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Am Himmel stand ein ruhiges Glänzen.
Die warmen Sommerabende halten ein solches Rot fest, zerfasern es nicht, zermürben es nicht, geben ihm vielmehr eine höhere Leuchtkraft, eine schönere Tiefe, die kaum wahrnehmbar und nur ganz allmählich verblutet.
Die Welt war mit satten Farben bedeckt, und auf dieser satten Folie ruhte die kleine Stadt, als hätte die feine Schere eines Silhouettenschneiders sie entworfen.
Das ganze Land blühte unter dem Rausch köstlicher Rosen. Sie hingen von den Weiden und Pappeln, sie folgten den Deichflanken in breiten Girlanden, sie spiegelten sich in den abgrundtiefen Binnenkolken wider.
Der Vorabend der Primiz konnte mit keinem schöneren Feuerwerk aufwarten. Aus den Fenstern sah es mit purpurnen Augen. Von den sich über die Straßen hinziehenden Kränzen träufelte es wie von böhmischen Granaten.
Alles schmückte sich für die morgige Feier.
Fahnen hingen von den Giebeln und Dächern, schaukelten sich im Wind und berührten mit ihren Troddeln die Spitzen der Maibäume, die wie zartgrüngekleidete Mädchen die Straßenzeilen entlang standen. Mit feinem Rascheln spielten die herzförmigen Blättchen gegeneinander. Ein warmer Hauch nach geschnittenem Kalmus und Buchsbaum wölkte den nächsten Tag ein, fleißige Hände rückten buntilluminierte Gipsfiguren hinter die Scheiben oder brachten Papptafeln an, die in sinnvollen Sprüchen und Ausrufen auf die Bedeutung des Festes hinwiesen. Schuster Kogeleboom hatte es sich nicht nehmen lassen, den heiligen Krispinus auszustellen, Dores Jansen das Lamm Gottes, in dem linken Vorderpfötchen ein goldenes Kirchenfähnchen, ein himmelblaues Bändchen um den Hals und unter sich eine spinatgrüne Hallelujawiese, über und über mit weißen, gelben und violetten Osterblümchen gesprenkelt. Die Kinder hoben sich auf den Zehenspitzen, um das eigenartige Kunstwerk bewundern zu können. Die Alten standen in Gruppen zusammen, lobten die zierliche Anordnung und verstiegen sich schließlich zu der etwas gewagten Behauptung, ähnliches nie in ihrem ganzen Leben gesehen zu haben. Und es war auch zu prächtig! Dores hatte sich selbst übertroffen. Der Zudrang der Neugierigen nahm stetig zu. Selbst Joseph Vieth aus der Kaninchengasse, ein in den Ruhestand versetzter Ziegenfellhändler, der viel im Lande herumgekommen war und bereits in die neunzig hineinwuchs, schlurfte auf seinen kirschroten Plüschpantoffeln heran, bewunderte auch seinerseits das Gipslämmchen auf der spinatgrünen Hallelujawiese und sagte: »Gott, was 'ne Wull!« – nahm seinen etwas fettigen Kaftan zusammen und grüßte. Dann schlurfte er wieder in die Kaninchengasse, las die Zeit mit noch immer scharfen Augen von seiner silbernen Uhr ab und meinte: »Ich will mir die Ohren verstopfen. Noch 'ne halbe Stunde, und dann schießen sie mit die barbarischen Böllers.«
Vor dem Rathaus und im Angesicht des Standbildes des Reitergenerals von Seydlitz hatte der Herr Polizeidiener Servatius Cäsar das städtische Stückwerk aufgepflanzt: drei eiserne Katzenköpfe auf Reihe, ein Pulvertönnchen und zwei Kisten mit Werg, Papierpfropfen und Lunten. Punkt neun Uhr sollte die erste Ovation durch die Stadt rollen.
›Ultima ratio regis‹ stand auf dem mittleren Böller geschrieben.
»Das stimmt,« konstatierte Herr Cäsar. Selbstgefällig stolzierte er in voller Montur zwischen den Geschützen umher, setzte den Umstehenden das Eigenartige und Schwierige des Salutschießens auseinander, bei dem nur vorsichtige und kundige Beamte zu gebrauchen seien, und erzählte von einem grundgelehrten Mönch, dem man die Erfindung des Pulvers zu verdanken habe. »Ultima ratio regis, das heißt soviel wie Suum cuique oder Jedem das Seine. Das will ich hiermit gesagt haben, denn wer nicht kumpabel ist, die Geschütze bedienen zu können, der soll die Finger davon lassen. Aber ich habe die Ehre.«
Auch die städtische Fahne, die vom Rathausturm herabwehte, pflichtete ihm bei, denn sie knatterte plötzlich so lustig und fröhlich auf, daß Herr Cäsar aufblickte und ihr freundschaftlichst zuwinkte.
Dores Jansen legte unter Beihilfe seines Sohnes die letzte Hand an die Kunstpforte, die sich am südlichen Kirchenportal erhob.
Thyß schwebte mit einer beschriebenen Tafel um den Hals zwischen Himmel und Erde. Von dem höchsten Bogen des mit Kränzen und buntfarbigen Tuchstreifen umkleideten Gerüstes sollte sie herabgrüßen.
Sein breites Kartoffelgesicht sah wie eine prächtige Pfingstrose, über deren Blütenkopf eine Artilleriemütze gestülpt war, aus dem saftigen Laubwerk heraus.
Der Alte stand unten, nahm von Zeit zu Zeit eine sachliche Stärkung aus der Schnapsbouteille und gab die nötigen Anweisungen.
»Ich bitte dir, Thyß,« rief er in die Girlanden hinein, »zwei Daumens links. Noch weiter! Halt! – Nu Propter und Prätorius 'ne Handbreite tiefer. Noch tiefer! Höher! Gut so!«
Dann wurde gehämmert.
Gleich darauf stand Thyß neben seinem Erzeuger.
»Pompös!« sagte der Alte, denn das ›Veni, creator spiritus‹ leuchtete in goldenen Buchstaben lieblich und heilverkündend von dem mittleren Bogen herunter.
»Kolossal!« sagte Thyß und schob die Artilleriemütze höher, »da kann für meinetwegen auch der Herr Hauptmann Liese hindurchtriumphieren.«
»Meine ich auch,« gab der Alte zurück. »Überhaupt wir zwei beide. Stelle mir und dir nackig in Indigo, wir sind doch die, die wir sind. Allerhand Achtung.«
Er reichte ihm die dünnwandige Flasche.
»Merci!«
»Firnis coronat opium,« sagte der Alte.
Thyß sah ihn an, als wenn er fragen wollte: »Woher diese Weisheit?«
»Von Herrn Roloffs, der es in der Gewohnheit besitzt, also zu reden, und es bedeutet soviel wie: Lack über die Sache.«
Das sah Thyß denn auch ein und gab die leere Flasche zurück.
Noch einmal begutachteten Vater und Sohn das aufgerichtete Bauwerk, fanden gegenseitig, daß es gut war und freuten sich dessen.
Hierauf suchten sie ihr Handwerkszeug zusammen, schulterten es und gingen nach Hause.
Mit ihnen lief das nadelscharfe »Sriii!« der hin- und herschießenden Schwalben. – – –
Das feierliche Abendrot wurde nicht schwächer. Im Gegenteil, es nahm an Farbigkeit zu. Die weite Welt stand in zuckenden Flammen.
Ein weiches Tuch um die Schultern geschlagen, leichtgefesselt und in dem schmiegsamen Gang ihres ebenmäßigen Körpers schritt Anna Pulcher in diese köstliche Lohe hinein.
Ihre junge Brust, die sich scharf unter dem leichten Kleid abhob, ließ die feinen Glieder ihrer Gestalt noch ebenmäßiger erscheinen.
Die halbgeschlossenen Augen verlängerten sich zu einem versonnenen Lächeln.
Lässig und doch mit sichtlicher Eile ging sie ihres Weges.
Die Stadt lag hinter ihr.
Über ihr war das verlorene Rauschen von Kastanienbäumen.
Sie mußte an dem kleinen Friedhof vorüber.
Die Lebensbäume standen dunkelblau gegen den leuchtenden Himmel. Kreuze und Gräber waren rosig umkleidet. Der Kalvarienberg ragte in ernster Glorie auf. Es war so, als spräche der Erlöser:
»Heb' das Auge, das Gemüte,
Sünder, zu dem Berge hin;
Sieh die Qualen, sieh die Güte,
Sieh, ob ich dein Heiland bin.«
Mit zwingender Gewalt kamen die Worte herüber.
Anna Pulcher hörte die Worte.
Unwillkürlich blieb sie stehn.
Als sie weiter ging, begegnete ihr Stephan.
Unbedeckten Hauptes kam er vom Kirchhof.
Sein stilles Gesicht war noch stiller denn an sonstigen Tagen.
Er war am Grab seiner Mutter gewesen, wo er ihr die morgige Primiz angesagt hatte.
Seine Soutane wehte im Wind.
Er lächelte, und lächelnd nahm er die Hand seiner Schwester.
»Wohin gehst du?« fragte er mit sanfter Betonung.
»Ich will Hermann entgegen.«
»Er kommt über Emmerich?«
»Ja, er kommt über Emmerich. Er nimmt den Weg zu Fuß über die Deiche.«
»Und du hast ihn lang nicht gesehn?«
»Seit einem Jahr nicht.«
»Und du hoffst, mit ihm glücklich zu werden?«
»Ja, Stephan, ich hoffe darauf.«
Da nahm er das Gesicht seiner Schwester zwischen seine keuschen und weißen Hände und legte ihr den Mund auf die Stirne.
»Ich segne dich, Anna.«
Sie fühlte die Heiligkeit der Stunde und die Weihe des Ortes.
Ihr Haupt senkte sich tiefer.
Sie wand den Arm um den Hals ihres Bruders.
»Ich danke dir, Stephan.«
Dann schieden sie.
Das weiche Tuch fester um die Schultern gezogen, ging sie dem nahgelegenen Deich zu, der sich über Wissel und Beilerward fort bis an das Emmericher Eiland erstreckte. Als sie ihn erreichte, lag das brütende Licht der untergehenden Sonne tief am Horizont. Die hohen Pappeln, die im Vorland standen, raschelten unruhig mit ihren Blättern. Dann wurden sie stiller. Schließlich waren sie nicht mehr zu hören.
Die Gluthitze des Tages ließ nach. Ein wolkenloser Himmel überspannte die Ebene. Nur tief im Süden ruhten unregelmäßige Streifen am Boden. Die Kraft fehlte ihnen, sich höher zu recken.
Anna Pulcher ließ die stummen Bäume hinter sich. Jetzt war sie allein, so allein, wie nur ein Mensch sein konnte. Nichts regte sich in der endlosen Weite. Nur das Wetzen einer Sense kam unbestimmt herüber.
Die Türme der Wisseler Basilika standen wie zwei stumpfe Schiffsmasten auf dem ruhigen Grasmeer. Im großen Bogen lief der Deich auf sie zu. Langsam kroch er an sie heran. Er schien sie umschleichen zu wollen. Ihre Schattenrisse wurden immer schärfer und sichtiger.
Die feurige Lohe verblaßte zu farblosen Garben, die schließlich zergingen.
Ein zarter Resedaton ging über die Landschaft, und in diesem Resedaton wurde das Gegenständliche zu einer greifbaren Deutlichkeit. Die Fernen rückten näher heran; Himmel und Erde waren von einer unendlichen Klarheit.
Anna Pulcher war bis zur Roten Schleuse gekommen.
Hier blieb sie stehen.
Hochaufatmend sah sie in das Licht des sterbenden Tages.
Ihre Brust hob und senkte sich. Jede Linie ihres geschmeidigen Körpers war deutlich erkennbar. Das eigentümliche Glänzen um sie her verlieh ihr den Reiz seltsamer Schönheit, als wäre sie unter einem anderen Himmel und im Lande der Sonne geboren.
Sie hatte nicht ihresgleichen in der engeren Heimat. Die Tochter eines schlichten Webers! – und dennoch wie ein Königskind, das hinausgegangen war, seinen Liebsten zu finden. Also stand sie und suchte die Gegend ab, die immer heller wurde und dem Gesicht keine Schranken mehr setzte – so feinmaschig wie gesponnenes Glas war die ganze Umgebung geworden.
Und doch hörte sie nichts und vernahm sie nichts ... nur das monotone Rinnen der Zeit und das Klopfen des eigenen Herzens.
An die niedrige Mauer der Schleuse gelehnt, hatte sie nur den einen Gedanken, bald glücklich zu werden.
So verging Minute um Minute.
Plötzlich fuhr sie auf.
Ein einzelner Punkt löste sich vom Hintergrund ab und nahm stetig an Größe zu.
»Das ist er ...!«
Sie wollte ihm entgegen, wollte die Wegstrecke zwischen sich und ihm um die Hälfte verkürzen, aber dann dachte sie wieder: »Hier an der Roten Schleuse bist du ihm zum erstenmal begegnet, hier ruhte Mund auf Mund, als vor Jahren die Welt den Atem anhielt und die heiße Liebe zweier jungen Menschenkinder benedeite. Hier willst du auch wieder in seine Arme hinein, nach langer Trennung und nach den Stunden tiefen Schmerzes und herber Entsagung.«
Und so wartete sie denn und sah den Punkt immer deutlicher werden.
Dann schloß sie die Augen und horchte hinaus wie auf das Kommen einer frohen Botschaft. Schweigen, endloses Schweigen! Nur die Sense von eben begann wieder zu singen, dicht an der Erde hin, wie ein aufgescheuchter Vogel, der mit ängstlichem Sirren irgendwo einfallen wollte. Sie sträubte sich gegen dieses Sensenklingen, und sie hörte es dennoch.
Der Ton verstärkte sich. Er rief bald ferner, bald näher. Immer aufdringlicher wurde das Sicheln und Wetzen.
Ihr wurde unheimlich.
Sie blinzelte durch einen schmalen Streifen ihrer Lider hindurch, aber weit und breit war kein Schnitter zu sehen. Und dennoch hing der Ton in der Luft, kroch die Deichflanken entlang, um gleich darauf wie unter Halmen und duftigen Sommerblumen hinzuwelken.
Da vergaß sie ihn wieder, und ihre Wünsche eilten dem Geliebten entgegen.
Er mußte bald kommen. –
Wie das stürmte durch Hermann Verheyen! Eine jubelnde Freude war in ihm. Heiße Pläne und glückliche Fragen an die Zukunft überflogen sich wechselseitig wie siegreiche Falken. Das Jahr in Holland hatte ihm gut getan. Der junge Held von der Spellner Heide war noch schnittiger und sehniger und das blonde Bärtchen noch blonder und krauser geworden. Auf der nervigen Brust trug er die Rettungsmedaille. Zur Feier des Tages, ihr zuliebe trug er sie heute, ein Zeichen dafür, daß an seinem Herzen gut ruhen war, hier bei der Medaille des Königs und bei echter und lauterer Mannestat. Hier war die Zukunft gesichert, konnte sich das Leben entfalten, durfte Anna lächeln, wie die Glücklichen lächeln. Zwischen ihrem und seinem Herzen sollte sie liegen – die Medaille des Königs. So und nicht anders.
Etwas wie Stolz durchfuhr ihn. Er war würdig, die Liebe eines jungen Weibes zu kosten. Mannestat hebt den Kopf zu den Sternen.
Ja – die Medaille des Königs ...
Selbstlos hatte er sein Dasein in die Schanze geschlagen. Ein kurzer Entschluß nur, aber dieser kurze Entschluß war blank geworden und lag jetzt als ein unscheinbares Ding auf dem schlichten Rock und hatte doch Worte, die lauter und eindringlicher sprachen als die des besten Kanzelredners auf Erden. Sie hatten einen festen Schritt unter sich, gingen mit offener Stirne ihres Weges und sprachen zu jedem, der es hören wollte: »Ich bin nur ein geschlagenes Metall, lumpig an Geldeswert, aber Hände werden erscheinen, die mich aufheben und in den Himmel tragen.«
Unter diesen Gedanken schritt er rüstig fort und rollte den Weg unter sich auf.
Drüben stand sie – das Heil seiner Tage.
Er hatte sie schon lange gesehen.
Bei einer Erlengruppe, die unvermittelt aufragte, flog ihm der lustige Schalk in den Nacken. Er bog von der Deichkrone ab und benutzte den schmalen Binnenweg, der unmittelbar in der Tiefe vorbeiführte. So konnte er ungesehen zur Schleuse gelangen. Lautlos gingen seine Schritte über den bewachsenen Boden.
Jetzt sah er sie stehen, dicht vor sich, den Rücken gegen die Schleusenmauer gelehnt, den Blick nach rechts gewendet. Ihre Augen waren wie im Erstaunen geöffnet.
Sie sah nichts mehr.
Aber dann ein Jubelschrei, der alles in sich barg, was nur ein Menschenherz zu umschließen vermochte: Sehnsucht und Liebe, Erwartung und Hoffnung, Entsagen und endliches Finden.
Ihr erstes Begegnen war wie ein jauchzendes Lied, ihre erste Umarmung wie das sich Aneinanderschmiegen zweier Blütenzweige in laulicher Frühlingsnacht. Und dann kam das Stammeln, das ewige »Du und Du« und das selige Geben und Nehmen, das erfinderisch war in seinen Einzelheiten, in den Schwingungen trunkener und doch verhaltener Freude. In heiliger Feier ruhten die Lippen zusammen. Der Kuß währte endlos und schmerzte in seiner Keuschheit. Und sie schwelgten in diesem Schmerz und genossen seine köstliche Herbe, bis sie ihren Oberkörper zurückwarf und mit beiden Händen sein Antlitz umspannte.
»Wie gut du bist!« hauchte sie stammelnd.
Ihr junger Leib bog sich ihm verlangend entgegen.
»Hermann!«
»Geliebte!«
Und wieder drängte sich Brust an Brust, die Medaille des Königs dazwischen, und wieder fanden sich ihre Lippen in schmerzhafter Keuschheit.
Lautlos, wie auf ein stummes Geheiß, glitten sie nieder, sie an ihn gelehnt, er den Arm um ihre Schulter geschlungen.
So saßen sie lange und sahen in das eingedunkelte Land hin, das allmählich einschlafen wollte. Über ihnen blinkten bereits einzelne Sternchen, und tief am Horizont spielte Gottes Hand mit lautlosen Blitzen, die wie haarfeine Linien am Boden huschten und in den dunklen Wäldern verschwanden. Ab und zu das geheimnisvolle Sensen, das zeitweilig anschwoll, um dann zu einem kaum wahrnehmbaren Seufzen zu werden.
Sie saßen wie glückliche Kinder, dicht aneinandergeschmiegt, willenlos gebend, willenlos nehmend, als weit hinter ihnen die ersten Freudenschüsse ertönten.
Dumpf rollten sie durch das Träumen der weiten Niederung.
»Du!« fuhr sie auf und drängte sich näher.
»Das ist für morgen,« sagte er leise.
»Nicht sprechen, nicht sprechen!« mahnte sie glücklich. »Du sollst die jetzige Stunde nicht stören,« und sie beugte sich zu ihm und bedeckte seinen Mund mit innigen Küssen.
Das hingebende Weib in ihr wollte sein Recht. Um ihre Nasenflügel zuckte es leidenschaftlich auf, und der Streifen zwischen ihren halbgeschlossenen Lidern war zu einem dünnen Seidenfaden geworden.
»Ach, du, du, du ...!« keuchte er zärtlich, umfaßte ihren biegsamen Leib und preßte ihn an sich. »Und nun erzähle mir alles.«
»Nicht sprechen, nicht sprechen! Morgen sollst du alles erfahren!« Der Duft ihres Körpers umfing ihn. Ihr jungfräuliches Sehnen faltete sich wie ein Blütenkelch auseinander.
Da beugte er ihren Kopf zurück und sah im tiefen Grunde ihrer aufgerissenen Augen ein Sternchen blinken, als wäre es aus dem Himmel gefallen.
»Wie schön, wie schön ...!« stammelte er fassungslos. »Das halte ich fest, das soll mir selbst der Tod nicht nehmen.«
»Sprich nicht vom Tod,« sagte sie fröstelnd.
Sie umgriff die Rettungsmedaille: »Wir wollen doch leben ...«
»Ja, leben, leben ...!«
Sie hörten und sahen nichts mehr.
Sein Haupt ruhte in ihrem Schoß. Mit zitterigen Händen glitt sie durch sein Haar, über seine hämmernden Schläfen.
Hinter ihnen, weit hinter den stillen Bäumen und Häusern, fielen erneute Schüsse. Wie in Wattebauschen gehüllt kamen sie näher.
Sie merkten es nicht. Sie hatten die Welt vergessen und dachten nicht mehr an die rinnenden Augenblicke. Die Stunde regierte, preßte Mund auf Mund und drückte die Herzen zusammen.
Die Blitze am tiefen Horizont nahmen an Helligkeit zu. Auch das Wetzen und Schleifen klang bestimmter und schärfer. Es war jenseits der Böschung, dann ganz dicht in der Nähe ... Es senste und mähte.
In demselben Augenblick lief der Schnitt eines blanken Eisens über sie fort.
Da fuhren sie auf.
Der verblödete Deicharbeiter Grades van Hüllem stand hinter ihnen. Mit seinem Totengesicht grinste er sie an.
»Himmelsakrament! – das ging hart am Leben vorüber,« meinte er lachend und nahm wieder seine Beschäftigung auf. Sich in den schwerfälligen Hüften wiegend, latschte er weiter. Er hatte keine Gedanken für das soeben Geschehene. Er kannte die beiden kaum. Ihm war alles egal. Statt der Halme für seine Ziegen, hätte er auch Menschen von der Koppel geschlagen. Was hatten sie auch am späten Abend zwischen den hohen Gräsern zu sitzen? – und seine Sense warf wieder Rispen und Wiesenblumen zu Boden, alles übereinander, alles durcheinander ...
Verstört sahen sich die beiden an.
Sie fieberte am ganzen Körper.
Ihre Hand hielt die Medaille umfaßt.
»Das war der Tod,« sagte sie leise.
»Und hier ist das Leben!« jubelte er auf und riß sie an sich.
»Ja, das Leben, das Leben ...!« weinte sie still vor sich hin, »das köstliche Leben.«
Aneinandergeschmiegt traten sie den Heimweg an, und als die Ruhe wiedergekommen, waren sie wie zwei verwunschene Menschen, die ihrer Jugend nachgingen und dem feinen Blütenduft einer seligen Liebe. An das Blinken und das haarscharfe Zischen der Sense dachten sie nicht mehr. Die zog ihres Weges, näselte über den Boden hin und war nichts weiter mehr als eine Todbringerin für Gräser und Blumen. In ihnen aber war das Leben, das jauchzende, allbefreiende Leben, und mit diesem Glücksgefühl in der Brust betraten sie die Stadt, schritten sie unter Girlanden und leise wehenden Fahnen, nahmen sie für heute Abschied an dem langen Hause mit den blauen Fensterläden.
Geräuschlos trat sie ein, aber so geräuschlos es auch sein mochte, der Vater hörte ihr Kommen.
Er saß neben dem Webstuhl. Der matte Glanz einer Lampe umgab ihn. Er las in der Bibel.
Über ihm gingen weiche Schritte und die monotonen Worte eines Betenden. Es war Stephan.
Er betete für sich, er betete für seinen Vater, er betete für das Glück seiner Schwester.
Der Alte fuhr auf. Der Schmerz bäumte sich in ihm wie ein scheugewordenes Pferd, das in den Abgrund hineinwill.
»Morgen wird alles zertöppert,« sagte er dumpf vor sich hin.
Die Faust krachte auf den Tisch: »Aber nur Ruhe, nur Ruhe ...! – Wir, die Pulchers, haben schon Schlimmeres erduldet – und dulden heißt selig werden.«
Dann erhob er sich und ging zu seinen Kindern und nahm sie in die Arme und küßte sie.
Gottes Donner aber rollten über die Stadt, und Gottes Blitze waren dazwischen.