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Zweiter Brief von Madam Leidens
Sie sind, liebste Freundin, mit dem Ton meines letzten Briefs besser zufrieden, als Sie es seit meiner Abreise aus D. niemals waren. Darf ich wohl meine Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen, weil sie mir von der Veränderung meiner Ideen und Ausdrücke spricht. Ich fühle diese Verschiedenheit selbst; aber ich finde auch, daß sie eine ganz natürliche Würkung der großen Abänderung meines Schicksals ist. Zu D. war ich angesehen, mit Glücksaussichten umgeben, und mit mir selbst zufrieden, daher auch geschickter, muntere Beobachtungen über fremde Gegenstände zu machen. Mein Witz spielte frei mit kleinen Beschreibungen, und mit Lob und Tadel alles dessen, was mit meinen Ideen stimmte, oder nicht. Nach dem wurde ich von Glück und Selbstzufriedenheit entfernt; Tränen und Jammer sind mein Anteil worden. War es da möglich, daß sich die Schwingen meiner Einbildungskraft unbeschränkt und freudig hätten bewegen können, da das Beste, was alle Kräfte meiner Seele tun konnten, gelassene Ertragung meines Schicksals war – eine Tugend, wobei der Geist wenig Geschäftigkeit äußern kann. Ihr Mann kannte mich; er sah: daß er mich gleichsam aus mir selbst herausführen, und mir beweisen mußte, daß es noch in meiner Gewalt stehe, Gutes zu tun. Dieser Gedanke allein konnte mich ins tätige Leben zurückführen.
Haben Sie Dank, beste Freunde, daß Sie meinen Entwurf zu einem Gesindhaus so sehr billigen und erheben; es dünkt mich, als ob jemand meiner gebeugten Seele die Hand reiche und sie liebreich ermuntere, sich wieder zu erheben, und mit einem edlen Schritte vorwärts zu gehen, da sie von dem kleinen dornichten Pfad, auf welchen sie durch einen blendenden Schein geraten war, nun auf einen ebenen Weg geleitet worden ist, dessen Seiten freilich mit keinen glänzenden Palästen und prächtigen Auftritten der großen Welt umfaßt sind , aber dagegen jedem ihrer Blicke die reinen Reize der unverdorbenen Natur in ihren physischen und moralischen Würkungen zeiget.
Diese Ermunterung hatte ich nötig, meine Freunde, weil ich schon so lange dachte, daß ich an dem edeln Stolz eines fehlerfreien Lebens keinen Anspruch mehr zu machen habe, indem ich die Hälfte meines widrigen Schicksals meiner eignen Unbedachtsamkeit zuzuschreiben hätte; und die Frucht dieser Betrachtung war Unterwerfung und Geduld. Hätte ich nach den Regeln der Klugheit gehandelt, und durch mein heimliches Verbindnis und Fliehn keine Gesetze beleidiget, so hätte ich in der Idee einer übenden Standhaftigkeit und Großmut schon eine Stütze des edlen Stolzes gefunden, welche der Schuldlose ergreift, wenn er durch Bosheit anderer, und unvorgesehenes Unglück in dem Genuß seines Vergnügens gestört wird. Er kann seine Beleidiger mit Herzhaftigkeit ansehen, oder seinen Blick mit ruhiger Verachtung von ihnen wenden; er sieht sich nicht nach Freunden, die ihn bedauren, sondern nach Zeugen seines bewundernswürdigen Betragens um; unter diesen Beschäftigungen seines Geistes stärkt sich seine Seele, und sammelt ihre Kräfte, um den Berg der Ehre, und des Wohlergehens auf einer andern Seite zu ersteigen. Ich aber mußte mich durch die Erinnerung meiner Unvorsichtigkeit in den Schleier der Verborgenheit hüllen, ehe ich mich der neuem Führung meines Geschickes überließ. Dennoch sehe ich blühende Blumen, welche die Hoffnung eines guten Erfolgs, zum Besten vieler Nachkommenden, auf meine nun betretenen Wege ausstreuet; Ruhe und Zufriedenheit lächeln mir zu; die Tugend, hoffe ich, wird mein Flehen erhören, und meine beständige Begleiterin sein. Das Glück meines Herzens wird größer und edler, da es Anteil an dem Wohlergehen so vieler anderer nimmt, seine angenehmsten Gewohnheiten und Wünsche vergißt, und sein Leben und seine Talente zum Besten seines Nächsten verwendet. Aber bei jedem Schritte meines jetzigen Lebens vergrößert sich das Glück meiner genossenen Erziehung, worin mir alles in den richtigen moralischen Gesichtspunkt gestellet wurde. Nach diesem bildete man meine Empfindungen, währenddem mein Verstand zu Beobachtungen über verkehrte Begriffe, und dadurch eingewurzelte Gewohnheiten geleitet wurde.
Wie glücklich ist es für mein Herz, daß mir die Wahrheit: daß vor Gott kein anderer, als der moralische Unterschied unserer Seelen stattfinde; so tief eingeprägt wurde! Was hätte ich in meinen itzigen Umständen zu leiden, wenn ich mit den gewöhnlichen Vorurteilen meiner Geburt behaftet wäre! Wie verehrungswürdig, wie verdienstvoll ist der kluge Gebrauch, den meine geliebte Eltern von der uns allen angebornen Eigenliebe bei meiner Erziehung machten! Wären kostbare Kleider und Putz jemals ein Teil meiner Glückseligkeit gewesen; wie schmerzhaft wäre mir der Anzug meiner gestreiften Leinwand? Reinlichkeit, und wohlausgesuchte Form meiner Kleider lassen meine ganze Weiblichkeit zufrieden vom Spiegel gehen; und was bleibt meiner höchsten Einbildung noch zu wünschen übrig, da ich mich in dieser geringen Kleidung mit Liebe und Ehrfurcht betrachtet sehe, und diese Gesinnungen allein dem Ausdruck meines moralischen Charakters zu danken habe?
Ich stehe früh auf, ich lege mich an mein Fenster, und sehe, wie getreu die Natur die Pflichten des ihr aufgelegten ewigen Gesetzes der Nutzbarkeit in allen Zeiten und Witterungen des Jahres erfüllt. Der Winter nähert sich; die Blumen sind verschwunden, und auch bei den Strahlen der Sonne hat die Erde kein glänzendes Ansehen mehr; aber einem empfindsamen Herzen gibt auch das leere Feld ein Bild dies Vergnügens. Hier wuchs Korn, denkt es, und hebt ein dankbares Auge gen Himmel; der Gemüsgarten, die Obstbäume stehen beraubt da, und der Gedanke des Vorrats von Nahrung, den sie gegeben, mischet unter den Schauer des anfangenden Nordwindes ein warmes Gefühl von Freude. Die Blätter der Obstbäume sind abgefallen, die Wiesen verwelkt, trübe Wolken gießen Regen aus; die Erde wird locker, und zu Spaziergängen unbrauchbar; das gedankenlose Geschöpf murret drüber; aber die nachdenkende Seele sieht die erweichende Oberfläche unsers Wohnplatzes mit Rührung an. Dürre Blätter und gelbes Gras werden durch Herbstregen zu einer Nahrung der Fruchtbarkeit unsrer Erde bereitet; diese Betrachtung läßt uns gewiß nicht ohne eine frohe Empfindung über die Vorsorge unsers Schöpfers, und gibt uns eine Aussicht auf den nachkommenden Frühling. Mitten unter dem Verlust aller äußerlichen Annehmlichkeiten, ja selbst dem Widerwillen ihrer genährten und ergötzten Kinder ausgesetzt, fängt unsere mütterliche Erde an, in ihrem Innern für das künftige Wohl derselben zu arbeiten. Warum, sag ich dann, warum ist die moralische Welt ihrer Bestimmung nicht ebenso getreu, als die physikalische? Die Frucht der Eiche brachte niemals was anders als einen Eichbaum hervor; der Weinstock allezeit Trauben; warum ein großer Mann klein denkende Söhne? – warum der nützliche Gelehrte und Künstler unwissende elende Nachkömmlinge? – tugendhafte Eltern Bösewichter? – Ich denke über diese Ungleichheit, und der Zufall zeigt mir eine unzählige Menge Hindernisse, die in der moralischen Welt (so wie es auch öfters in der physikalischen begegnet) Ursache sind, daß der beste Weinstock aus Mangel guter Witterung saure, unbrauchbare Trauben trägt – und vortreffliche Eltern schlechte Kinder erwachsen sehen. Etliche Schritte weiter in meiner Vorstellung stehe ich still, kehre in mich selbst zurück, und sage: Ist nicht die helle Aussicht meiner glücklichen Tage auch trübe geworden, und der äußerliche Schimmer wie vertrocknetes Laub von mir abgefallen? Vielleicht hat unser Schicksal auch Jahreszeiten? Ist es: So will ich die Früchte meiner Erziehung und Erfahrung während dem traurigen Winter meines Verhängnisses zu meiner moralischen Nahrung anwenden; und da die Ernte davon so reich war, dem Armen, dessen kleiner, ungebesserter Boden wenig trug, davon mitteilen, was ich kann. Würklich hab ich einen Teil guter Samenkörner in eine dritte Hand gelegt, um einen magern, dürren Boden anzubauen. Der sanften Freundschaft ist die Pflege anvertraut, und ich werde acht Tage lang die Oberaufsicht haben. Leben Sie wohl!