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Gleich am nächsten Morgen überwarf sich Frau Elsa mit ihrem Chef. Da sie die Außenkundschaft hatte, so kam sie tagsüber kaum mit ihm in Berührung – und sie sahen sich eigentlich nur am Abend, um abzurechnen. Als sie heute früh ins Geschäft kam, um wie gewöhnlich zu fragen, ob neue Bestellungen eingegangen seien, rief sie der Chef zu sich, gab ihr die Hand und sagte:
»Frau Krüger, es tut mir leid, daß Sie den Kummer mit Ihrem Sohn haben. Ich hoffe, daß die Kundinnen keinen Anstoß daran nehmen und sich weiter von Ihnen bedienen lassen.«
»Ich werde ihnen schon klarmachen, daß mein Sohn unschuldig ist.«
»Am besten, Sie sprechen gar nicht davon. Die Damen werden ja so viel Takt haben und Sie nicht danach fragen.«
»Erlauben Sie, das hört sich ja an, als ob mein Junge den Überfall tatsächlich begangen hätte.«
»Leider hat es den Anschein.«
»Dann ist es meine Pflicht, ihn von diesem falschen Verdacht reinzuwaschen. Das bin ich ihm und mir schuldig.«
»Es wäre für Sie besser, wenn Sie es laufen und sich bedauern ließen.«
»Ich mich bedauern lassen? Wo ich so stolz auf den Jungen bin? Wer mir nicht glaubt, daß er unschuldig ist, dem sag ich, was ich von ihm denke.«
»Sie werden mir die Kunden nicht abspenstig machen.«
»Mein Sohn steht mir näher.«
»Wenn Sie so leichtfertig mit den Geschäftsinteressen umgehen, kann ich Sie nicht gebrauchen.«
»Soll das eine Kündigung sein?«
»Wenn Sie sich dieses Falles wegen auch nur mit einer Kundin überwerfen, so können Sie am ersten gehen.«
Frau Elsa verließ den Laden und schon bei der ersten Kundin, der Frau eine Justizrates, kam es zu folgender Auseinandersetzung: Die Frau Justizrat begrüßte sie in Gegenwart ihrer Jungfer mit den Worten:
»Na, Frau Krüger, Sie sind ja über Nacht eine berühmte Frau geworden.«
»Leider.«
»Sagen Sie das nicht. Sie stehen in allen Zeitungen. Man wird Sie interviewen und Bilder von Ihnen bringen. Wetten, daß Sie innerhalb der nächsten vierzehn Tage ein Dutzend Heiratsanträge haben?«
»Und mein Junge?«
»Mein Mann sagt, wenn er nicht vorbestraft ist, wird er mit einem Jahr Zuchthaus davonkommen.«
»Und Sie glauben, das überlebe ich?«
»Wenn ein guter Mann Ihnen zur Seite steht.«
»Mir liegt viel mehr daran, daß meinem Sohn ein tüchtiger Anwalt zur Seite steht.«
»Da kann ich Ihnen nur meinen Mann empfehlen.«
»Weshalb nicht?«
»Wenn sich die Unschuld meines Sohnes herausstellt . . .«
»Unmögliches können Sie von meinem Manne nicht verlangen.«
»Er ist unschuldig.«
»Das kann in diesem Fall nur eine Mutter glauben.«
»Weil sie ihren Sohn besser als jeder andere kennt.«
»Einen Verteidiger müssen Sie ja auf alle Fälle haben. Mein Mann hat gute Beziehungen zur Staatsanwaltschaft.«
»Und – wie hoch – glauben Sie, Frau Justizrat, wären seine Ansprüche.«
»Ich habe ihm schon gesagt, er muß es für Sie billiger machen.«
»Wie gut Sie sind.«
»Immerhin dreitausend Mark werden Sie zahlen müssen.«
Frau Elsa fiel der Kamm aus der Hand.
»Dreitausend Mark«, wiederholte sie. »Ich verdiene noch keine zwei im Jahr.«
»Das ist für eine Friseuse gar kein schlechtes Einkommen.«
»Woher soll ich das Geld dann nehmen?«
»Soviel ich weiß, sind Sie bei Ihren Kundinnen sehr beliebt. Sagen Sie den Damen, mein Mann hätte sich erboten, die Vertretung zu übernehmen, obschon sie nicht gerade aussichtsreich sei – immerhin sei ein Prozeß, den er führt, schon halb gewonnen –«
»Das ist ja ein Widerspruch.«
»Es ist die Wahrheit. Und wenn Sie schließlich nur zweitausend Mark zusammenbringen, den Rest würde mein Mann Ihnen stunden.«
»Ich muß einen Anwalt haben, der an die Unschuld meines Sohnes glaubt – wie soll er sonst dem Gericht den Glauben beibringen?«
»Das überlassen Sie nur ihm. Sie tun damit auch mir einen Gefallen. Ich brauche einen Fehpelz für milde Wintertage. Mein Persianer ist zu schwer. Er könnte ihn mir nicht abschlagen, wenn ich ihm den Prozeß vermittle.«
»Deshalb also?«
»Eine Hand wäscht die andere.«
»Frau Justizrat, ich finde das ekelhaft.«
»Was fällt Ihnen ein? Sie vergessen, wen Sie vor sich haben!«
»Wenn ich das vergesse, ist es Ihre Schuld.«
»Da sieht man mal wieder, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
»Soll das etwa heißen . . .«
»Jawohl! das heißt, daß ich mich über die Tat Ihres Sohnes gar nicht wundere – bei der Erziehung, die er bei Ihnen gehabt haben wird.«
»Frau Justizrat, Sie sind eine gemeine Person.«
»Wa––as bin ich?« – Sie sprang auf, öffnete die Tür und rief: »Hinaus mit ihnen!« – Und als Frau Elsa draußen war, stürzte sie an den Apparat, ließ sich mit Elsas Chef verbinden und sagte:
»So eine ordinäre Person schicken Sie in gute Häuser? Über meine Schwelle kommt das Verbrechergesindel nicht mehr.«
»Sie können die arme Frau doch nicht für die Tat ihres Sohnes verantwortlich machen.«
»Sie verteidigen ihn ja – also billigen Sie seine Tat.«
»Das tut Ihr Herr Gemahl in solchen Fällen doch auch – ohne deshalb die Tat seiner Klienten zu billigen.«
»Unterlassen Sie so unpassende Vergleiche.«
»Verzeihung, Frau Justizrat, mir war nur darum zu tun, Sie zu beruhigen.«
»Meinen Sie, ich rege mich über so etwas auf? Ich rief nur an, um Sie zu bitten, mir von morgen ab eine andere Friseuse zu schicken.«
Als Frau Elsa zu ihrer nächsten Kundin mehr wankte als ging und überlegte, wie sie die Bitte um eine Beihilfe zu einem Verteidiger am besten vorbringen könnte, war sie so in Gedanken, daß sie beinahe von einem Auto erfaßt worden wäre.
Wie gut wäre das gewesen, dachte sie, raffte sich aber gleich wieder auf und sagte sich: nicht schlapp werden, du mußt ja deinem Jungen helfen. Und so stieg sie voller Mut und Zuversicht die Treppe zu ihrer nächsten Kundin. Der Diener öffnete und sagte zu ihr:
»Guten Morgen, Frau Krüger. Na, was haben Sie denn angestellt?«
»Ich? – Sie meinen meinen Sohn?«
»Daran rühr' ich nicht. Das wird Ihnen schon schwer genug ankommen. – Ich meine Sie. Ihr Chef hat angerufen, Sie möchten sofort bei ihm anrufen.«
Und als Frau Elsa mit dem Chef verbunden war, sagte der zu ihr:
»Sie sind fristlos entlassen. Weshalb, wissen Sie. Eine Aushilfe ist unterwegs und wird in fünf Minuten dort sein.«
»Ich . . . ich . . . protestiere!« rief sie in den Apparat. Aber der Chef hatte längst angehängt. – Der Diener, dem sie sich erschloß, nahm sich ihrer an.
»Jetzt brauchen Sie zunächst einen Anwalt«, sagte er. »Einen für Ihren Sohn und einen für sich, um gegen diese fristlose Entlassung anzugehen.«
Frau Elsa lächelte und sagte in einem Ton, der ihm großen Schmerz verriet:
»Das kostet Vorschuß.«
Da geschah etwas, was man sonst nur in Romanen liest. Der alte Diener griff in seine Tasche, holte einen Schlüssel hervor und sagte mit verheißungsvoller Miene:
»Kommen Sie, Frau Krüger.«
Er führte sie in ein Zimmer, schloß einen Schrank auf und gab ihr ein Kuvert mit dreihundertfünfzig Mark.
»Das wollte ich dieser Tage auf die Sparkasse tragen. Aber nun findet es eine bessere Verwendung.«
Frau Elsa drückte dem Alten die Hand, lehnte es aber ab, das Geld zu nehmen.
»Sie wollen sich auch einmal zur Ruhe setzen«, sagte sie – und er erwiderte:
»Wird's ein Jahr später sein.«
Und er ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte das Geld nehmen.
»Gehen Sie zu Dr. Bloch«, riet er ihr. »Für unseren Herrn, der viel Prozesse führt, macht er alles. Sagen Sie nur, ich habe Sie geschickt. Er kennt mich, denn er verkehrt auch hier.«
Dieser erste Zuspruch eines Menschen wirkte so stark auf Frau Elsa, daß sie sich vor Freude beinahe ein Auto genommen hätte – nur, um recht schnell zu Dr. Bloch zu kommen. Aber sie besann sich und benutzte die Untergrundbahn.
Bei Dr. Bloch war das Wartezimmer überfüllt – und man fragte sie zunächst, ob sie angemeldet sei. Sie hatte die glückliche Eingebung, ja zu sagen und den Namen des Dieners und seiner Herrschaft zu nennen. Sie hatte dabei nicht das Bewußtsein, daß sie log. Sie fühlte, daß jemand hinter ihr stand und sie schützte – und das gab ihr Mut. Der Name der Herrschaft, den sie nannte, hatte guten Klang und bewirkte, daß sie nur dreiviertel Stunden zu warten brauchte.
»Sie kommen von Konsul Platz?« fragte Dr. Bloch, ein kleiner unscheinbarer Herr, dem man die Glorie nicht ansah, die seinen Namen umgab.
Frau Elsa bejahte und sagte: »Der Diener hat mich hergeschickt.«
Dann trug sie ihren Fall vor – und Dr. Bloch meinte:
»Ich werde sehen, was ich machen kann.«
Als sie das Sprechzimmer verließ, nahm er den Hörer ab – und als sie das Büro wieder betrat, sprach er mit dem Bürovorsteher. Der ließ sie ihren Namen unter zwei Vollmachten setzen und verlangte tausend Mark Vorschuß.
»Ich habe nur vierhundertfünfzig«, erwiderte sie.
»Dann zahlen Sie den Rest morgen.«
»Das kann ich nicht.«
»Wie wollen Sie denn nachher das Honorar bezahlen?«
»Was für'n Honorar?«
»Dreitausend für die Verteidigung Ihres Sohnes und fünfhundert für Ihren Zivilprozeß.«
»Ich habe keinen Pfennig Geld – und meine Stellung bin ich auch los.«
»Ja, dann rate ich Ihnen, zu einem anderen Anwalt zu gehen.«
»Nein! nein! Ich habe das Gefühl, er bekommt ihn frei. Ein anderer nicht.«
»Gut, dann versuchen Sie, das Geld aufzutreiben.«
»Ich habe keinen Menschen.«
»Und die Familie, die Sie hergeschickt hat?«
»Ich kam von da – aber hergeschickt hat mich der Diener.«
»Das haben Sie ja ganz geschickt angestellt.«
»In meiner Not.«
»Ich begreife.« – Er nahm den Hörer ab und sprach mit Dr. Bloch.
»Die Frau Krüger hat Schwierigkeiten mit dem Honorar.«
»Lassen Sie fünfhundert Mark nach.«
Der Bürovorsteher sagte es Frau Elsa.
»Ich will versuchen«, erwiderte sie – und verließ ohne jede Hoffnung das Büro.
Sie irrte stundenlag in den Straßen umher und las gegen Abend auf den Köpfen der Zeitungen Überschriften wie: –
»Der Eisenbahnräuber Richard Krüger gilt als überführt.«
»Sinnloses Leugnen des D-Zug-Attentäters.«
Sie kaufte sich in nervöser Hast ein paar Blätter und setzte sich damit in die nächste Konditorei. Alle schrieben sie dem Sinne nach dasselbe: »Obgleich ein Verbrechen selten so klar liegt wie dies, leugnet der Täter und gibt ganz unglaubwürdige Darstellungen. Der Unerschrockenheit des belgischen Juweliers, eines Millionärs, der in Brüssel höchstes Ansehen genießt, ist es zu danken, daß der Anschlag mißlang und kein Menschenopfer forderte. Da außer ihm nur der Zugführer als Zeuge in Betracht kommt, wird die Voruntersuchung in wenigen Tagen abgeschlossen sein und vermutlich noch im August Termin für die Hauptverhandlung festgesetzt werden.«
In der Not ihres Herzens sagte ihr das Gefühl, daß es nur einen Menschen in der Welt gab, dem sie sich nahe fühlte, der sie daher verstehen und, wenn es in seiner Macht lag, ihr auch helfen würde. Sie ging ans Telephon und bat, ohne ihren Namen zu nennen, Hilde Gugenzeil an den Apparat.
Hilde lag auf der Chaiselongue und polierte ihre Nägel. Sie schob sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter und rief in den Apparat:
»Ja, wer ist da?«
»Ich muß Sie sprechen, gnädiges Fräulein.«
»Wer sind Sie denn?«
»Frau Elsa Krüger.«
»Armes Geschöpf! Sie wissen gewiß nicht aus und ein.«
»Ich kann kaum mehr.«
»Ich hör es Ihnen an. Wo sind Sie denn?«
»In einer Konditorei – in der Nähe von Ihnen.«
»Dann nehmen Sie sich einen Wagen und kommen Sie schnell zu mir.«
Wenige Minuten später stand Frau Elsa ihrer Tochter Hilde gegenüber. Die Kräfte versagten ihr. Sie hielt sich an einem Tisch fest und sagte:
»So lange habe ich Sie nicht gesehen – und so schön sind Sie geworden.«
»Aber Frau Krüger,« erwiderte Hilde und trat auf Elsa zu. »Haben Sie jetzt Augen für so etwas?«
»Bei Ihrer Geburt hielt ich sie als erste in den Armen.«
»Die Mamsell hat es mir erzählt. – Aber setzen Sie sich doch. Sie sehen müde aus. Was kann ich Ihnen geben? Kaffee, Tee – oder wollen Sie etwas essen?«
»Nicht jetzt – vielleicht später.«
Sie setzte sich – und Hilde nahm ihr gegenüber Platz. So saßen sie sich wohl dreißig Sekunden lang gegenüber, ohne ein Wort miteinander zu reden. – Frau Elsa vergaß für diese Zeit das Unglück ihres Sohnes und war ganz nur den Gedanken hingegeben, daß sie ihrem Kinde gegenüber saß. Wie gut, dachte sie, daß ihre Kräfte nicht reichten, um aufzuspringen und sie an ihr Herz zu drücken.
Hilde dachte: weshalb sieht sie mich so an, wo sie doch ihres Sohnes wegen gekommen ist? Was will sie von mir? Und obschon sie keine Furcht kannte, war ihr doch unbehaglich zumute. Und als Frau Elsa noch immer schwieg, sagte Hilde:
»Der arme Richard! Ich habe ihn immer gern gehabt.«
»Sie . . . Sie müssen ihn weiter gern haben. Versprechen Sie mir das, Fräulein Hilde.«
»Er hätte das nicht tun dürfen. Es ging ihm doch gut.«
»So gut, daß nur ein Esel glauben kann, er wird auf der Reise zu seiner Mutter einen Juwelier anfallen, um ihn zu berauben.«
»Weshalb fuhr er denn nach Berlin?«
Frau Elsa erschrak. Diese Frage hatte sie sich seit der Katastrophe auf dem Bahnhof nicht wieder vorgelegt. Ja, weshalb kam er wirklich? Es lag ja gar kein Grund vor. Weder hatte sie Geburtstag, noch war Weihnachten oder Neujahr. Er hatte einen glänzenden Posten in Paris, den er aufgab – weshalb?
Hilde wiederholte ihre Frage:
»Weshalb ist er denn nach Berlin gekommen?«
»Ja, weshalb?« erwiderte Frau Elsa. »Er wird sicherlich seinen Grund gehabt haben.«
»Sie kennen den Grund nicht?«
»Er wollte mich überraschen.«
»Mitten in der Saison? Mir schreibt gerade eine Freundin aus Paris, bei Ciro herrscht Hochbetrieb.«
»So ein Junge hat doch auch seine Nerven. Er wollte ausruhen. Ich habe ihm geschrieben, er soll sich Ruhe gönnen. Sie wissen ja gar nicht, wie das Leben in Paris aufreibt.«
»Sie vermuten aber nur, daß er deshalb gekommen ist?«
»Ich weiß es. Ich als seine Mutter muß es doch wissen.«
Hilde war unbefriedigt und sagte:
»Also lassen wir das. Überlegen wir lieber, wie wir ihm helfen können.«
»Geld! Geld kostet es! Der Anwalt verlangt 3500 Mark.«
»Und – dieses Geldes wegen sind Sie zu mir gekommen?«
»Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie der einzige Mensch sind . . . ich sagte ja schon, daß ich Sie als erste auf den Armen getragen habe.«
»Daß Sie darauf so großen Wert legen. Das war doch ein Zufall.«
»Vielleicht auch nicht. Vielleicht sollte es so sein.«
»Ich will Ihnen mal etwas sagen, Frau Krüger. Ihr Sohn ist mir als netter Kerl in der Erinnerung und Sie als eine ordentliche Frau. Warum soll ich Ihnen nicht helfen, wenn Sie in Not sind?«
»Sie sind ein guter Mensch.«
»Dadurch aber, daß Sie mir einreden wollen, ich sei Ihnen zu Dank verpflichtet, verderben Sie sich alles.«
»Es ist doch so.«
»Es ist nicht so. Und wenn ich Ihnen helfe, tue ich es nicht aus Dankbarkeit, sondern weil Sie mir leid tun.«
Frau Elsa ergriff Hildes Hand, küßte sie und fragte:
»Nicht wahr, Sie mögen den Jungen leiden?«
»Ihren Sohn? Ich kenn' ihn ja kaum.«
»Hat er Ihnen nicht früher mit seiner Musik die Zeit vertrieben?«
»Ich erinnere mich.«
»Glauben Sie, daß ein Mensch, der so Geige spielt, schlecht sein kann?«
»Das hat wohl nichts miteinander zu tun.«
»Mir liegt daran, daß Sie nicht schlecht von ihm denken.«
»Ich sagte ja schon – ich helfe Ihnen.«
»Nein! Nein! Das genügt nicht. Sie müssen an seine Unschuld glauben.«
»Was habe denn ich damit zu tun?«
»Ich habe das Gefühl, wenn Sie von seiner Unschuld überzeugt sind, geschieht ihm nichts.«
»Sie reden sich da in einen Gedanken hinein, der doch gar keinen Sinn hat.«
»Ich bin verantwortlich für ihn.«
»Sie sind seine Mutter.«
»Und wenn ich es nicht wäre? – Wenn ich mir nur angemaßt hätte, es zu sein? – Wäre ich ihm dann nicht zehnfach, ja hundertfach verpflichtet?«
»Soll das etwa heißen, daß Sie nicht seine Mutter sind?«
»Einem Menschen muß ich es sagen. – Ich ertrage es nicht länger. – Nein! Ich bin es nicht.«
»Frau Krüger! Sie haben über das Unglück den Verstand verloren! Oder wollen Sie ihn etwa verleugnen, weil er im Unglück sitzt?«
»Ich will ihn weder verleugnen, noch bin ich von Sinnen. Über zwanzig Jahre lang, Tag für Tag, habe ich mir gesagt: du begehst ein Unrecht. Es gibt ein Naturgesetz, nach dem das Kind zur Mutter gehört – auch wenn es der Mutter schlecht geht.«
»Was reden Sie nur? Ich verstehe kein Wort.«
»Ich habe mich nie viel um Gott gekümmert – aber jetzt weiß ich, es gibt eine Gerechtigkeit.«
»Was haben Sie denn getan?«
»Das ist Gottes Finger! Er läßt es nicht länger zu, daß ich die Lüge aufrechterhalte. – So helfen Sie mir doch! Sie sehen ja, wie ich mich – quäle. Ich habe ein Kind – und ich habe es nicht. Und der Junge glaubt, daß ich seine Mutter bin, er ist mir ans Herz gewachsen wie ein zweites Kind. Ich habe zwei Kinder – und ich habe keins. Wissen . . . Sie . . . nun, wie's um mich steht.«
»Sie sind krank, Frau Krüger. Kein Wunder nach all den Aufregungen. Sie müssen wohin, wo Sie zur Ruhe kommen. Am besten in ein Sanatorium. Ich werde das in die Wege leiten.«
»Bleiben Sie!« rief Frau Elsa. »Was bin ich für ein Mensch, daß ich von mir rede, wo sie dem Jungen mit Zuchthaus drohen. Weiß Gott, Sie haben recht, ich weiß nicht mehr, was ich tue und rede. Aber wenn ich jetzt nicht alle meine Kräfte zusammennehme, dann geht er unter! Stehen Sie mir bei! Sie haben es mir ja zugesagt.«
»Wenn Sie ruhig und vernünftig sind, wird alles gut werden. Aber Sie dürfen jetzt die Nerven nicht verlieren.«
»Ich weiß, ich darf es nicht. – Vergessen Sie alles, was ich gesagt habe.«
»Ist Richard Ihr Sohn? – Das müssen Sie mir sagen – auf Ehre und Gewissen.«
»Sie werden mir trotzdem helfen – auch wenn Sie die Wahrheit wissen?«
»Nur dann.«
»Seine Mutter . . .«
»So reden Sie! – Seine Mutter ist wer?«
»Frau Kaete Gugenzeil.«
»Sie sind verrückt!«
»Ich schwöre es Ihnen.«
»Ihr Junge und ich – wir sind ja an ein und demselben Tag geboren.«
»Nur so war es möglich – und ich tat es, weil ich wollte, daß mein Kind es gut hat.«
»Ihr Kind . . . das bin dann . . . ich?«
»Nun wissen Sie's.« – Sie sank auf der Chaiselongue zusammen. – »Nach einundzwanzig Jahren. – Ich habe nun kein Geheimnis mehr.«
Hilde bewegte sich langsam auf die Chaiselongue zu – setzte sich neben Frau Elsa – nahm ihre Hand und sagte:
»Sie ha . . . du hast . . . es gut gemeint.«
Frau Elsa brach in Tränen aus, schlang die Arme um ihr Kind und drückte es an sich.
So saßen sie Minuten lang – und keiner sprach ein Wort. Dann machte Hilde sich frei und sagte:
»Was soll nun werden?«
»Hier muß alles bleiben, wie es ist.«
»Die Eltern waren immer gut zu mir.«
»Laß es ruhig so, mein Kind – schon des Mannes wegen, den du heiraten wirst – denn Richard kommt nun wohl nicht mehr in Frage. – Du bist verwöhnt – und eine einfache Frau wie ich paßt nicht in deine Kreise.«
»Das wird sich alles finden. – Zunächst müssen wir jetzt Richard helfen. Damit machen wir auch an den Eltern vieles wieder gut.«
»Sie hatten nichts auszustehen während der einundzwanzig Jahre. Sie hatten sich ein Mädchen gewünscht und alles darauf vorbereitet. Mir hat das nicht den Anstoß gegeben, aber doch den Entschluß erleichtert.«
»Ich bin nicht immer nett zu ihnen gewesen.«
»Glaubst du, ich habe mit dem Jungen nichts durchgemacht? Von euch Kindern hat sich keins etwas vorzuwerfen. Schuld an allem habe ich.«
»Du hast es gut gemeint.«
»Mit dir schon – aber an dem Jungen habe ich gesündigt.«
»Ich habe ihn oft um das freie Leben, das er führt, beneidet.«
»Und heut?«
»Das ist ein Unglücksfall, aus dem wir ihn herausretten müssen.«
»Ein Unglücksfall – das ist das richtige Wort. Auch wenn er es war, so ist es nur ein Unglücksfall gewesen und wir wollen ihn nicht verlorengeben.«
Unten fuhr das Auto der Frau Kaete Gugenzeil vor.
»Mama kommt!« rief Hilde – und sprang auf. Zum ersten Male tat es Frau Elsa weh, daß sie Mama sagte. Auch sie erhob sich und sagte:
»Du wirst uns helfen?«
»Ich gehe sofort zu meinem Anwalt. Der ist froh, wenn er etwas für mich tun kann.«
»Liebt er dich?«
»Ja und nein. Jedenfalls ohne mein Geld würde er mich nicht lieben.«
»Du wirst ihn heiraten?«
»Hättest du mich gestern gefragt, so hätte ich dich ausgelacht und nein gesagt.«
»Und heute?«
»Heute sage ich: vielleicht. – Dann nämlich: wenn er Richard frei bekommt.«
»Du bist mein Kind!« rief Frau Elsa und drückte sie an sich.
Hilde ließ sich nicht anmerken, wie erschüttert sie war. Sie erwiderte – nicht mit ganz freiem Gefühl – die Zärtlichkeit und sagte:
»Geh jetzt bitte, denn es wäre nicht gut, wenn Mama uns jetzt so beieinander sieht.«
Sie hat mehr Vernunft als ich, dachte Frau Elsa, drückte ihr noch einmal die Hand und ging.