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Die Mamsell war es auch, die an Herrn Gugenzeil telegraphierte – und zwar:
»Erschrecken Sie nicht, die Tochter ist da, ein strammes Mädel, das seinen Eltern alle Ehre macht, eine echte Gugenzeil. Auch der Gnädigen geht es soweit ganz gut und den anderen Umständen angemessen. Das Mädel ist Ihnen akkurat aus dem Gesicht geschnitten. Das Hauspersonal gratuliert auch schön, und kommen Sie nun ja bald zurück. Ihr Fräulein Tochter erwartet Ihnen schon mit Ungeduld. Die Gnädige auch.
Mamsell.«
Sie zeigte Frau Elsa das Telegramm, die sich über den Text lächelnd ausschwieg, aber die Länge bemängelte. Aber die Mamsell erwiderte:
»Herr Gugenzeil hat mich, als er abfuhr, beschworen: ›Telegraphieren Sie, falls meine Frau niederkommt. Aber ausführlich. Geld spielt in diesem Fall gar keine Rolle‹.«
»Davon hat doch aber niemand was.«
»Das ist ja das Glück der Reichen, daß sie nicht bei jedem Groschen, den sie ausgeben, zu überlegen brauchen, ob es auch einen Sinn hat. Und das Schöne daran ist vielleicht gerade, daß es meist keinen Sinn hat. Was hat überhaupt Sinn?«
»Um Himmels willen, Mamsell! Sie philosophieren.«
»Das liegt bei uns in der Familie. Jedenfalls werde ich Ihnen nach den Aufregungen von heute eine feine Bouillon kochen und ein junges Küken braten – das hat bestimmt Sinn.«
»Sie gute Seele.«
»Und um Ihre Zukunft brauchen Sie sich auch keine Sorge mehr zu machen.«
»Wieso? – Wie meinen Sie das?«
Die Mamsell rückte dicht an Frau Elsa heran, nahm ihre Hand und sagte:
»Was glauben Sie, wo ich vorhin solange gewesen bin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Bei Lamprecht.«
»Dem Friseur?«
»Jawoll! Ich habe ihm gesagt: Herr Lamprecht, hab' ich gesagt, wenn Sie Frau Gugenzeil und Herrn Gugenzeil als Kunden behalten und das gnädige Fräulein Gugenzeil als neue Kundin dazu bekommen wollen – sie ist zwar noch nicht geboren, aber ich sage Ihnen, die wird eine! – alle drei Tage Dauerwellen! – und einen Verbrauch an Puder und Parfüm hat die! – also, wenn Ihnen an ihre Kundschaft liegt, dann müssen Sie die bekannte Friseuse – bekannte habe ich gesagt – na, ich kenne Sie ja – Frau Elsa Krüger engagieren. Von einer anderen läßt sich meine Herrschaft in Zukunft nicht bedienen.«
»Mamsell!«
»Lamprecht hat seine Frau gerufen, die hatte erst tausend Abers und Wenns – Schön, Frau Lamprecht, hab' ich gesagt, dann wird sich das Fräulein Gugenzeil ihren Puder wo anders kaufen. Schließlich hat sie ja gesagt, und das Ende vom Lied? Vom Ersten ab sind Sie angestellt mit 45 Mark die Woche laut Tarif – und Trinkgeldern.«
Frau Elsas freudige Erregung war so groß, daß sie zunächst nicht sprechen konnte. Sie drückte nur immer die Hand der Mamsell, biß die Lippen zusammen, um nicht laut aufzuschluchzen, und merkte gar nicht, wie ihre Tränen auf das Kleid der Mamsell niedertropften.
»Soviel Glück! Ich verdiene es nicht!« war das erste, was sie sagte, als sie wieder sprechen konnte.
»Redensarten!« erwiderte die Mamsell. »Wieso verdienen Sie es nicht wie jede andere? Sie waren eine gute Frau, ich kann es bezeugen, und werden auch eine gute Mutter sein – soviel Zeit muß Ihr Dienst Ihnen lassen, das habe ich mit Lamprechts ausgemacht.«
Während die Mamsell ihrer Arbeit nachging, quälte sich Elsa mit Selbstvorwürfen. Statt sich über die Wendung zum Guten, die ihr Leben nun nehmen sollte, zu freuen, empfand sie es fast wie eine Strafe. Nun hätte sie ihr Kind behalten können, ohne daß es Not zu leiden brauchte. Bis zum Ersten waren es noch acht Tage, die sie bei der Mamsell verbringen durfte. – Immer unbegreiflicher wurde ihr, was sie getan hatte. War es auch nur geschehen, damit ihr Kind gute Pflege und eine sorglose Jugend hatte, sprach sie das doch von Schuld nicht frei. Aber weniger das Schuldbewußtsein als die große, unerträgliche Sehnsucht nach ihrem Kinde, die sie schon jetzt nach wenigen Stunden empfand, brachte sie auf den Gedanken, sich ihr Kind zurückzuholen.
Ein Zufall hatte am Vormittag die Barriere zwischen denen da vorn und ihr hier hinten für kurze Zeit geöffnet. Jetzt war sie wieder geschlossen – und so sehr sie nachsann, es gab keine Möglichkeit, sie noch einmal, wenn auch nur für Minuten, zu öffnen.
Aus einer Gemeinheit wächst die andere, dachte sie, als ihr jetzt der Gedanke kam, die Kinderfrau zu bestechen und zu veranlassen, daß sie ihr das Mädel gegen den Jungen herausgab. Ihr konnte es ja gleich sein, wessen Kind sie großzog. – Plötzlich lachte sie auf. Bestechen! das ginge wohl und hätte auch Aussicht auf Erfolg. Aber womit? Mit ihren 35 Mark, den letzten, würde sie auf die verwöhnte Kinderfrau keinen Eindruck machen. Und wenn sie sich der Mamsell anvertraute, so wäre damit deren Vertrauen erschüttert. Sie wäre für die Mamsell dann nicht mehr die Frau, die es verdiente, daß man ihr half. Enttäuscht würde sie es ablehnen, sie bis zum Ersten bei sich zu behalten – ja, sie würde vielleicht zu Lamprecht gehen, um die Anstellung rückgängig zu machen.
Ich bin ein schlechter Mensch, sagte sie sich – daß ich überhaupt imstande war, es zu tun – und es jetzt fertigbringe, so klare Gedanken zu fassen. – Aber alles Wehren half nichts. Der Wunsch, ihr Kind wiederzubekommen, war so stark, daß er alle Gedanken und Widerstände überwand. Sie legte das neugeborene Kind der Frau Gugenzeil, das sie zuvor mit großer Sorgfalt gesäubert und gepflegt hatte, in das Kinderbettchen, stand auf und ging, in der Not ihres Herzens ihre Müdigkeit überwindend, in die Küche.
»Sie sollen doch ruhen«, sagte die Mamsell.
»Haben Sie eine Minute Zeit für mich?«
»Fünf, wenn's sein muß.«
»Ich bin so unglücklich!«
»Na, da hört's auf. Rackre ich mich drum für Ihnen ab und sorge für Ihre Stellung und für Ihr Kind, daß sie – nee, Frau Krüger, ich bin ja n' guter Mensch! Aber so dürfen Sie mir nicht kommen. Sie haben jetzt allen Grund, vergnügt zu sein. Und wenn Sie's nicht sind, dann bin ich wohl nicht der richtige Mensch für Sie.«
»Sie sind der einzige Mensch, auf den ich was gebe, und meine Dankbarkeit für Sie ist grenzenlos.«
»Das sind ja Redensarten.«
»Aber, Mamsell – ohne Sie wäre ich jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben.«
»Und das Kind?«
»Das ist es ja.«
»Aha!«
»Das Kind – ich weiß ja nicht, ob Sie mich verstehen.«
»Ich bin nicht auf den Kopf gefallen.«
»Die Gugenzeils haben sich doch so sehr einen Jungen gewünscht.«
»Ist ja nicht wahr! Ein Mädel wollten sie haben. Ich weiß auch, warum. Der Frau Gugenzeil ihr Bruder in Hamburg soll fünfzehn Millionen haben – und nur einen Sohn, der ist jetzt sechs Jahre alt. – Verstehen Sie?«
»Nein.«
»Na, für den wird eine Frau gesucht.«
»Für den sechsjährigen Jungen?«
»Für die fünfzehn Millionen! – die kann man gar nicht früh genug sicherstellen – – denken Gugenzeils.«
»Aber das Mädchen ist doch so schwach.«
»Das kommt Ihnen nur so vor. Ihr Junge sah auch erst so miesepetrig aus – und heute sehn Sie 'n sich mal an! – ein Tag in meiner Pflege und er sieht aus wie 'n Rekrut.«
»Ich hätte gern, daß Frau Gugenzeil auch so ein kräftiges Kind hätte.«
»Worauf wollen Sie denn raus?«
»Ein Mädchen ließe sich leichter erziehen – ein Junge braucht eine starke Hand – mein Mann ist tot.«
»Ja, und? Ja, und?«
»Es wäre für beide Teile besser – wenn . . .«
»Wenn?«
»Wenn ich das Mädel hätte – und Gugenzeils . . .«
»Den Jungen? – Sagen Sie mal, Sie sind wohl verrückt? Vor Ihnen bekomme ich Angst. Sie kriegen es womöglich fertig und tauschen die Kinder um – geben Ihr's her gegen ein fremdes – nur, weil ein Mädchen leichter zu erziehen ist.«
»Es war ja nur ein Gedanke.«
»Reden Sie nicht! Es war Ihnen Ernst – und ich werde verflucht aufpassen, daß während der Tage, die Sie noch hier sind – denn auf die Straße setze ich Ihnen deswegen nicht – kein Malheur passiert. Gott sei Dank kann man ja auch bei Säuglingen ein Mädel von einem Jungen unterscheiden.«
Frau Elsa, die die Hoffnungslosigkeit ihres Versuches erkannte und wußte, daß weder die Mamsell noch sonst jemand ihr glauben würde, wenn sie die Wahrheit gestand, verließen die Nerven. Sie bekam einen Weinkrampf, der die Mamsell so erschreckte, daß sie den Herd verließ und Frau Elsa zu Bett brachte.
»Ich hab' alles längst vergessen, was Sie gesagt haben«, sagte sie zu Frau Elsa, um sie zu beruhigen. »Sie sind krank, Kind! Kein Wunder nach all dem, was Sie in den letzten Wochen durchgemacht haben.«
Vorn am Bett der Frau Gugenzeil öffnete zur selben Zeit die Zofe ein Telegramm ihres Mannes und las es der Wöchnerin vor.
»Meiner Tochter Hilde rufe ich ein herzliches Willkommen zu. Ihre Mutter schließe ich dankbar in die Arme. Reichen Segen erhoffe ich für uns alle. –«
Das war echt Gugenzeil. Als er das Wort »Arme« geschrieben hatte, fuhr er zusammen. Denn er war abergläubig. Lächelnd reparierte er den Schaden, indem er auf Arme das Wort »Reichen« folgen ließ. »Ja, ja«, dachte er, »wenn man sich nicht düpieren läßt, kann man sogar dem Schicksal ein Schnippchen schlagen.«