Artur Landsberger
Mensch und Richter
Artur Landsberger

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XXX.

So bestimmt Hilde nach ihrer Rückkehr wußte, daß der Überfall im D-Zug ein Manöver des Juweliers Brix war, so wenig konnte sie die Anwälte des Angeklagten Richard Krüger davon überzeugen, daß dieses Schulbeispiel eines räuberischen Überfalles tiefere Hintergründe hatte.

Ihr Bericht über die Begegnung mit Brix im Brüsseler Hotel klang in der Tat wenig glaubwürdig und bewies den Anwälten nur, daß Hilde in ihrem Übereifer, dem Angeklagten zu helfen, selbst vor strafbaren Handlungen nicht zurückschreckte. Die Hotelgeschichte klang ihnen so unglaublich, daß sie an den Juwelier Brix nach Brüssel einen Brief schrieben und ihn im Namen der um ihre Tochter besorgten Eltern baten, sich über sein Brüsseler Erlebnis mit Hilde Gugenzeil zu äußern. Der schrieb zurück, daß er eine Dame dieses Namens nicht kenne und in den letzten zehn Jahren überhaupt kein Erlebnis mit einer Dame gehabt habe. Es müsse also eine Personenverwechslung vorliegen.

Als die Anwälte pflichtgetreu dem Ehepaar Gugenzeil davon Mitteilung machten, rief Frau Kaete:

»Ich habe ja immer gesagt, sie ist nicht normal. Schon vor Jahren wollte ich sie in eine Anstalt tun.«

Aber Emil Gugenzeil nahm Hilde in Schutz:

»Es steht Aussage gegen Aussage. Wer kann behaupten, daß dieser Juwelier glaubwürdiger ist als meine Tochter.«

»Man brauchte ja nur den Chauffeur und die Zofe zu fragen«, erwiderte Frau Kaete – aber die Anwälte rieten davon ab.

»Wozu einen klaren Fall unnütz kompliziert machen?« sagte Rechtsanwalt Dr. Bloch. »Wenn wir den Angeklagten auf Grund des § 51 freibekommen wollen, so müssen wir alles unterdrücken, was zur Klärung des Falles führen kann.«

Und der auf Wunsch und Kosten Emil Gugenzeils herzugezogene Justizrat Nebel erklärte:

»Ich wäre im Interesse des Angeklagten dafür, daß man das gnädige Fräulein, das ich im übrigen für normal und nur für überspannt halte, für die Dauer des Prozesses in ein Sanatorium schickt.«

»Das wäre für alle das beste«, erwiderte Frau Kaete – »aber freiwillig geht sie nicht.«

»Und mit Gewalt lasse ich mein Kind nicht einsperren«, erklärte Gugenzeil.

»Wenn wir ihr klarmachten, daß es in aller Interesse liegt, wenn sie vorübergehend verschwindet«, meinte Rechtsanwalt Dr. Bloch – »wird sie das Opfer doch bringen.«

»Fragen wir sie«, entschied Emil Gugenzeil und ließ Hilde durch den Diener nach vorn bitten.

Hilde erschien in einem eleganten Reisekostüm, übersah die Anwälte und sagte zu den Eltern:

»Ich wollte mich gerade von euch verabschieden.«

»Was ist denn los? Wo willst du denn hin?«

»Zehn Uhr drei geht mein Zug nach Paris.«

»Nach Paris?«

»Ich habe mich plötzlich entschlossen – entschließen müssen, um endlich der wahren Ursache dieses Eisenbahnattentates auf die Spur zu kommen.«

»So gib das doch endlich auf!« erwiderte Frau Kaete und wies auf die beiden Anwälte, »du siehst, wir tun, was wir können, wir haben zwei hervorragende Verteidiger, denen du durch deine überspannten Eskapaden nur das Konzept verdirbst«, – und da ihr diese Wendung gefiel, so wandte sie sich an die beiden Anwälte und fragte sie: »Habe ich recht? Verdirbt sie Ihnen nicht das Konzept?«

Ehe die etwas erwidern konnten, sagte Hilde:

»Nach Schablone F kommt man dem Fall nicht auf den Grund.«

»Das soll man ja gar nicht«, erwiderte Dr. Bloch.

»Ohne einen klaren und überzeugenden Freispruch ist ihm nicht geholfen.«

»Wir werden klar und überzeugend nachweisen, daß er bei Begehung der Tat nicht zurechnungsfähig war.«

»Und ich werde das Gegenteil beweisen.«

»Womit Sie ihn mit aller Sicherheit ins Zuchthaus bringen.«

»Abwarten, Herr Doktor.«

»Sage uns wenigstens, was du in Paris willst«, bat Frau Kaete.

»Eine Frau aufsuchen, die mehr weiß als wir alle.«

»Sie vermuten also, daß er aus Eifersucht gehandelt hat?«

»Wer?«

»Der Angeklagte. – Man könnte dann Affekt annehmen und vielleicht mildernde Umstände erreichen.«

»Was wäre die Folge?« fragte Frau Kaete – und Dr. Nebel erwiderte:

»Daß er mit ein paar Jahren Gefängnis davonkommt.«

Hilde wandte sich an Dr. Bloch und fragte:

»Was sagen Sie dazu?«

»Sie wissen, aus welchen Gründen für mich nur Freispruch in Frage kommt.«

»Bravo, Doktor!«

»Freispruch auf Grund des § 51.«

Hilde wandte sich darauf an ihre Eltern und sagte:

»Ich glaube, ihr tätet gut, wenn ihr auf die Hilfe der Herren verzichtet und die Verteidigung Richard und mir überließet.«

»Kind, du weißt ja nicht, was du sprichst.«

»Sie sollten wirklich etwas für Ihre Nerven tun, gnädiges Fräulein«, riet mit einiger Zurückhaltung Dr. Nebel und erhielt von Hilde zur Antwort:

»Der Ansicht bin ich auch. Und deshalb fahre ich nach Paris. Denn ich weiß genau, meine Nerven werden nicht zur Ruhe kommen, bevor ich nicht Licht in dies Dunkel gebracht habe.«

»Wir wünschten, alle Fälle lägen so klar«, erwiderte Dr. Nebel – und Rechtsanwalt Dr. Bloch bestätigte dies, worauf Hilde sagte:

»Also, wenn es so klar ist, wozu dann der Aufwand von zwei berühmten Verteidigern? Nehmt, wenn es sein muß, doch irgendeinen Referendar, der sich den Menschen und nicht den Fall ansieht.«

»Ist Ihre Absicht, nach Paris zu fahren, die Folge einer Unterredung mit dem Angeklagten?« fragte Dr. Bloch – und Hilde erwiderte:

»Sie haben ja meine Besuche bei ihm hintertrieben und ein Besuchsverbot für mich erwirkt, das ich weder mit Geld noch mit guten Worten unwirksam machen konnte.«

»Es war meine Pflicht – im Interesse des Angeklagten.«

»In Ihrem Interesse wollten Sie sagen.«

»Wenn das Ihr Ernst ist, sähe ich mich genötigt, die Verteidigung niederzulegen.«

»Schon wieder mal. Nur Sie versprechen es immer und halten es nicht.«

»Hilde«, mahnte Frau Kaete.

Rechtsanwalt Dr. Bloch wandte sich an Herrn Gugenzeil und sagte:

»Herr Gugenzeil! Ich lege die Verteidigung nieder!«

»Bravo!« rief Hilde. »Sie mögen ein guter Anwalt sein, wenn es gilt, nachzuweisen, daß eine gefälschte Bilanz richtig oder daß ein Wucherer, der seinen Schuldner in den Tod trieb, ein Ehrenmann ist. In einem Fall wie diesem aber, dem man nur mit der Wahrheit beikommt, müssen Sie versagen.«

»Du bist ein Phantast, Kind!« sagte Frau Kaete und fuhr, zu Bloch gewandt, fort: »Ich hoffe, Sie nehmen es ihr nicht übel.«

»Ich rechne damit«, erwiderte Dr. Bloch, »daß Ihr Fräulein Tochter ihr Unrecht, das sie an dem Angeklagten und an mir begeht, noch vor Prozeßbeginn einsehen wird.«

»Wenn das der Fall sein sollte«, erwiderte Hilde, »so werde ich mich nicht schämen, es zu gestehen.«

»Ob ich dann, wenn die Karre verfahren ist, noch für den Angeklagten einspringen werde, kann ich freilich nicht versprechen.«

»Ich nehme Kenntnis«, erwiderte Hilde, wandte sich an Dr. Nebel und fragte ihn:

»Und Sie?«

»Ich erkläre mich selbstredend mit meinem Kollegen solidarisch.«

»Sie legen also auch nieder?«

»Wenn es gewünscht wird?«

»Es wird gewünscht.«

»Aber Hilde, wir können ihn doch nicht ganz ohne Schutz lassen.«

»Er steht in meinem Schutz. Lebt wohl, ich muß zur Bahn! Ihr hört von mir aus Paris!«

 


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