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Fräulein von Sternheim an Emilia
Hier in einem einsamen Dorfe, allen die mich sehen, unbekannt, denen, die mich kannten, verborgen, hier fand ich mich wieder, nachdem ich durch meine Eigenliebe und Empfindlichkeit so weit von mir selbst geführt worden, daß ich mit hastigen Schritten einen Weg betrat, vor welchem ich in gelassenen denkenden Tagen mit Schauer und Eifer geflohen wäre; o wenn ich mir nicht sagen könnte, wenn meine Rosine, wenn Mylord Derby selbst nicht zeugen müßten, daß alle Kräfte meiner Seele durch Unmut und Krankheit geschwächt und unterdrückt waren; wo, meine Emilia, wo nähme ich einen Augenblick Ruhe und Zufriedenheit bei dem Gedanken, daß ich heimliche Veranstaltungen getroffen – ein heimliches Bündnis gemacht, und aus dem Hause entflohen bin, in welches ich selbst durch meinen Vater gegeben wurde.
Es ist wahr, ich wurde in diesem Hause grausam gemißhandelt; es war ohnmöglich, daß ich mit Vertrauen und Vergnügen darin bleiben konnte; gewiß war meine Verbitterung nicht ungerecht; denn wie konnte ich ohne den äußersten Unmut denken, daß mein Oncle, und meine Tante mich auf eine so niederträchtige Weise ihrem Eigennutze aufopferten, und Fallstricke für meine Ehre flechten, und legen halfen?
Ich hatte sonst keinen Freund in D., mein Herz empörte sich bei der geringsten Vorstellung, daß ich nach wiedererlangter Gesundheit, Verwandte, die mich meines Ruhms beraubt, und diejenige wiedersehen müßte, die über meinen Widerstand und Kummer gespottet hatten, und alle schon lange zuvor die Absichten wußten, welche man durch meine Vorstellung bei Hofe erreichen wollte. Ja, alle wußten es, sogar mein Fräulein C., und keines von allen war edel und menschlich genug, mir, nachdem man doch meinen Charakter kannte, nur den geringsten Fingerzeig zu geben; mir, die ich keine Seele beleidigte, mich bemühte, meine Gesinnungen zu verbergen, sobald sie die ihrige zu tadeln, oder zu verdrießen schienen! Wie bereit war ich, alles, was mir Fehler deuchte, zu entschuldigen! Aber sie dachten, es wäre nicht viel an einem Mädchen aus einer ungleichen Ehe verloren. Konnte ich bei diesem vollen Übermaße von Beleidigungen, die über meinen Charakter, meine Geburt und meinen Ruhm ausgegossen wurden, den Trost von mir werfen, den mir die Achtung und Liebe des Mylord Derby anbot? Die Entfernung des Grafen, und der Gräfin R., ihr Stillschweigen auf meine letzten Briefe, die Unart, mit welcher mir die Zuflucht auf meine Güter versagt wurde; und, meine Emilia, ich berge es Ihnen nicht, meine Liebe zu England, der angesehene Stand zu welchem mich Mylord Derby durch seine Hand und seine Edelmütigkeit erhob; auch diese zwo Vorstellungen hatten große Reize für meine verlassene und betäubte Seele. Ich war vorsichtig genug, nicht unvermählt aus meinem Hause zu gehen, ich schrieb es dem Fürsten, dem Mylord Craston und meinem Oheim. Ich nannte meinen Gemahl nicht; wiewohl er so großmütig war, mir die volle Freiheit dazu zu lassen, ohngeachtet er damit die Gnade des Gesandten und seines Hofes verwürkt hätte, weil man den Gedanken fassen konnte, Mylord Craston hätte dazu geholfen, und dieser Argwohn widrige Folgen hätte haben können; sollte ich da nicht auch großmütig sein, und denjenigen, der mich liebte und rettete, durch mein Stillschweigen vor Verdruß und Verantwortung bewahren? Es war genug, daß er den Gesandtschaftsprediger gewann, dem ich die ganze Geschichte meiner geheimen Trauung schrieb, und welchem Mylord eine Pension gibt, wovon er wird leben können, wenn er auch die Stelle bei dem Gesandten verliert. Durch alles dieses unterstützt, reiste ich mit frohem Herzen von D. ab, von einem der getreuesten Leute des Lords begleitet; mein Gemahl mußte, um allen Verdacht auszuweichen, zurückbleiben, und den Festen beiwohnen, welche zween fremden Prinzen zu Ehren angestellt wurden. Dieser Umstand war mir angenehm, denn ich würde an seiner Seite gezittert und gelitten haben, da ich hingegen mit unserer Rosine glücklich und ruhig meinen Weg fortsetzte, bis ich in diesem kleinen Dorfe meinen Aufenthalt nahm, wo ich vier Wochen war, ehe Mylord den schicklichen Augenblick finden konnte, ohne Besorgnis zu mir zu eilen. Mein erster Gedanke war immer, meine Reise nach Florenz zu verfolgen, und Mylorden da zu erwarten; aber ich konnte seine Einwilligung dazu nicht erlangen, und auch itzt will er sich vorher völlig von Mylord Craston losmachen, und erst alsdann mit mir zum Grafen R., nach diesem aber gerade in sein Vaterland gehen.
In diesen vier Wochen, da ich allein war, hielt ich mich eingesperrt, und hatte keine andere Bücher, als etliche englische Schriften von Mylord, die ich nicht lesen mochte, weil sie übergebliebene Zeugnisse seiner durch Beispiel und Verführung verderbten Sitten waren. Ich warf sie auch alle an dem ersten kalten Herbsttag, der mich nötigte Feuer zu machen, in den Ofen, weil ich nicht vertragen konnte, daß diese Bücher und ich einen gemeinsamen Herrn, und Wohnplatz haben sollten. Die Tage wurden mir lang, meine Rosina nahm sich Näharbeit von unsrer Wirtin, und ich fing an mit dem zunehmenden Gefühl der sich wieder erholten Kräfte meines Geistes, Betrachtungen über mich und mein Schicksal anzustellen.
Sie sind traurig, diese Betrachtungen, durch den Widerspruch, der seit dem Tod meines geliebten ehrwürdigen Vaters, noch mehr aber seit dem Augenblick meines Eintritts in die große Welt zwischen meinen Neigungen und meinen Umständen herrschet.
O hätte ich meinen Vater nur behalten, bis meine Hand unter seinem Segen an einen würdigen Mann gegeben gewesen wäre! Meine Glücksumstände sind vorteilhaft genug, und da ich nebst meinem Gemahl den Spuren der edlen Wohltätigkeit meiner Eltern gefolgt wäre, so würde die selige Empfindung eines wohlangewandten Lebens, und die Freude über das Wohl meiner Untergebenen alle meine Tage gekrönt haben. Warum hörte ich die Stimme nicht, die mich in P. zurückhalten wollte, als meine Seele ganz mit Bangigkeit erfüllt, sich der Zuredungen meines Oheims, und Ihres Vaters widersetzte? Aber ich selbst dachte endlich, daß Vorurteil und Eigensinn in meiner Abneigung sein könnte, und willigte ein, daß der arme Faden meines Lebens, der bis dahin so rein und gleichförmig fortgeloffen war, nun mit dem verworrnen, ungleichen Schicksal meiner Tante verwebt wurde, woraus ich durch nichts als ein gewaltsames Abreißen aller Nebenverbindungen loskommen konnte. Mit diesem vereinigte sich die Verschwörung wider meine Ehre, und meine von Jugend auf genährte Empfindsamkeit, die nur ganz allein für meine beleidigte Eigenliebe arbeitete. Oh, wie sehr hab ich den Unterschied der Würkungen, der Empfindsamkeit für andere, und der für uns allein kennengelernt!
Die zwote ist billig, und allen Menschen natürlich; aber die erste allein ist edel; sie allein unterhält die Wahrscheinlichkeit des Ausdrucks, daß wir nach dem Ebenbild unsers Urhebers geschaffen sein, weil diese Empfindsamkeit für das Wohl und Elend unsers Nebenmenschen die Triebfeder der Wohltätigkeit ist, der einzigen Eigenschaft, welche ein zwar unvollkommnes, aber gewiß echtes Gepräge dieses göttlichen Ebenbildes mit sich führt; ein Gepräge, so der Schöpfer allen Kreaturen der Körperwelt eindrückte, als in welcher das geringste Grashälmchen durch seinen Beitrag zur Nahrung der Tiere ebenso wohltätig ist, als der starke Baum es auf so mancherlei Weise für uns wird. Das kleinste Sandkörnchen erfüllt seine Bestimmung wohltätig zu sein, und die Erde durch Lockernheit fruchtbar zu erhalten, so wie die großen Felsen, die uns staunen machen, unsern allgemeinen Wohnplatz befestigen helfen. Ist nicht das ganze Pflanzen- und Tierreich mit lauter Gaben der Wohltätigkeit für unser Leben erfüllt? Die ganze physikalische Welt bleibt diesen Pflichten getreu; durch jedes Frühjahr werden sie erneuert; nur die Menschen arten aus, und löschen dieses Gepräge aus, welches in uns viel stärker, und in größerer Schönheit glänzen würde, da wir es auf so vielerlei Weise zeigen könnten.
Sie erkennen hier, meine Emilia, die Grundsätze meines Vaters; meine Melancholie rief sie mir sehr lebhaft zurück, da ich in der Ruhe der Einsamkeit mich umwandte, und den Weg abmaß, durch welchen mich meine Empfindlichkeit so weit von dem Orte meiner Bestimmung verschlagen hatte. Oh, ich bin den Pflichten der Wohltätigkeit des Beispiels entgangen!Aber werden nicht eben durch dieses warnende Beispiel ihre Fehler selbst wohltätig? Warum findet sie nichts Tröstendes in dieser Betrachtung? – Weil auch die edelmütigsten Seelen nicht auf Unkosten ihrer Eigenliebe wohltätig sind. H. Niemand wird sagen, daß Kummer und Verzweiflung Anteil an meinem Entschluß hatten; aber jede Mutter wird ihre Tochter durch die Vorstellung meiner Fehler warnen; und jedes bildet sich ein, es würde ein edlers und tugendhaftere Hülfsmittel gefunden haben. Ich selbst weiß, daß es solche gibt; aber mein Geist sah sie damals nicht, und es war niemand gütig genug, mir eines dieser Mittel zu sagen. Wie unglücklich ist man, meine Emilia, wenn man Entschuldigungen suchen muß, und wie traurig ist es, sie zu leicht, und unzulänglich zu finden! So lang ich für andere unempfindlich war, fehlte ich nur gegen die Vorurteile der fühllosen Seelen, und wenn es auch schien, daß meine Begriffe von Wohltätigkeit über trieben wären, so bleiben sie doch durch das Gepräge des göttlichen Ebenbildes verehrungs- und nachahmungswürdig. Aber itzt, da ich nur für mich empfand, fehlte ich gegen den Wohlstand und gegen alle gesellschaftliche Tugenden eines guten Mädchens. – Wie dunkel, o wie dunkel ist dieser Teil meines vergangenen Lebens! Was bleibt mir übrig, als meine Augen auf den Weg zu heften, den ich nun vor mir habe, und darin einen geraden Schritt bei klarem Lichte fortzugehen?
Meine ersten Erquickungsstunden hab ich in der Beschäftigung gefunden, zwo arme Nichten meiner Wirtin arbeiten und denken zu lehren. Sie wissen, Emilia, daß ich gerne beschäftigt bin. Mein Nachdenken, und meine Feder machten mich traurig; ich konnte am Geschehenen nichts mehr ändern, mußte den Tadel, der über mich erging, als eine gerechte Folge meiner irregegangenen Eigenliebe ansehen, und meine Ermunterung außer mir suchen, teils in dem Vorsatze, Mylord Derby zu einem glücklichen Gemahl zu machen, teils in der Bestrebung meinen übrigen Nebenmenschen alles mögliche Gute zu tun. Ich erkundigte mich nach den Armen des Orts, und suchte ihnen Erleichterung zu schaffen. Bei dieser Gelegenheit, sagte mir die gute Rosina, von zwoen Nichten der Wirtin, armen verwaisten Mädchen, die der Wirt haßte, und auch seiner Frau, deren Schwester-Töchter sie sind, wegen dem wenigen, so sie genießen, sehr übel begegnete. Ich ließ sie zu mir kommen, forschte ihre Neigungen aus, und was jede schon gelernt hätte, oder noch lernen möchte; beide wollten die Künste der Jungfer Rosine wissen; ich teilte mich also mit ihr in dem Unterricht der guten Kinder; ich ließ auch beide kleiden, und sie kamen gleich den andern Tag, um meinem Anziehen zuzusehen. Vierzehn Tage darauf bedienten sie mich wechselsweise. Ich redete ihnen von den Pflichten des Standes, in welchen Gott sie, und von denen, in welchen er mich gesetzt habe, und brachte es so weit, daß sie sich viel glücklicher achteten, Kammerjungfern als Damen zu sein, weil ich ihnen sehr von der großen Verantwortung sagte, die uns wegen dem Gebrauch unsrer Vorzüge und unsrer Gewalt über andere aufgelegt sei. Ihre Begriffe von Glück, und ihre Wünsche waren ohnehin begrenzt, und die kleinen Prophezeiungen, die ich jeder nach ihrer Gemütsart machen kann, vergnügen sie ungemein; sie glauben, ich wisse ihre Gedanken zu lesen. Ich zahle dem Wirt ein Kostgeld für sie, und kaufe alles, was sie zu ihren Lehrarbeiten nötig haben. ich halte ihnen Schreibe- und Rechnungsstunden, und suche auch, ihnen einen Geschmack im Putz einer Dame zu geben, besonders lehre ich sie alle Gattung von Charakter zu kennen, und mit guter Art zu ertragen. Die Wirtin und ihre Nichten sehen mich als ihren Engel an, und würden alle Augenblicke vor mir knien, und mir danken, wenn ich es dulden wollte. Süße glückliche Stunden, die ich mit diesen Kindern hinbringe! Wie oft erinnere ich mich an den Ausspruch eines neuern Weisen, welcher sagte: »Bist du melancholisch, siehst du nichts zu deinem Trost um dich her –
lies in der Bibel;
befreie dich von einem anklebenden Fehler; oder suche deinem Nebenmenschen Gutes zu tun: so wird gewiß die Traurigkeit von dir weichen –«
Edles unfehlbares Hülfsmittel! Wie höchst vergnügt gehe ich mit meinen Lehrmädchen spazieren, und rede ihnen von der Güte unsers gemeinsamen Schöpfers! Mit welchem innigen Vergnügen erfüllt sich mein Herz, wenn ich beide, über meine Reden bewegt, ihre Augen mit Ehrfurcht und Dankbarkeit gen Himmel wenden seh, und sie mir dann meine Hände küssen und drücken: In diesen Augenblicken, Emilia, bin ich sogar mit meiner Flucht zufrieden, weil ich ohne sie diese Kinder nicht gefunden hätte.