Artur Landsberger
Mensch und Richter
Artur Landsberger

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XX.

Seitdem Frau Elsa aus Paris zurück war, verging kein Tag, an dem sie sich nicht in Gedanken nach dem Restaurant Ciro versetzte, wo sie dann allabendlich die Erfolge ihres Sohnes deutlich miterlebte. Sie schlief dann ein und übernahm die Bilder mit in den Traum – und wenn sie dann morgens erwachte und – sehr im Gegensatz zu früher – noch eine halbe Stunde lang wach im Bett lag, kam ihr gar nicht der Gedanke, geträumt zu haben.

Als sie dann eines Abends das Telegramm erhielt, in dem der Sohn seine Rückkehr schon für den nächsten Morgen meldete, erschrak sie mehr als daß sie sich freute.

Mit den schönen Abenden bei Ciro ist es also aus, dachte sie. Was mag er angestellt haben, daß sie ihn fristlos haben gehen lassen? Denn der Gedanke, daß er freiwillig dies Leben aufgab, um in die Ärmlichkeit ihrer Verhältnisse zurückzukehren, kam ihr gar nicht.

So nur ist es zu verstehen, daß Frau Elsa am nächsten Morgen mit einem Angstgefühl auf den Bahnhof ging, um ihren Sohn zu erwarten. Als der Zug einfuhr, schlug ihr Herz so laut, daß sie stehenblieb und sich an den Zeitungskiosk lehnte. Und als sie zwei Minuten später ihren Sohn mit Handschellen und von Polizisten geführt den Bahnsteig entlanggehen sah, hatte sie nicht mehr die Kraft, sich ihm an den Hals zu werfen.

Ich wußte ja, es ist etwas passiert, sagte sie mehr zu sich als zu den Umstehenden, als sie wieder zur Besinnung kam. Sie fuhr nach Haus, schloß sich in ihr Zimmer ein, ließ ihre Kunden warten und weinte in sich hinein.

»Ich habe meinen Sohn verloren und meine Tochter verschenkt. Jetzt bin ich allein. Es ist die gerechte Strafe!« – Diese Sätze sagte sie sich auf – laut und immer wieder – und fühlte, daß sie außerstande war, etwas zu unternehmen.

So saß sie bis nach ein Uhr mittags. Da läutete es so lange und so stark an ihrer Tür, daß sie aufstand und sich in den Vorraum schob, um zu öffnen. Als sie an dem Spiegel vorbeikam, blieb sie stehen und sah hinein. War sie das wirklich? Kann Kummer den Menschen äußerlich so schnell verändern? Bei Gott, sie war nicht eitel. War es auch in ihrer Jugend nie gewesen. Aber so auszusehen, war schrecklich.

An der Klingel wurde jetzt mit einer Wut gezerrt, daß Frau Elsa sich die Ohren zuhielt und leise sagte: »Ich komm' ja.« – Sie zog den Riegel zurück und öffnete. Vor ihr stand die Mamsell – mit rotem Kopf und außer Atem. Beim Eintreten sagte sie:

»Gott sei Dank! Sie leben! Ich dachte schon, Sie haben sich etwas angetan.«

Mit größter Beherrschung erwiderte Frau Elsa – und bot ihr einen Stuhl an:

»Weshalb sollte ich mir etwas antun?« – Und da die Mamsell sie prüfend ansah, fuhr sie fort: »Wo ich so einen Sohn hab'«

»Ich bin vom Herd weg schnell zu Ihnen, es ließ mir keine Ruh'.«

»Ist etwas passiert?«

»Sie wissen's ja. Man braucht Sie ja nur anzusehen.«

»Sieht man es mir an? – Aber ich weiß nichts.«

»Frau Krüger!«

»Ich habe nur gesehen, daß sie ihn den Bahnsteig entlang führten.«

»Sie wissen gar nicht, weshalb?«

»Ich will's nicht wissen. Ich will überhaupt nichts wissen.«

»Sie werden ihm doch helfen wollen?«

»Ich? – Wieso ich! – Ach ja – natürlich! Ich bin verantwortlich.«

»Das sind Sie nicht. Sie haben sich alle Mühe gegeben und für ihn getan, was eine Mutter für ihr Kind tun kann. Nur zu sehr verwöhnt haben Sie den Jungen.«

»Er verträgt's. Ihm kann's nicht schaden.«

»Das sagen Sie, nach dem, was vorgefallen ist?«

»Was ist schon vorgefallen? Irgendeine Weibergeschichte. Ich habe es ja miterlebt in Paris. Der Junge ist hübsch. Sie stellen ihm nach.«

»Es hat ja mit Weibern nichts zu tun.«

»Womit denn?«

»Ja, wissen Sie es denn wirklich nicht. Sie zog die Mittagszeitung aus der Tasche und breitete sie vor ihr aus. Da stand in fetten Lettern:

Raubüberfall im D-Zug Köln – Berlin.

Der belgische Juwelier Reno Brix wurde von einem Mitreisenden, dem in Paris unter dem Namen Richard de Cruche bekannten Primgeiger Richard Krüger, einem gebürtigen Berliner, mit dem Revolver überfallen und seines Schmuckes im Werte von 500 000 Mark beraubt. Der Juwelier setzte sich zur Wehr. Es kam zu einem Kampf, in dessen Verlauf der Räuber einen Schuß auf den Juwelier abgab, der sein Ziel glücklicherweise verfehlte. Als der Räuber sah, daß sein Plan mißglückt war, warf er den Revolver aus dem Fenster. Er wurde von dem herbeigeeilten Zugpersonal überwältigt und nach Abnahme der gesuchten Juwelen bei Ankunft des Zuges in Charlottenburg von der Bahnpolizei in Empfang genommen.

»Lesen Sie's lieber nicht«, sagte die Mamsell. »Sie verlieren womöglich den Verstand darüber.«

Aber Frau Elsa las den Bericht zum Erstaunen der Mamsell ohne den Ausdruck auch nur der geringsten Bewegung. Und als sie zu Ende gelesen hatte, lachte sie laut auf und rief:

»Das soll mein Richard gemacht haben? – Da lach ich nur.«

»Sie glauben es nicht.«

»Da wäre ich ja eine nette Mutter, wenn ich das glauben würde.«

»Aber es steht doch da – mit Namen und allem, was dazu gehört.«

»Und wenn es zehnmal dasteht: es ist nicht wahr!«

»Haben Sie denn eine Erklärung dafür?«

»Nein. Aber ich kenne meinen Jungen und weiß, daß er dazu nicht fähig ist.«

»Dann ist er eben in Paris so geworden.«

»Mamsell, wenn Sie meinen Jungen beleidigen wollen, hätten Sie besser getan, nicht zu kommen.«

»Ich wollte Sie trösten.«

»Deswegen?« fragte Frau Elsa und wies auf das Blatt. »Wenn er in eine Weibergeschichte verwickelt wäre, da verstände ich alles – sogar einen Mord.«

»Frau Krüger!«

»Aus Liebe. Das wäre nicht halb so schlimm wie das! – Aber so einen gemeinen Überfall bringt mein Junge nicht fertig.«

»Aber liebe Frau Krüger, Sie können doch die Tatsache nicht aus der Welt schaffen. Der Fall liegt doch ganz klar.«

»Sehr unklar finde ich ihn, weil meinem Jungen darin eine Rolle zugemutet wird, die er nie gespielt hat.«

»Wenn statt Richard Krüger ein anderer Name da stände, etwa Ernst Müller – würden Sie dann glauben, daß es sich so abgespielt hat, wie es da steht?«

»Natürlich.«

»Für den Richter, der es aburteilt, ist es ganz gleich, ob der Mann Müller heißt oder Krüger. Der hält sich einfach an den Tatbestand.«

Frau Else sah die Mamsell entgeistert an:

»Da haben Sie recht – für den Richter, da ist mein Junge ein Mensch wie jeder andere.«

»Eben deshalb.«

»Der Richter kennt ihn ja nicht – und weiß daher auch nicht, was der Richard für'n Mensch ist.«

»Bei dem Tatbestand wird es schwer sein, es ihm klarzumachen.«

»Dann ist mein Junge ja in Gefahr!«

»Das ist er! Und deshalb bin ich bei Ihnen – und lasse das Mittagessen verderben.«

Frau Elsa, die eben noch zusammengesunken dagesessen hatte, raffte sich auf. Ihr Gesicht bekam einen energischen Ausdruck, der ganze Körper spannte sich. Sie stand auf und reichte der Mamsell die Hand.

»Sie haben mich aufgerüttelt, Mamsell. Sie haben mir schon einmal im Leben geholfen.

»Ich habe nur menschlich gehandelt.«

»Nur – menschlich. Wenn Sie wüßten, wie viel das ist! Und wie selten!«

»Was werden Sie tun?«

»Für den Jungen kämpfen.«

»So überzeugt sind Sie, daß er es nicht gewesen ist?«

»Eine Mutter fühlt das.« – Plötzlich entfärbte sie sich und sagte: »Großer Gott! Das trifft ja nicht zu.«

»Was trifft nicht zu?«

»Wenn mein Gefühl mich täuscht. Wenn er es doch gewesen ist?«

Die Mamsell legte den Arm um sie und sagte:

»Vielleicht ist es besser, wenn Sie sich mit dem Gedanken vertraut machen.«

»Nein! Nein! Ich muß an seine Unschuld' glauben, wenn ich ihm helfen will. Auch wenn ich nicht seine Mutter wäre.«

 


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