatt und füllte Blatt für Blatt mit Figuren und Zahlen. Seine Hände waren hornig und zerrissen, in ihren Rillen hatte sich ein weißer Staub festgesetzt, die Nägel zeigten eine gelbliche Farbe und waren zerbrochen. Der alte Mann schaffte mit einer emsigen Ruhe, seine Arbeit wies nicht die gleiche Sorgfalt auf wie die Olms; die Figuren entstanden wie Gewächse unter seinen Fingern, eine jede Linie besaß Fleisch und Blut. Die Feder kratzte und sprühte Tinte über das Papier. Es war, als seien die Zeichnungen in den Blättern verborgen gewesen und würden nun von dem Alten ans Licht gebracht. Die Zeichen, die er an den Rand schrieb, schienen nur bestimmt, Erinnerungen wachzurufen, sie deuteten auf den unendlichen Schatz eines langen und arbeitsreichen Lebens. Gegen Morgen löschte der Fremde das Licht und begab sich zur Ruhe.

51 In der Nacht sah Olm im Traume den Gipfel des Heiligen Berges verwandelt in ein Feld von Gerüsten und Steintrümmern. In deren Mitte stand er selbst und befehligte ein Heer von Arbeitern. Der Wind trieb ihm den Kragen seines Hemdes ins Gesicht und nahm die Worte von seinem Munde mit sich fort. Neugierige aus aller Herren Länder sahen dem munteren Treiben zu. Marmorblöcke wurden mit Winden und Seilen heraufgezogen. Am Rande des Berges aber stand der Fremde und ließ kein Auge von der Baustätte.

Am folgenden Tage brach Olm frühzeitig auf. Er hatte vor, in die Dalanatischen Berge zu reisen und den Stein zu suchen, den er in seinen Gedanken sah. Es war ein heller Marmor von großer Härte und Kälte, der das Licht von seinem Leibe zurückwies und es um so klarer widerstrahlte.

Es wurde eine beschwerliche Fahrt. Tagelang irrte Olm durch die Einsamkeit des Gebirges, mit nichts als einer Flasche voll Branntwein und einem Beutel, in dem er Brot und Früchte trug. Jeden Stein, den er fand, verwarf er, es war nicht der richtige. Einmal wurde er von einer gelbgefleckten Schlange gebissen, die in einem Geröllfeld in der Sonne ruhte. Olm hatte große Furcht, daß er sterben müsse, ehe er den Tempel auf dem Heiligen Berge errichtet habe. Er brannte die Wunde aus und leerte seine Flasche mit einem Zug. Die Gefahr ging vorüber. Am Abend darauf kam ihm der Gedanke, wie er einen Giebel des Bauwerkes ausführen wollte, er hatte aber nichts, um seinen Gedanken festzuhalten. Da hob er aus einem Bachbett einen glatten Stein von dunkler Farbe auf und zeichnete auf ihn mit der Schärfe eines anderen. Diesen Stein führte er fortan immer mit sich, obgleich er schwer zu tragen war. Am sechsten Tage kam er in ein hochgelegenes Tal, das von hell getönten Felsen umgeben war. Er 52 stieg empor, bis er Gestein unter seinen Füßen fühlte, und als er an die Felsen kam und den Marmor sah, der darin eingebettet war, hatte er gefunden, was er suchte: einen hellen, harten, geschlossenen Stein von makelloser Reinheit. Er jauchzte laut auf, nahm einen Splitter des Steins in den Mund und biß darauf, um sich zu vergewissern, daß dies Wirklichkeit war. Aus dem Tale drang der ferne Ton einer Schalmei herauf. In großer Tiefe sah Olm eine Herde Schafe über eine schattige Halde ziehen. Der scharfe, würzige Geruch von Kräutern sponn ihn ein und hielt ihn still unter der Macht der Sonne. Er faltete die Hände und bat um Segen für sein Werk.

Da hörte er Schritte und sah einen Mann über das Geröllfeld heraufsteigen, der den Blick gesenkt hielt und hier und dort einen Stein vom Boden aufnahm, ihn betrachtete und wieder fortwarf. Als er einmal aufblickte, erkannte Olm den Fremden, der ihn am Fuße des Heiligen Berges angesprochen hatte. Der alte Mann erschrak, er blieb stehen und musterte Olm mit einem mißtrauischen Blick. Endlich kam er auf ihn zu und fragte: Was sucht ihr hier? Olm hob eine Hand voll Steinsplitter vom Boden auf und hielt sie dem Fremden entgegen. Der achtete nicht auf diese Geste, ging an ihm vorüber und zog einen kleinen Hammer aus der Tasche, mit dem er an den Stein schlug. Es ist der richtige, murmelte er, diesen habe ich gesucht und keinen anderen. Er ist fest und wird der Witterung standhalten. Der farblose Marmor taugt sonst nicht für unsere Bauwerke, er ist weich und durchschimmernd. Er hält die Jahrhunderte nicht aus. Aber diesen Stein kann ich gebrauchen. Er muß in ganzen Blöcken aus dem Fels gesägt werden. Wehe, wenn sie ihn herauszusprengen versuchen! Ich leide es nicht. Der alte Mann wandte sich plötzlich um und fragte: Wie seid ihr hierher gekommen? Olm schilderte seinen langen 53 und mühsamen Weg durch die Einsamkeit des Gebirges. Ihr seid ein Tor, sagte der Fremde. Die Straße führt vom Meere herauf. Wie sollte sonst wohl der Marmor nach Henna geschafft werden? Der alte Mann ließ sich am Boden nieder und packte seine Tasche aus, um zu essen. Er tat, als sei er allein, und bot dem Anderen nichts an. Er schnitt dünne Scheiben von dem Laib eines Maisbrotes, strich aus einer gläsernen Büchse Butter darauf und streute endlich Salz. Nach einer Weile hob er den Kopf, lächelte unbeholfen und sagte: Aber setzt euch doch zu mir, ihr werdet Hunger haben, nehmt euch, was ihr braucht! Während sie aßen, betrachtete Olm den Fremden. Er sah ihn lange an und dachte: An seinem Gesicht sind nur die Augen schön. Da blickte der alte Mann auf und fragte: Wollt ihr das Bauwerk auf dem Heiligen Berge errichten? Vermögt ihr das schon? Er schwieg eine Weile, dann sprach er: Die Sehnsucht ist zu wenig, nur die Qual schafft ein großes Werk. Ein jeder Stein trägt sie in sich, er ist voll damit bis zum Bersten, er stöhnt und seufzt unter großen Schmerzen. Und doch ist das Bauwerk mehr als das Leid. Olm erwiderte: Alles erwächst aus einem Überfluß, der sich aufzehrt mit dem Werk. Der Alte unterbrach ihn heftig: Es hat Fleisch und Blut, es spricht zu uns, wir sind es selbst in einer anderen Gestalt. Was wißt ihr denn, wenn ihr das nicht erfahren habt? Er stand auf und wollte fortgehen. Zornig fragte ihn Olm: Wer seid ihr, daß ihr so zu mir sprecht? Der Fremde entgegnete: Fragt die Leute von Henna! Ein jedes Kind weiß, wer ich bin. Er tat ein paar Schritte den Berg hinab, dann wandte er sich um und sprach: Habt ihr schon einmal von dem Baumeister Marius gehört, von dem Maler und Bildhauer? Ohne Abschied stieg der alte Mann in das Tal nieder. Häufig stieß er mit den Füßen an einen Stein. Er sah so aus, als täte er das absichtlich. 54 Lange noch klang das harte Geräusch in die Höhe hinauf. Dann wurde es still. Das also war Marius, sprach Olm zu sich, der Mann, dessen Ruhm in aller Munde ist.

Nach manchen Tagen einer mühseligen »Wanderung langte Olm an einem Abend in seinem Hause in Henna an. Trotz seiner Müdigkeit konnte er wenig schlafen. Er grübelte, wie er von der Kaiserin den Auftrag erhalten könnte, ein Gedanke, der ihn erst in dieser Stunde befallen hatte.

Schon im Morgengrauen stand er auf, nahm sein Handwerkszeug hervor und begann zu zeichnen. Auf dem Wege waren ihm mancherlei Gedanken gekommen, denen er nun Maß und Genauigkeit gab. Der flache, schwarze Stein lag vor ihm auf dem Tisch. Olm geriet in eine hellsichtige Trunkenheit, darin er alles um sich her vergaß und nur seinem Werke hingegeben war. Die Stunden verrannen. Als er aufblickte, war es Nachmittag, und da er noch nichts gegessen hatte, nahm er das trockene Brot und roten Wein aus einer Flasche. Dann begab er sich – noch kauend – von neuem ans Werk und arbeitete bis in die Nacht hinein. Er legte sich in Kleidern zu Bett, wie um keinen Augenblick zu versäumen. Nach einem traumlosen Schlaf befand er sich am frühen Morgen wiederum an der Arbeit. Das Werk ging ihm leicht von der Hand; es war, als habe er, wie er den Stein in den Fingern fühlte, die ganze Wirklichkeit des marmornen Tempels empfangen und brauche nur noch nachzuzeichnen, was seine Augen längst geschaut und seine Hände berührt hatten. Am Nachmittag ging er hinaus und stieg auf die Höhe des Heiligen Berges. Er wollte Messungen vornehmen und die Beschaffenheit des Felsgesteins erkunden. Im Anblick des Ortes, an welchem der Tempel entstehen sollte, wuchs die Klarheit der Vorstellung, die er von der Gestalt des Bauwerks in seinem Herzen trug, und eine große 55 Sicherheit kam über ihn. Von diesem Tage an teilte er das Feld seiner Arbeit zwischen der Stube und dem Gipfel des Heiligen Berges, er war bald hier und bald dort und wurde von seiner Sehnsucht zu einem trunkenen, atemlosen Schaffen fortgerissen. Endlich, als ein Monat vergangen war, legte er an einem Mittag sein Werkzeug aus der Hand und sprach: Es ist getan, doch ich habe es nicht aus eigener Kraft vermocht; wie in einem Traume ist es über mich gekommen!

Eines Abends trat Marius bei ihm ein und sagte: Zeigt mir eure Pläne! Olm wies den alten Meister in einen bequemen Stuhl, schob ihm ein Kissen unter und goß ihm eine Tasse kalten Tees ein. Dann gab er ihm die Zeichnungen in die Hand. Sie waren in einer Mappe geborgen, die mit roter Schnur verschlossen war. Die Hände des Alten zitterten. Er knüpfte an der Schnur herum, schließlich zerriß er sie und schlug die Mappe auf. Marius zog Blatt für Blatt hervor, anfangs sah er nur flüchtig darauf, dann betrachtete er sie länger. Es war sehr still im Zimmer. Olm stand in einem Winkel und ließ kein Auge von dem Meister. Seine Lippen bebten. Der Alte hatte sich im Stuhle vorgebeugt, der Tee stand unberührt, Marius starrte auf die Blätter, aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, seine Augen zeigten einen flackernden Glanz. Plötzlich sprang er auf und warf die Mappe zu Boden. Mit keuchendem Atem stand er vor Olm. Seine Hände zuckten, als wollte er zuschlagen. Dann wandte er sich jäh um und eilte hinaus. Olm hielt ihn am Mantel fest. Taugt meine Arbeit etwas?, fragte er beklommen. Marius starrte ihn mit funkelnden Augen an. Wißt ihr es nicht selbst?, rief er. Soll ich es euch ins Gesicht schreien, daß die Arbeit etwas taugt? Mit einem Jubelruf wollte Olm den Alten umfassen. Doch dieser stieß ihn zurück und verließ das 56 Zimmer. So ist er, dachte Olm, man muß ihn fürchten und zugleich lieben.

Am folgenden Tage ging Olm am Nachmittag, um einen Fisch zu kaufen, auf den Fischmarkt von Henna. Es war Donnerstag. Olm sah allen Leuten, denen er begegnete, lachend ins Gesicht und begrüßte sie wie alte, vertraute Freunde. Niemand schüttelte den Kopf über ihn, denn auf dem Fischmarkt gehören sie alle zusammen, und einer ist des anderen Bruder. Stundenlang wandelte Olm zwischen den Ständen umher und sog den Dunst des Marktes, den Geruch von Salz und Fischen und dem Schweiße der Menschen in seine Nase. Aus seinem Rocke sahen die Pläne hervor, die er zusammengerollt hatte und immer mit sich trug. Olm kaufte hier und dort, wohin seine Freude ihn trieb, einen Fisch oder zwei, am Ende hatte er ihrer siebzehn beisammen und verschenkte sie an Arme und Reiche, welchen er gerade begegnete.

Da erblickte er nicht weit von sich den Kanzler von Henna, den viel Volks umgab, Männer, Frauen und Kinder. Die einen trugen ihre Bitten vor, die anderen brachten ihm Blumen; viele wollten den Kanzler auch nur aus der Nähe sehen. In dem Übermaß an Freude, die sein Herz bewegte, vergaß Olm alle Scheu. Solche Gelegenheit kommt nicht zweimal, dachte er. Als die Leute sich zum Teil schon verlaufen hatten, trat er an den Kanzler heran, nannte seinen Namen und erzählte mit vielen Worten, was er vorhatte. Zuletzt bat er um die Gunst, dem Kanzler die Pläne überreichen zu dürfen. Dieser sah ihn lange schweigend an, es war, als prüfe er, was von ihm übrig bleibe, wenn der Überschwang des Augenblickes dahin sei; sein Blick war kalt, er drang Olm bis in das Herz. Endlich erwachte ein Lächeln auf den Zügen des Kanzlers, und er sagte: Es wird einmal die Zeit kommen, in der wir daran denken 59 müssen, ein neues Bauwerk auf dem Heiligen Berge zu errichten. Gebt mir eure Pläne, daß ich sie ansehen kann. Als Olm ein Wort des Dankes sprechen wollte, trat eine Frau an den Kanzler heran und begann eine Bitte vorzubringen.

Zwei Tage später drang um die Mittagsstunde Marius bei ihm ein. Er blieb in der Tür stehen und rief: Zieht euch an und folgt mir! Olm warf einen Mantel über und eilte hinaus. Marius lief vor ihm her. Er hielt ein weißes Tuch in der Hand, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Der Weg führte nach Henna hinein. Marius zeigte auf alle Bauten, die er errichtet hatte, und rief: Seht sie euch an, prägt sie euch gut ein, nehmt ihr Bild in euer Herz auf und bewahrt es wohl! Olm aber hatte keine Augen für die steinernen Zeugen des alten Meisters, er sah nur sein eigenes Bauwerk, den marmornen Tempel auf dem Heiligen Berge. Betrachtet diesen Torbogen, rief Marius, ihr werdet ihn auf der Welt nicht ein zweites Mal finden! Der Alte lief weiter. Olm sah, daß er hinkte. Vor Jahren war ihm ein Marmorblock auf den Fuß gefallen. Sein Ohr war verstümmelt. Ein eifersüchtiger Maler hatte ein Messer nach ihm geworfen. Marius blieb stehen und schloß eine Tür auf. Folgt mir in meine Werkstatt, sagte er. Hier standen Figuren in großer Zahl umher, kraftvolle, doch unglückliche Gestalten aus Marmor und Granit, die wie unter einer übermächtigen Last zu seufzen schienen. Von den Wänden blickten Fresken herab, teils angefangen und nur zu einem Teil vollendet, mächtige Bilder in blassen Farben. Auf den Tischen und am Boden lagen Zeichnungen umher, auf den Regalen standen Tonfiguren, von denen manche schon trocken und rissig geworden waren.

Marius wies mit der Hand im Kreise und sagte: Seht 60 ihr nun ein, daß nicht ihr, sondern ich das erste Anrecht darauf habe, den Tempel auf dem Heiligen Berge zu erbauen? Olm sah den Alten fassungslos an. Er griff sich mit der Hand an die Stirn und sprach: Ich hätte längst erkennen sollen, daß dies eure Absicht war. Ihr habt es mir oft genug gezeigt. Ich bin wie ein Blinder gewesen! Über das Gesicht des alten Mannes huschte ein Lächeln, wie es immer auftrat, wenn er glaubte, einen Sieg errungen zu haben. Er trat auf Olm zu und streichelte mit einer unbeholfenen Bewegung dessen Kopf. Wollt ihr mein Geselle sein?, fragte er. Kommt zu mir und helft, das Bauwerk zu errichten! Marius hob sich auf die Zehenspitzen und brachte seinen Mund an Olms Ohr: Ich habe neue Erkenntnisse gewonnen, flüsterte er. »Wie Schuppen ist es mir von den Augen gefallen. Alles, was ich bisher geschaffen habe, war unvollkommen. Nun hat sich mir ein weites, neues Reich erschlossen, jetzt erst weiß ich, was es heißt, ein Bauwerk aufzuführen. Wollt ihr mein Geselle und mir gehorsam sein? Olm schüttelte den Kopf. Das Bild, sagte er, das ich im Herzen trage, ist schon zu deutlich geworden, als daß ich euren Worten folgen könnte. Marius legte seine Hände auf die Schultern Olms: Im Alter öffnen sich neue Türen vor uns, wir sehen, was wir uns niemals hätten träumen lassen, alles ist ganz anders, als wir es uns vorgestellt. Über weiten Feldern liegt ein tiefer Frieden, und noch von den stummen Dingen hört ihr Musik. Die letzte Einfalt bedeutet die höchste Vielfalt. Aber die Zeit ist kurz, wir erhaschen nicht mehr viel, dann schließen wir die Augen. Ich will euch einen Blick in dieses Reich werfen lassen. Werdet mein Geselle und tut, was ich euch sage. Olm erwiderte: Ich will nicht unter der Herrschaft eines Fremden stehen. Marius sah ihn mißtrauisch an, alle Freundlichkeit war aus seinem Blick gewichen, 61 er faßte Olm an den Aufschlägen seines Mantels und rief: So versprecht mir, daß ihr eure Zeichnungen verbrennen und mir den Vortritt lassen werdet! Olm lachte und sprach: Die Pläne befinden sich in den Händen des Kanzlers. Ich werde sie nicht zurückfordern, werde mir mein Werk von euch nicht rauben lassen, es gehört mir und nicht euch. Marius war in einen Stuhl gesunken und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ich bin ein alter Mann, stöhnte er, und habe meine Kräfte im Dienst für diese Stadt aufgezehrt, ich habe ihr alles gegeben, was ich besaß, sie hat es niemals gutwillig genommen, ich habe es ihr aufzwingen müssen, nun soll ich auch um das Letzte kämpfen, was ich ihr noch schenken kann. Olm beugte sich zu dem Alten herab und sprach: Was ist für euch verloren? Noch habe ich den Auftrag von der Kaiserin nicht erhalten. Marius sprang auf. Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, seine Hände zitterten. Hinaus mit euch, schrie er. Ihr seid mein Feind! Ich kann euren Anblick nicht länger ertragen! Hütet euch, ihr werdet keine Ruhe vor mir finden! Olm wandte sich um und verließ mit großen Schritten die Werkstatt des Meisters.

Eines Tages ließ der Kanzler ihn zu sich in sein Haus rufen. Als Olm eintrat, stand er am offenen Fenster, hatte eine Hand schützend über die Augen gelegt und sah hinaus auf den Heiligen Berg. Es schien, als summte er ein Lied vor sich hin. Wie anders sieht er aus, dachte Olm, als an dem Tage, da er auf dem Fischmarkt mit mir sprach! Damals war er mir fern, heute ist er nahe. Ich könnte ihn wie einen Freund begrüßen, wenn sein graues Haar und der unwägbare Schimmer in seinen Augen mich nicht zurückhielten. Der Kanzler wandte den Kopf, lachte und lud Olm mit einer Handbewegung neben sich an das Fenster. Euer Plan hat mir 62 gefallen, sagte er, ich glaube, er wird einmal Wirklichkeit werden, wenn auch erst nach einer langen Zeit. Er könne, rief Olm, mit der Arbeit sogleich beginnen, besser heute als morgen, er habe alles vorbereitet, sich kaum den Schlaf und selten einen Bissen gegönnt, nun habe der Traum Gestalt gewonnen, und dränge danach, Wirklichkeit zu werden. Die Augen des Baumeisters leuchteten wie ein weißes Feuer. Der Kanzler legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte mit einer ruhigen Stimme: Auf dem Berge steht ein alter, baufälliger Tempel, der dem Volke von Henna heilig ist. Niemand darf Hand an ihn legen, bevor er von selbst zerfällt. Dann ist es Zeit für euer Bauwerk, doch nicht eher. Es kann zehn, es kann zwanzig Jahre währen, vielleicht auch länger, wer will das voraussehen?

Olm hob seine Hände zum Kopf. Zehn Jahre, fragte er mit einer dumpfen Stimme. Ich werde zehn Jahre nicht warten können, ich weiß, daß ich das nicht vermag. Ich würde zerspringen wie ein wasserloses Gefäß, unter dem ein Feuer glüht. Zwanzig Jahre, vielleicht auch mehr? Ich müßte ein Narr darüber werden. Wißt ihr, wie die Welt um uns in zehn Jahren aussieht? Jeder Tag hat ein anderes Gesicht, wir würden sie nicht wiedererkennen. Es ist mir, als müßte ich für lange Zeit in den Kerker gehen.

Der Kanzler sprach: Ich habe der Kaiserin von euch erzählt. Sie hat Freude an euren Plänen gefunden und will sie für spätere Zeiten aufheben. Bis dahin hat sie andere Aufgaben für euch.

Olm schüttelte den Kopf. Er könne sie nicht erfüllen, sagte er, die Bauten würden müde und kalt aussehen, weil er keine Freude an ihnen empfände. Als er so gesprochen hatte, gab ihm der Kanzler ein Zeichen, daß er gehen möge.

63 Kaum aber hatte Olm das Haus verlassen und war auf die Straße herausgetreten, die still im Schein der Abendsonne, lag, da wich die Bedrückung von ihm und gab einer neuen Hoffnung Raum, als könne das Glück sich ihm auf die Dauer nicht entziehen und würde bald zu ihm zurückkehren. Olm ließ die Vorstadt, in der das Haus des Kanzlers gelegen war, hinter sich und wanderte über das Feld, einen ebenen Weg entlang, auf Henna zu. Die Luft atmete Kühle und eine tiefe Stille. Die Glocken auf dem Turme über dem Fischmarkt begannen zu läuten. Olm setzte sich auf ein Gatter am Wege und blickte über das weite, sommerliche Land, über dem der Glanz des Abends ruhte. Ringsum waren Gärten angelegt, das rote Sonnenlicht glühte dumpf in den Bechern der Rhabarberblätter und über den Bächen, die zwischen dem niederen Blätterdickicht rannen, tanzten und spielten Schwärme von Mücken. Die Glocken des Fischmarktes hörten auf zu läuten. Eine Rinderherde wurde vorübergetrieben. Der Staub stieg hoch auf und versperrte die Sicht. Olm fühlte sich eingehüllt in das leise, klanglose Getön der Schellen und den warmen Geruch, der von den Tieren drang. Er sagte: Ich will zu Marius gehen und ihm alles erzählen.

Marius stand in seiner Werkstatt auf einer Leiter und malte mit blassen Farben das Bild eines Fahnenträgers an die Wand. Als er die Tür gehen hörte und Olm erblickte, stieg er herab. Habt ihr mir etwas zu berichten?, fragte er. Deshalb bin ich zu euch gekommen, entgegnete Olm und erzählte von seinem Besuch in dem Hause des Kanzlers. Marius hörte ihn ungeduldig an, seine Brauen zuckten, er hinkte auf ihn zu und schrie: Wißt ihr, was das bedeutet? Daß nicht ich, sondern ihr den Auftrag erhaltet! In zehn, in zwanzig Jahren, da steht ihr in der Fülle eurer Kraft, ich aber liege unter 64 der Erde, und die Leute von Henna legen Blumen auf mein Grab. Ich bin nahezu siebzig Jahre, wie soll ich ein Bauwerk vollenden, das ich erst in zwanzig Jahren beginnen darf? Ich habe es gleich gewußt, als ich euer Pläne sah, daß sie Wirklichkeit werden würden. Dafür habe ich euch gehaßt, ich hasse euch, ich hasse euch wie den Tod. Ihr wollt mein letztes Werk stehlen! Er ergriff einen Hammer und sprang auf Olm zu. Dieser glaubte, es sei nur eine Geste, mit der der leidenschaftliche Greis seinem Zorn Ausdruck geben wollte. Dann aber sah er, daß dessen Gesicht dunkel glühte und die Adern an der Stirn geschwollen waren; er fiel Marius in den Arm und hielt ihn fest. Es wurde ein harter Kampf. Schließlich gelang es Olm, Marius den Hammer zu entwinden. Er warf ihn in eine Ecke und sah den Alten traurig an. Marius stand jetzt unbeweglich und weinte. Es war Olm, als weinte ein Steinbild und da er sich fürchtete, ging er hinaus.

Am folgenden Tage war es kalt und es regnete. Olm ging in die Stadt, um eine Arbeit zu suchen. Ein Mann, der mit Häuten und Fellen handelte, gab ihm den Auftrag, einen Lagerschuppen im Hafen von Henna zu errichten. Er sollte nicht groß und mit den einfachsten Mitteln erbaut werden. Es ist gut, dachte Olm, er wird mir nichts von meiner Sehnsucht nehmen, die Hände werden rein bleiben und alle Gedanken unverbraucht.

An einem Abend, als Olm von der Arbeit zurückkehrte, sah er am Fischmarkt eine Frau auf den Stufen der Kirche sitzen, die einen Korb voll Nelken vor sich stehen hatte und mit lauter Stimme rief: Blumen, frische Blumen! Kauft sie, bringt sie allen, die Kummer und Schmerzen haben! Blumen sind ein Zeichen der Liebe. Olm trat heran, er war sich noch unschlüssig und tat, als wolle er der Frau nur zuschauen; dann aber griff er 65 in seine Börse und erstand ein Bund weißer Nelken. Er nahm es in die Hand und ging damit fort. An einer Ecke blieb er stehen und wartete, er blickte unruhig um sich, endlich winkte er einen Gassenbuben heran, gab ihm ein Geldstück und sagte: Bringe diese Blumen in die Werkstatt des alten Marius, sage aber nicht, wer sie geschickt hat!

Als eine Woche später Olm in der Nacht an dem Hause des Meisters vorüberkam, blieb er stehen und sah durch das Fenster. Marius saß an einem Tisch, er trug nichts am Leibe als eine Hose und ein offenes Hemd, vor ihm standen in einer Vase aus Glas die Nelken, die Olm ihm hatte bringen lassen. Sie waren in der langen Zeit verwelkt und unansehnlich geworden. Der alte Mann senkte den Kopf und roch an den Blumen, als könnten sie noch irgendeinen Duft ausströmen. Mit einer zärtlichen Bewegung nahm er das Gefäß in die Hand, hob es empor und ließ die braun gewordenen Blütenblätter über seinen Mund und seine Nase streichen. Für einen Augenblick spürte Olm den Wunsch, die Tür zu öffnen und einzutreten. Marius sprang plötzlich auf, setzte die Vase auf den Tisch und wanderte ruhelos in der Werkstatt umher. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und warf einen Blick in das Gewirr von Plänen, die auf dem Boden lagen. Endlich sank er in einen Stuhl und starrte vor sich hin. Olm wandte sich ab und ging in die Nacht hinaus.

Im darauffolgenden Sommer beendete Olm die Arbeit an dem Lagerhaus. Die alte Glut in ihm flammte wieder auf, und bald war er von der gleichen brennenden Sehnsucht verzehrt wie im Jahre zuvor.

Der Fellhändler hatte Gefallen an seinem Baumeister und an der kühlen, sachgemäßen Art gefunden, mit der dieser bei allen Dingen zu Werke ging. Er trug ihm den 66 Bau eines Landhauses unweit der Küste an. Olm schüttelte den Kopf. Von diesem Tag an ging er müßig.

Er stand spät auf und wanderte ziellos in der Stadt umher, von der Hoffnung getrieben, einen Ausweg zu finden. Seine Augen zeigten einen fiebrigen Glanz. Manchmal trachtete er, im Weine Vergessenheit zu finden, doch das Getränk machte seine Sehnsucht nur heftiger und ungebärdiger. Es durchglühte sie wie mit einem feurigen Strome. Dann rief er laut und hob die Arme und tat, als befände er sich mitten im Werk auf dem Heiligen Berge. Aber er hatte keine Freude daran, er wußte noch in seiner Trunkenheit, daß es nicht Wirklichkeit war und fühlte sich unzufriedener als zuvor. An jedem Morgen, wenn er aus dem Schlaf erwachte, stieß er die Fenster auf und sah hinaus auf den Berg, ob er den Tempel noch auf seiner Höhe erblickte, denn er hoffte von Tag zu Tag, die Götter möchten ihn haben zerfallen lassen. Bald genügte ihm der Anblick aus der Ferne nicht mehr, er stieg hinauf und sah zu, wie das morsche Mauerwerk unter der Sonne zerglühte. Manchmal fiel ein Stück des hellen Bewurfes herab, dann jubelte er und versank gleich darauf in eine dumpfe Bedrückung, denn was galt dies vor seiner Sehnsucht, die ihr Werk beginnen wollte?

Als er sich eines Tages wieder allein auf dem Gipfel des Heiligen Berges fand, fiel sein Blick auf eine eckige Säule, von der der Putz abgefallen war, so daß das blanke Mauerwerk freilag. In halber Höhe fehlte ein Stein. Olm trat hastig heran und legte seine Hand in die Wunde. Das Gemäuer fühlte sich warm an; eine große Spinne kroch über seine Finger. Er faßte mit beiden Händen den darunter liegenden Stein und zog ihn heraus. Der Geruch des Kalkes drang in seine Nase. Olm verbarg den Stein unter seinem Rock und trug ihn 67 fort. Später warf er ihn neben die Straße, die nach Henna führte, in einen trockenen Graben. Es ist nicht genug, flüsterte er, ich muß noch einmal hinauf und wohl noch viele Male.

Seither brach er Tag für Tag, wenn er allein auf dem Gipfel war, einen Stein aus dem Gemäuer des kleinen Tempels und warf ihn fort. In der ersten Zeit fühlte er eine Beschämung darüber, daß er wie ein Dieb zu Werke ging, dann aber riß sein Drang ihn fort, und er scheute sich nicht mehr. Ja, er konnte, wenn er die fortgeworfenen Steine im Felde liegen sah, lächeln, wie ein Mensch tut, der etwas weiß, was anderen verborgen ist. An einem Tage im Juli wurde Olm zum Kanzler gerufen. Dieser empfing ihn im Präfektenhause und sagte: Der Tempel auf dem Heiligen Berge hat Schaden erlitten. Ich möchte, daß eure Hände rein bleiben. Wer ein Heiligtum des Volkes zerstört, gilt den Leuten von Henna als ein Verbrecher.

Leise erwiderte Olm: Ich kann nicht warten. Ich habe Furcht vor der Gewalt, die mir die Zeit antut. Jedes Werk hat seine Stunde, in der es getan werden muß. Später ist alles verloren.

Der Kanzler sah ihn schweigend an. Olm wich einen Schritt zurück. Er scheute sich vor dem Blick, der ihn traf. Der Kanzler sagte: Marius war gestern bei mir. Er brachte die gleiche Bitte vor wie ihr. Er wußte von euch, aber meinte, für ihn gelte eine Ausnahme. Ich habe seinen Wunsch nicht erfüllen können. Er war zuerst wie von Sinnen. Später faßte er sich. Ist sein Leid nicht um vieles größer und schwerer zu tragen als das eure?

Auf diese Worte hin senkte Olm den Kopf und wußte nichts mehr zu erwidern. Der Kanzler entließ ihn ohne Gruß.

68 Eines Nachmittags wanderte Marius zum Meer hinaus, um an der Kühle des Wassers Erfrischung zu finden. Die Sonne stach heiß wie an Tagen, an denen es ein Gewitter geben wird. Die Luft war voller Dunst und dennoch lag alles nahe vor Augen. Die See schien schläfrig, sie zeigte eine tückische Farbe. Fliegen umsummten den einsamen Wanderer und setzten sich auf ihm fest. Ein feuchter Schimmer umgab seine Stirn. Es war sehr still. Marius ließ sich auf ein umgekipptes Fischerboot nieder, das Holz war heiß und strömte einen scharfen Geruch aus. Eine dumpfe Hitze brütete in dem Hirn des alten Mannes, er sank bald in einen qualvollen Halbschlummer.

Plötzlich vernahm er ein leises Summen. Eine Fliege mit schwarzem Leib und grünen Flügeln tanzte vor seinen Augen. Sie glänzte und schimmerte im Sonnenlicht, sie flog ein Stück auf das Meer hinaus, kehrte zurück und begann ihr Spiel von neuem. Marius erschrak. Das Tier, das er vor Augen sah, war eine Todesfliege. Die Leute von Henna hatten es so genannt, weil der, den es stach, binnen weniger Tage sterben mußte. Das Summen brach ab, der alte Mann fühlte eine leise Berührung am Arm, die Fliege lief mit dünnen Füßen über seine Haut und hielt endlich inne, mit zitternden Fühlern und zusammengefalteten Flügeln. Marius blickte unverwandt auf das Insekt, er hielt den Atem an und wagte nicht sich zu rühren. Seine Gedanken gingen wie im Fieber. Am Abend, sprach er zu sich, werde ich den Arm nicht mehr heben können, ich werde mich fürchten, in Schlaf zu sinken, und dennoch von einer tödlichen Müdigkeit überwältigt werden. Der frühe Morgen wird mich krank und verwandelt finden, in einen kalten Schweiß gehüllt, matt und verfallen, bis der Tod mich erlöst. Das Bauwerk auf dem Heiligen Berge aber wird unter den 69 Händen des anderen entstehen! Marius fühlte die Fliege auf seinem Arm kaum, doch schien es ihm, als sei sie aus Blei. Seine Glieder schmerzten. Da, plötzlich entfaltete das Tier seine Flügel, verharrte unbeweglich für eine kurze Zeit und hob sich dann in die Lüfte empor, ohne seinen Stachel gebraucht zu haben.

Marius stand auf und sagte: So nahe ist uns der Tod. Was heute nicht getan wird, kommt morgen zu spät, und im Warten geben wir alles preis. Er ging, so schnell er konnte, der Stadt Henna zu. Auf halbem Wege blieb er noch einmal stehen und sprach bei sich: Wir müssen sehen, daß wir die Ernte in die Scheuer bringen.

In der Nacht ging ein Gewitter nieder. Als es abgezogen und es längst still im Kreise geworden war, nur die Tropfen noch sprachen, die im Dunkel von den Bäumen fielen, sahen die Leute von Henna, daß der Tempel auf dem Heiligen Berge in Flammen stand. Sie warfen ihre Mäntel über und eilten mit Eimern und Kannen hinauf. Die Wege waren von den Regengüssen aufgeweicht. Viele glitten aus und stürzten zu Boden. Es herrschte eine große Dunkelheit, und nur der Feuerschein stand wie ein brennendes Gestirn in der Nacht; danach richteten sich die Leute von Henna. Als sie auf dem Gipfel anlangten, war das Dach des Tempels schon eingestürzt und die Flammen schlugen aus den geborstenen Fenstern. Männer und Frauen füllten ihre Gefäße an der Quelle und gossen das Wasser in den glühenden Schutt. Doch sie vermochten nichts mehr gegen die Gewalt des Brandes. Die Flammen hatten das Gerät im Innern des Tempels erfaßt und schlugen an den Pfeilern empor. Wir müssen eine Wand einreißen, rief ein Mann. Sein Gesicht war rot von der Glut des Brandes, Wimpern und Brauen versengt. Als er die Hacke erheben wollte, fiel eine Frau ihm in den Arm. Rührt den Tempel nicht 70 an, er ist uns heilig! Der Mann erwiderte: Es muß sein, und führte den ersten Schlag. Dabei standen Tränen in seinen Augen. Andere halfen ihm mit Äxten und Einreißhaken. Das morsche Gemäuer stürzte zusammen. Kalkstaub, Asche und Funken wirbelten empor. Doch es war zu spät. Das Feuer griff mehr und mehr um sich.

Da erhob sich im Dunkeln aus der Mitte des Volkes die Stimme Olms: Laßt ab von eurem Tun! Ein schöneres Bauwerk wird hier entstehen, aus weißem und rotem Marmorstein, desgleichen die Welt noch nicht gesehen, wie es noch keines Menschen Auge erblickt hat! Das Volk von Henna hörte nicht und sah nicht auf den Sprecher. Schweigend trugen Männer und Frauen ihre Kannen voll Wasser herbei und schütteten sie in den Brand. Wieder ertönte die Stimme Olms: Ihr seid Toren! Alle Städte werden euch um dieses Bauwerk beneiden. Was habt ihr an dem alten Tempel verloren, was aber werdet ihr an dem neuen gewinnen! Da unterbrachen ihn die Leute von Henna und riefen: Geht hier fort! Wenn ihr so sprechen könnt, dann gehört ihr nicht zu uns, und einen Fremden mögen wir jetzt nicht unter uns wissen! Der Angeredete trat einen Schritt zurück. Es war ihm plötzlich, als sähe er die Augen des Kanzlers auf sich gerichtet. Er wurde zur Seite gedrängt. Aber als er sich umwandte, konnte er den Kanzler nicht finden. Er stand lange von allen unbeachtet. Später griff er nach einer Kanne und schüttete Wasser in das Feuer. Doch der alte Tempel starb vor den Augen des Volkes. Als Marius am Morgen sein Haus verließ, war er ernüchtert und von einer tiefen Reue verzehrt. Ich will es mit eigenen Augen sehen, dachte er, und begab sich auf den Weg zum Heiligen Berge. Die Luft war wunderbar erfrischt, alle Dinge von einem reinen, tauigen Glanze umgeben, die Berge fern, als bade in der 71 Weite zwischen ihnen das Sonnenlicht. Um diese Stunde kehrte das Volk von Henna von der Brandstätte zurück. Wenn es mich steinigte, dachte Marius, dann geschähe mir recht! Die Leute sahen müde aus, ihre Gesichter waren vom Rauch geschwärzt und viele hatten Wunden davongetragen. Doch wenn sie den Alten erblickten, dann glitt ein Lächeln über ihre Gesichter. Sie grüßten ihn und freuten sich, ihn zu sehen. Es war, als wollten sie sagen: Den Tempel haben wir verloren, doch der Meister ist uns geblieben. Marius zog den Hut tief ins Gesicht, die Leute sollten sein Antlitz nicht mehr sehen, aber sie erkannten ihn an seiner gebückten Gestalt und dem hinkenden Gang. Das Volk von Henna brachte einen Toten herab. Er war im Morgengrauen von einer stürzenden Mauer erschlagen worden. Sie trugen ihn auf einer Bahre und hatten ihn mit einem Mantel bedeckt. Sein Gesicht lag frei, es war jung, doch von den Steinen verwüstet. Marius war stehengeblieben. Ein Mann trat an ihn heran, nahm den Hut vom Kopfe und sagte: Ihr, Meister, wißt am besten, daß ein Bauwerk mehr ist als Holz und Stein. Wollt ihr dem Toten nicht ein Wort sagen? Marius schritt an die Bahre. Sein Gesicht war farblos und unbeweglich, als sei es zu Stein geworden. Lange stand er schweigend vor dem Toten, dann sprach er: Niemand darf er selbst sein, jeder muß nach dem Bilde leben, das das Volk von ihm im Herzen trägt. Ihm kann er nicht entrinnen. Die Leute von Henna wunderten sich über diese Rede, doch dann wandten sie sich wieder dem Toten zu und nahmen die Bahre auf. Marius ging über die Felder fort.

Am Mittag kam er nach Hause. Er zog den Mantel nicht aus, sondern zündete sogleich ein Feuer an und verbrannte die Pläne, die er gezeichnet hatte. Dann ging er durch die ganze Werkstatt, betrachtete eine jede Figur, 72 strich mit der Hand über den kalten Stein und nickte ihr freundlich zu. Am Nachmittag mischte er Farben, rückte die Leiter zurecht und vollendete ein Bild, das er an die Wand gemalt hatte. Als die Sonne sank, stieg er herab, säuberte seine Hände und verfiel in ein müdes Nachdenken darüber, was noch zu tun sei. Es wurde ihm nicht leicht, sich zurecht zu finden. Alle Dinge hatten sich weit von ihm entfernt. Er sah sie kaum mehr. Noch immer trug er den Mantel, mit dem er am Morgen aufgebrochen war. Auf dem dunklen Stoff zeigten sich viele frische Farbflecke. Der Meister setzte sich in einen Stuhl und sah vor sich hin. Zu Beginn der Nacht erhob er sich, schritt zur Tür und trat auf die Straße hinaus. Er suchte Olm auf und sagte: Ich habe den Tempel auf dem Heiligen Berge angezündet. Olm hob abwehrend beide Hände gegen Marius und sah ihn mit weit geöffneten Augen an. Der Alte war in der Tür stehen geblieben. Er trug den Hut noch auf dem Kopfe, es war, als wollte er gleich wieder fortgehen. Eine tiefe Stille herrschte im Zimmer. Der Blick des Greises weitete sich. Er schien die Gegenwart des anderen vergessen zu haben. Mit einer fernen Stimme sagte er: Ich hatte es geahnt, daß mein Plan niemals Wirklichkeit werden würde. Wer die Schwelle überschritten hat, dem gelingt nichts mehr. Der Bau des Tempels liegt nun in euren Händen. Ihr müßt dem Volk sein Heiligtum zurückgeben. Olm ging langsam zum Tisch, auf dem in einer Mappe seine Zeichnungen lagen, nahm sie heraus, betrachtete Blatt für Blatt und schüttelte endlich den Kopf. Dann fing er wieder von vorn an, strich mit der Hand über die Pläne, wie um sie zu glätten, hielt sie gegen das Licht und beschaute sie mit einem erstaunten Antlitz. Zuletzt legte er die Zeichnungen weit von sich auf den Rand des Tisches und murmelte: Ich finde nicht 73 mehr, was ich früher darin gesehen habe. Alles scheint mir anders geworden, als hätten meine Augen sich verwandelt. Er fuhr mit dem Finger über die Linien, es war, als fühlte er ein Leben in ihnen, das zu ihm sprach, als sei eine jede ein schweres und leidensvolles Werk. Schließlich meinte er, es sei die Gegenwart des Alten, die ihm solche Mühsal aufgab, er spürte dessen Augen über seiner Arbeit und blickte auf. Da sah er, daß Marius den Hut gezogen hatte und mit leicht gebeugtem Kopf dem Jüngeren zusah. Olm stand verwirrt und wußte nicht, was er sagen sollte. Der Alte war im Begriff, den Raum zu verlassen. Doch er wandte sich noch einmal um und sagte mit einer scheuen Stimme: Ich habe euch gehaßt, aber dies war die einzige Form, in der ich lieben konnte.

Am anderen Morgen war Marius tot. Niemand vermochte sein Sterben zu fassen, obgleich er doch ein alter Mann und längst reif für den Streich des Todes gewesen war. Vielen erschien die Stadt leer, in der sie nun niemals mehr die gebückte Gestalt des Marius durch die Straßen wandern sehen und seine scheltenden Worte vernehmen sollten. Es erschien ihnen unbegreiflich, daß sie nach dem Verlust des Tempels auch noch den Meister verloren hatten, auf dem all ihre Hoffnungen gegründet waren. Die Leute von Henna bereiteten Marius ein prächtiges Begräbnis, wie es seinem Ruhme zukam, und wanderten oft hinaus zu dem Grabe, um ihm Blumen zu bringen.

Bald darauf wurde Olm zur Kaiserin gerufen. Die hohe Frau saß in einem Stuhle und sah ihn schweigend an. Der Kanzler aber, der bei ihr stand, empfing ihn mit den Worten: Habt ihr den Tempel auf dem Heiligen Berge angezündet? Olm trat einen Schritt zurück, er hob die Hand, als ob er sich gegen etwas wehren wollte, ein 74 heftiger Zorn erglühte in seinen Augen, er öffnete den Mund zu einer Erwiderung – da plötzlich hielt er inne, ließ den Arm sinken, der Eifer wich von ihm, ein Lächeln erwachte auf seinem Gesicht, er legte den Kopf ein wenig zur Seite, als lausche er auf etwas, das in einer weiten Ferne lag, seine Hände öffneten sich, wie um ein Geschenk darzureichen, die Lippen waren in einer leisen Bewegung, als sprächen sie mit einem Unsichtbaren. Die Kaiserin hatte sich in ihrem Stuhle vorgebeugt und betrachtete Olm, ohne ein Wort zu sagen. Der Kanzler schritt zum Tisch, blätterte in einem Buch und sprach endlich mit einer harten Stimme: Wer ein Heiligtum des Volkes zerstört, der hat den Tod verdient. So will es das Gesetz von Henna. Ich habe euch gewarnt. Ihr waret taub für meine Worte. Olm hob den Kopf und erwiderte leise: Es geschieht ja oft, daß niemand die reifen Früchte vom Baume nimmt. Manchmal auch wird der Baum geschlagen, und die Früchte verbrennen mit ihm im Feuer. Als er so gesprochen hatte, stand die Kaiserin auf und trat an ihn heran. Sie legte ihm beide Hände auf die Schulter und sagte: Ich wäre eine schlechte Gärtnerin. Wenn der Baum geschlagen werden muß, so ist hernach noch immer Zeit. Vorerst aber will ich Ernte halten. Ihr sollt den Tempel auf dem Heiligen Berge erbauen. Olm hörte diese Worte, beugte sich über die Hand der Kaiserin und weinte. Die hohe Frau fühlte die Tränen über ihre Finger rinnen, richtete ihn auf und sprach: Bewahrt Schweigen über jene Tat. Das Volk von Henna erfährt sie zu seiner Zeit. Im Hinausgehen erkannte Olm, daß das Gesicht des Kanzlers hart und verschlossen geblieben war.

Fünf Jahre lang baute das Volk an dem Tempel auf dem heiligen Berge, und unter den Händen Olms entstand ein Bauwerk von einer solchen Schönheit, wie es 75 sich die Leute von Henna niemals hätten träumen lassen, und um dessentwillen sie den Meister gleich einem Heiligen liebten und verehrten. Im Frühling des sechsten Jahres bereiteten sie sich für das Fest der Weihe. Alle befanden sich in einer hohen Erwartung. Am Vorabend der Feier aber hieß es in Henna, der Baumeister sei aus der Stadt verschwunden. Ein alter Fischer erzählte, er habe zur Mittagszeit, als er am Strande in der Sonne saß und seine Pfeife rauchte, einen Mann gesehen, der sich an einem Boot zu schaffen machte. Er sei, um ein wenig zu schwätzen, an ihn herangetreten und habe Olm erkannt, von dem ja ein jedes Kind in Henna wisse. Sie hätten beide über das Wetter gesprochen, der Meister aber sei ihm seltsam fern erschienen wie einer, der auf eine weite Reise aufgebrochen und nur kurz noch einmal zurückgekehrt ist. Ein anderer Fischer meldete, er vermisse ein Boot, das mit Netzen und Gerät am Strande bereitgelegen habe. Die Besetzung eines Kohlendampfers wußte zu berichten, daß sie weit draußen auf dem Meere ein Boot gesehen habe, in dem ein einzelner Mann saß. Am späten Abend, so erzählte der Kapitän des Postschiffes, habe in der gleichen Gegend ein Fischerboot auf den Wellen getrieben, welches aber leer gewesen sei. Dieses Boot wurde einige Tage später an den Strand getrieben. Der Fischer erkannte es als das seine, Netze und Schnüre lagen noch darin wie an dem Tage, seit dem er es vermißte und der Baumeister Olm aus Henna verschwunden war.

Eine tiefe Trauer senkte sich über das Volk. Die Blumen, die es für das Fest gepflückt hatte, waren längst verwelkt. Nun wurden auch die Kleider wieder in die Schränke verschlossen, der Schmuck in Kästen getan und fortgestellt. Der große Tag war vorübergegangen, der Tempel aber stand ungeweiht auf der Höhe des Berges. 76 Die Leute empfanden eine Scheu vor dem Bauwerk und vermieden es endlich gar, ihm mit Augen zu begegnen. An einem Abend im Sommer sah das Volk von Henna die Kaiserin die Straße zum Heiligen Berg entlanggehen. Die hohe Frau trug ein Bund Lilien in den Armen und nickte allen Leuten, die ihr begegneten, zu, als wollte sie sagen: Kommt und folgt mir! Männer und Frauen ließen ihre Arbeit ruhen. Wie sie gingen und standen, machten sie sich auf den Weg, und da sie sahen, daß die Kaiserin Blumen in den Händen trug, wollten sie ein gleiches tun. Sie kauften und nahmen sich, was sie bekommen konnten, Nelken und Margueriten, Lilien, Glockenblumen, Knabenkraut und Arnika.

Die Sonne stand schon tief am Himmel, und die wandernden Menschen warfen lange Schatten über die Straße. Der Berg lag im Abendnebel, doch das Gemäuer des Tempels durchstrahlte den Dunst, der es wie ein Schleier umgab, und offenbarte vor aller Augen den wunderbaren Glanz, der ihm innewohnte. Die Leute eilten wie von einem brennenden Verlangen getrieben, sie kamen dem Berge immer näher, der Dunst schien sich zu lichten, bald konnten sie das Gewirre seiner Felsen unterscheiden und seine Wasser rauschen hören. Auf den Feldern zur Seite weideten Schafe, ihre Hufe traten weich in den erwärmten Boden, der Hirt saß an die Mauer einer verfallenen Hütte gelehnt und blies auf der Flöte, die Melodie begleitete die Menschen ein Stück Weges, dann blieb sie zurück und es ertönte das Lied eines Mädchens, das an einem Brunnen stand und Wasser schöpfte. Bald klang das Geklapper von vielen hundert Schuhen über die Stufen, die zur Höhe emporführten. Es waren dort schon viele Männer und Frauen versammelt, und immer noch traten neue hinzu. Als sie sich umblickten, sahen sie den Kanzler, den 77 Feldmarschall und die Großen von Henna bei der Pforte zum Tempel stehen. Das Gesumm von zahllosen Stimmen lag in der Luft. Da trat die Kaiserin aus dem Innern des Bauwerkes. Es wurde still im Umkreis. Die hohe Frau stand unbeweglich unter den Säulen, hob die Hand über die Augen und sah hinaus auf das Meer, das sich jenseits des Landes und jenseits der Stadt weit und hell bis an den Rand des Himmels dehnte. Der Kanzler senkte den Kopf, dann aber wandte er sich um und folgte dem Blick der Kaiserin, alle Menschen, die auf dem Berge versammelt waren, taten das gleiche, ein Wind wehte vom Lande herüber, die See bewegte sich in einem dunklen Schimmer, es war, als liefe ein Schatten über ihre Fläche, dann lag sie wieder ruhig im Abendlicht. Niemand sprach ein Wort. Die hohe Frau ließ endlich den Arm sinken und ging durch die Reihen des Volkes fort. Die Leute von Henna traten in den Tempel und legten ihre Blumen auf dem Boden nieder. An diesem Tage, so sagten sie später, sei das Bauwerk auf dem Heiligen Berge geweiht worden, und sein Meister habe in der hohen Stunde nicht unter ihnen gefehlt.

 


 


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