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So sehr Frau Elsa an dem Jungen hing und alles tat, um ihn vorwärtszubringen, so wenig vergaß sie ihr Kind – und sie ertrug die Trennung nur, weil sie vor lauter Arbeit nicht dazu kam, ihrer Sehnsucht nachzugeben. Dann aber auch, weil sie wußte, daß ihr Kind es tausendmal besser hatte, als sie es ihm je bieten konnte. Aber von der Mutterliebe hatte diese primitive Seele doch eine zu hohe Vorstellung, als daß sie es für möglich hielt, Frau Gugenzeil könnte ihrem Kinde je ganz die Mutter ersetzen. Ja, so primitiv war sie in ihrer Gefühlswelt, daß sie Frau Kaete zu hassen begann, weil die sich – wenn auch unbewußt – Mutterrechte an ihrem Kinde anmaßte und ihr damit die Liebe eines Herzens nahm, das ihr gehörte. Daß sie selbst in viel stärkerem Maße sich schuldig machte – der Gedanke kam ihr wohl hin und wieder. Aber sie kämpfte gegen ihn an, indem sie doppelt gut zu dem Jungen war.
Vielleicht zu gut war sie, sah dem Jungen daher zuviel nach, ließ ihm zuviel Freiheit und schmeichelte seinem Talent und damit seinem Selbstbewußtsein. Kein Wunder, daß ihm die Schule nicht behagte, in der er sich unterdrückt und unverstanden fühlte. Der Mutter zuliebe hielt er aus, lebte aber der Musik und spielte schon, als er noch die Schulbank drückte, jeden Abend von acht bis eins in einem Café des Westens das Saxophon und die zweite Geige. Und als er endlich frei war, ging er, gleich im ersten Sommer, mit einer Jazzband in ein holländisches Seebad. Nun erst fühlte die Mutter, wie sehr sie an dem Jungen hing. Wenn man sie jetzt vor die Wahl gestellt hätte, sich für eins der beiden Kinder zu entscheiden – sie hätte wohl nicht, wie noch vor Wochen, jubelnd ihr Kind verlangt. –
Hilde entwickelte sich inzwischen dem Milieu entsprechend, in dem sie aufwuchs, zur Dame. Als sie sechzehn Jahre alt war, tanzte sie nach dem Urteil des Tanzmeisters, der sie allen Schülern und Schülerinnen als Beispiel vor Augen führte – »wie ein junger Gott«. – Aber auch sonst war sie nicht nur ihres hübschen Gesichtes und der schönen Erscheinung wegen liebenswert. Während ihre Freundinnen schon mit sechzehn Jahren die große Dame spielten, blieb sie, ohne ihnen in der Entwicklung nachzustehen, mädchenhaft und zurückhaltend.
Das Kinderfräulein, das jetzt Gouvernante hieß, sagte zu Frau Kaete:
»Gnädige Frau haben doch recht gehabt. Mit neun Jahren hat Hilde mit dem jungen Krüger schon über Dinge gesprochen, bei denen sie heute erröten würde.«
»Wie ist das möglich? – Was war denn das?«
»Über die Ehe zum Beispiel.«
»Mir wäre ganz lieb, wenn sie sich allmählich an den Gedanken gewöhnte. Mein Neffe in Hamburg hat sich zwar zu einem kleinen Taugenichts entwickelt. Aber ein Taugenichts, dessen Eltern fünfzehn Millionen haben, ist mir lieber als ein Habenichts, der die Tugend mit Löffeln gegessen hat. Tugend erlernt sich – zumal, wenn man so jung wie mein Neffe ist – die Armut hingegen ist eine chronische Krankheit, die meist erst mit dem Tode endet.«
»Sie wollen dieses entzückende Kind einem Taugenichts ausliefern? – Nur, weil er Geld hat?«
»Sparen Sie sich Ihre Entrüstung für vorkommende Fälle in Ihrer Familie.«
»Da gibt es das nicht – und vor allem: Hilde steht mir näher als meine Nichten.«
»Anhänglichkeit ist etwas Schönes. Sie dürfen darüber aber nicht vergessen, daß Sie nur Kinderfräulein sind.«
»Ich war vom ersten Tage an bei ihr. Sie hat keinen Pieps, keinen Schritt getan ohne mich.«
»Dafür sind Sie ja bezahlt worden.«
»Ich würde auch ohne Gehalt bei ihr bleiben.«
»Kränken Sie mich nicht. Im übrigen ist es höchste Zeit, daß die Sorge um Hilde einer Dame anvertraut wird. Wir haben eine Engländerin engagiert, so daß Sie leider überflüssig werden.«
»Ist das möglich?«
»Unsere gesellschaftliche Stellung verlangt das. Ich hatte schon mit neun Jahren eine Französin. Hilde wird siebzehn. Sie müßte längst Sprachen können.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich Hilde nicht mehr sehen soll.«
»Sie können alle Sonntage kommen und sie sich ansehen. Sie können auch bleiben, wenn Sie wollen. Aber nicht als Kinderfräulein, sondern als Stütze der Hausfrau.«
»Mit Wonne nehme ich das an.«
»Ich könnte Ihnen für diese Stellung allerdings statt achtzig nur sechzig Mark zahlen.«
»Was bedeuten die zwanzig Mark, wenn ich in Hildes Nähe bleiben darf.«
»Glauben Sie nicht etwa, daß für uns zwanzig Mark eine Bedeutung haben. Aber Ordnung muß sein.«
Also blieb das Kinderfräulein, das sich nunmehr der Mamsell anschloß. Diese beiden Frauen hielten sich für verpflichtet, darüber zu wachen, das nichts geschah, was für Hilde zum Bösen ausschlagen konnte.
Während Hilde so den letzten Schliff zur Dame erhielt, lernte Richard draußen das Leben der großen Welt kennen. Dreimal am Tage spielte die Jazzkapelle in dem eleganten Hôtel de la Plage von Ostende. Wenn es seinem Lehrer, der zugleich sein Manager war, gelang, ihn hier anzubringen und zu erwirken, daß Zunft und Behörden sich über Bedenken und Verordnungen, die einem kaum Siebzehnjährigen entgegenstanden, hinwegsetzten, so war das ein Beweis für sein gewiß nicht alltägliches Talent.
Kein Wunder, daß der hochgeschossene Junge, dessen hübschem Gesicht der Ausdruck des Staunens und der Erwartung besonderen Reiz verlieh, das Interesse der Gäste erweckte. Sie ließen ihn allabendlich an ihre Tische kommen – er mußte ihnen vorspielen – schöne und elegante Frauen flirteten mit ihm – er bekam Champagner zu trinken – man drückte ihm Banknoten in die Hand – und mehr als einmal befand sich darunter ein Stück Papier, auf dem eine Frau Ort und Zeit für ein Rendezvous bestimmte. Kein Wunder, wenn Richard in den ersten Wochen wie in einem Rausch dahinlebte, die täglichen Kartengrüße seiner Mutter unbeantwortet ließ und erst auf ein verängstigtes Telegramm hin zurückdepeschierte:
»Geliebte Mutter! Mir geht es ausgezeichnet. Ich bin begeistert von Ostende. Die Menschen sind hier sehr nett zu mir. Ich sende dir heute noch tausend Francs.
In Liebe dein treuer Sohn.«
Frau Elsa war über dies Telegramm beglückt und entsetzt zugleich. Wie kann der Junge so viel Geld für ein Telegramm ausgeben? Und dieser Leichtsinn, mir tausend Francs zu schicken. Seine ganzen Monatseinnahmen. Wenn er auch Wohnen und Essen frei hat, er braucht doch Wäsche und raucht auch mal eine Zigarette!
Dann wieder war sie stolz, daß alle ihn mochten und daß er so früh schon auf eigenen Füßen stand. Sie nahm auch das Geld für die Erneuerung ihrer Kleider und Möbel. Der Gedanke, daß der Junge durch seine Jugend und Unerfahrenheit gefährdet sei, kam ihr nicht. Erst als er ihr eines Tages unter anderem schrieb:
»Es ist erstaunlich, wie die Frauen auf meine Musik fliegen. Ich könnte, wenn ich wollte, jeden Tag eine andere haben. Gestern bekam ich das elfte Zigarettenetui geschenkt. Anfangs hatte ich solchen und anderen Geschenken gegenüber ein unangenehmes Gefühl. Wenn man aber sieht, wie die Menschen hier mit dem Gelde schmeißen, dann fragt man sich, warum soll man nicht auch teilhaben an dem reichen Segen? Ich mache morgen ein Paket und schicke dir all die schönen Sachen, die bei dir sicherer aufgehoben sind. Es ist wahrscheinlich, daß ich von hier aus für den Winter ein Engagement in Paris bekomme. Du kannst dir denken, wie froh ich wäre! Natürlich nehme ich nur an, wenn ich günstigere Bedingungen bekomme als hier. Denn in Paris kann man nicht mit den großen Nebeneinnahmen rechnen wie in Ostende.«
Diesen Brief las Frau Elsa wohl ein dutzendmal. Daß der Junge schon etwas Ernstliches mit den Frauen hatte, glaubte sie nicht. Er gefiel ihnen, und sie verwöhnten ihn wie einen großen Jungen. Viel schmerzlicher war ihr der Passus über Paris. Mit keinem Worte erwähnte er, daß damit die Trennung, unter der sie so litt, ins Ungewisse verlängert wurde. Sie kannte das gute, fast zu gute Herz des Jungen und wußte, mit welcher Liebe er an ihr hing. Wie stark mußte er von seiner Umwelt beeindruckt und in deren Bann geraten sein, wenn er nicht an die Einsamkeit und den Kummer seiner Mutter dachte!
Ganz anders stand Hilde Gugenzeil mit siebzehn Jahren da. Kurz vor ihrem Geburtstag fuhr ihr Vater nach Hamburg, um bei seinem Schwager das in Briefen oft behandelte Eheobjekt des Neffen mit seiner Tochter zum Abschluß zu bringen. Frau Kaete hatte ihm genaue Weisungen gegeben.
»Vor zwei Jahren«, sagte sie, »war Karl« – so hieß der Neffe – »für Hilde noch die große Partie. Du hattest damals erst zwei Aufsichtsratstellen, sein Vater einundzwanzig. Heute habt ihr beide sechzehn. Du hast dein Vermögen um Millionen vergrößert, er hat seins mit Mühe auf der alten Höhe erhalten. Karl, der Lümmel . . .«
»Sprich doch nicht so respektlos von deinem Schwiegersohn.«
»Noch ist er es nicht. Jedenfalls hat er so viel Schulden gemacht und so laut gelebt, daß er in Hamburg nicht mehr die Partien machen kann, die er noch vor zwei Jahren hätte machen können. Für Berlin ist er ein unbeschriebenes Blatt. Du mußt also durchsetzen, daß sein Erbteil für Hilde und ihre Kinder sichergestellt wird.«
»Ich werde es versuchen. Aber sage, wäre es nicht besser, du fährst hinüber und verhandelst mit deinem Bruder?«
»Besser wäre es schon. Aber da es sich doch zunächst nur mal um das rein Geschäftliche handelt. . . .«
»Gut, daß du das sagst. Ich wollte dich grade fragen, ob wir nicht erst mit Hilde reden wollen.«
»Die kennt den Lümmel doch gar nicht.«
»Sie waren doch bei Petersens auf dem Ball zusammen. Sie sind, wenn ich nicht irre, sogar miteinander zu Tisch gegangen.«
»Erinnere sie gar nicht daran. Er hat sie von den Nachtlokalen von St. Pauli unterhalten und sie gefragt, ob es wahr sei, daß es in Berlin keine Kokotten mehr gibt, weil so viele Frauen der Gesellschaft leichtsinnig sind.«
»So ein Halunke!«
»Menagier dich!«
»Hat sie dir das denn wiedererzählt?«
»Sie hat ihm geantwortet, sie wüßte das nicht, er solle mich fragen – was er denn auch gleich nach Tisch getan hat.«
»Hoffentlich hast du ihm gehörig den Kopf gewaschen?«
»Ich habe ihm gesagt, das wäre keine Unterhaltung mit einem jungen Mädchen von siebzehn Jahren – noch dazu, wenn man es heiraten will.«
»Sehr richtig.«
»Er hat mir darauf erklärt, meine Ansichten seien veraltet. Goethe war einmal. An seine Stelle sei van de Velde getreten – und ein Mädchen, das van de Veldes Bücher nicht praktisch erprobt habe, dürfe sich nicht wundern, wenn ihre Ehe unglücklich wird.«
»Und so einem Lümmel sollen wir unser Kind anvertrauen?«
»Bei ihm weißt du, wie er ist – man kann also einwirken. Bei jedem anderen weißt du's nicht – und er ist vielleicht viel schlimmer.«
»Mir ist der Gedanke, daß mein Kind . . .«
»Red nicht! Wenn es nach dir gegangen wäre, hätte sie den Verkehr mit diesem Krüger fortgesetzt – und hätte vielleicht heute schon eine Friseuse zur Schwiegermutter.«
»Wäre denn das so furchtbar?«
»Dir verwirren sich die Begriffe – oder du leidest an Moral insanity.«
Emil Gugenzeil sah ein, daß wie gewöhnlich jedes weitere Gespräch über dieses Thema zwecklos war. Also begnügte er sich, zu sagen:
»Vielleicht hast du recht.«
Und am nächsten Tage fuhr er nach Hamburg.