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Im ›Blauen Anker‹ war alles erleuchtet. Wagen fuhren ab und zu. Sie kamen aus der Gegend von Hönnepel, von Till und dem benachbarten Wissel. Immer neue Kirmesgäste strömten über die ausgetretenen Treppensteine und verschwanden in dem großen Tanzsaal, dessen Schmalseite sich unmittelbar an den rückwärtigen Giebel des ansehnlichen Wirtshauses lehnte.
Pferde wurden abgeschirrt und in die Ausspannung gezogen. Peitschen knatterten dazwischen. Fahrzeuge von allen Sorten, neumodische und alte, Chaischen, Rumpelkutschen und flotte Tilburys schachtelten sich neben- und hintereinander. Die Torfahrt wurde versperrt, aber immer frische Zugänge stellten sich ein. Es war des Kommens kein Ende, und der Wirt, dessen behäbige Figur den Eingang flankierte, schmunzelte vergnügt vor sich hin und ließ die fetten Daumen der gefalteten Hände gegeneinander spielen. Seit Menschengedenken war eine solche Kirmes nicht über den ›Blauen Anker‹ gekommen.
Von Zeit zu Zeit salutierte er.
Dann ging einer von den Sebastianern vorüber.
Zuerst Jakob Verheyen.
Seine Hand glitt durch die grauen Fäden des kurzverschnittenen Bartes.
Die Blicke des insichgekehrten Mannes stachen.
Er würdigte den gefälligen Wirt kaum eines Grußes, trat in den Hausflur und begab sich geraden Weges in das Gesellschaftszimmer des ersten Stockwerks.
Andere folgten.
Dores Jansen rückte in seiner Schützenmontur an: weißleinene Hosen, grüner Rock, den Zylinder schief über die linke Schläfe gezogen. Ein frischer Eichenbruch nickte vom Rande. Quer von der rechten Schulter zur Hüfte lag die Adjutantenschärpe mit den lustigen Quasten. Er war ganz Würde und Andacht und trug die Akten der Bruderschaft unter dem Arm, als wenn er ein Heiligtum trüge. Andere Mitglieder befanden sich in seiner Gesellschaft, so der Postsekretär, der Apotheker und der Bäckermeister ter Meeren, dessen Amt es war, die Schützenfahne fliegen zu lassen und sie nach der Feierlichkeit wieder an Ort und Stelle und unter das knitterige Wachstuchfutteral zu bringen. Heute erschien er ohne Fahne. Sie stand bereits neben dem ledigen Präsidentenstuhl, der des kommenden Mannes harrte.
»Nu kommt frische Luft in die Bude,« sagte Dores, nickte dem Wirt zu, und trat beherzt über die Schwelle. »Wir machen's. Ja, meine Herrens, setzt mir nackig in Indigo ...«
Die Worte kamen nicht vorwärts. Sie gingen unter in dem Rattern eines schnellen Wagens, der mit hellem Peitschenknall die Straße heraufkam, vor der Wirtschaft haltmachte und seine Insassen entleerte.
Franz Seegers sprang ab.
Er erschien in landesüblicher Tracht, den blauen Leinewandkittel übergezogen, goldene Ringe in den fleischigen Ohrläppchen und einen gedrehten Dorn in der Rechten.
Anders tat er es nicht.
Er wußte, was er sich selber und seinem Anwesen schuldete. Er war ein schlichter Grundbesitzer, weiter nichts, aber in diesem Sichselbstgenügen lag auch der hochfahrige Stolz und die ganze Rücksichtslosigkeit eines fetten niederrheinischen Bauern. In seinem Leinewandkittel dünkte er sich reicher und großartiger als alle Grafen und Barone zusammen genommen.
Er schien fröhlicher Laune.
Sein Gesicht war röter denn sonst.
Mit Daumen und Mittelfinger schnalzte er in den Wagen hinein: »Fix, fix, damit die Tanzbeine nicht einschlafen!«
Thres und Hermann stiegen aus, sie im malvenfarbigen Kleid und eine Zentifolie quer über dem Busen, er im dunklen Rock und die Rettungsmedaille auf dem klopfenden Herzen.
Schnell schob sie den Arm in den seinen und drückte sich an ihn.
»So ist's recht, Kinder,« lachte der Alte, und ein behagliches Grinsen lief von einem Ohrläppchen zum andern. »Hermann, Himmelherrgott verdammich ...! – da gehst du mit fünfundneunzigtausend preußischen Kronentalern zu's tanzen. Das macht dir keiner nach zwischen Xanten und Kleve. Aber ich sage dir, Hermann – während ich droben den Kerls von wegen des Herrn Präsidenten 'ne zehnpfündige Wachskerze aufstecke, lasse du dich hier unten nicht lumpen. Das steht mir konträr, das ist bei den Seegers niemals Mode gewesen. Kein lausiges Bier. Nur ›Langkork‹, und nach jedem Tanz wirfst du 'nen harten Taler auf die Musikantentribüne. Wie der Herr, so's Gescherr. Nobel geht die Welt zugrunde, und damit: 'rin ins Vergnügen und gute Verrichtung.«
Ein breites Lachen folgte.
Er stemmte die Arme in die derben Hüften.
»Ab nach Kassel!«
Fidel und mit lustigen Äugelchen sah er den beiden nach, klopfte dem Percheron die dampfenden Hinterbacken, gab dem Hausknecht Order, den Gaul unterzuziehen und ihm 'ne doppelte Ration Hafer zu geben, und schob dann selber seine eigene Person über die Schwelle. –
»Hermann, was hast du ...?«
Sie berührte ihn mit hungrigen Augen.
»Hermann, das geht so nicht weiter.«
Dann flüsterte sie erregt auf ihn ein und suchte, ihn abwärts zu drängen.
Willenlos ließ er alles geschehen.
Statt sofort den Tanzboden zu betreten, bogen sie links von dem Eingang ab, sie führend, er mit dem Gefühl stumpfen Ergebens.
Erst ein schmaler Flur ... eine Stiege ... dann ein kleiner Garten ...
Von hier aus konnten sie das Gewirr des lärmenden Treibens beobachten, das sich hinter den erleuchteten Fenstern abspielte. Huschende Schatten glitten vorüber. Die lustigen Klänge einer Polka Mazurka fielen über Rabatten und Kieswege, die sich im Dunklen verloren.
Sie hielt ihn plötzlich zurück. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Arm.
»Das geht schon so Wochen hindurch,« stieß sie hervor und machte eine Wendung, die ihre üppige Brust gegen ihn drängte. »Immer dasselbe. Ich weiß nicht, woran ich bin, und kann deine richtige Liebe nicht finden.«
Ihre Nasenflügel zitterten. Ihr Antlitz stand dicht neben dem seinen. Es schien um eine Abstufung bleicher geworden.
»Thres,« sagte er schmerzlich, »wenn ich so alles überlege ...«
»Wo ich hier stehe?« fragte sie hastig. »Überlegen? Wofür denn? Das ist es ja eben. Statt mich in deine Arme zu nehmen, statt dich mit mir auf die Hochzeit zu freuen ...«
Er atmete tief auf: »Ja, Thres, ich glaube, ich tu dir unrecht.« »Du – mir?«
»Ja. Es sind so meine schweren Gedanken. Es ist um deinetwegen, daß ich so rede.«
»Was heißt das? Du willst doch nicht sagen ...«
Mit einem unterdrückten Schrei warf sie sich an ihn. Ihr Herz stürmte. Das Blut ihres warmen Leibes wollte sich mit dem seinen vereinen. Ihr halbgeöffneter Mund lechzte ihm entgegen. Worauf wartete er noch? Hatte er denn keine Blicke für sie? Sah er denn nicht ihre große Sehnsucht, ihr heißes Verlangen? War er denn niemals mit einem Weib allein und unter vier Augen gewesen? Sie dachte dabei an die Schilderung der Obermagd, die bei ihrem Vater der Molkerei vorstand. Die kannte die Liebe. Der Großknecht war zwischen den schwülen Roggengassen ihr Lehrer gewesen – in einer Sommernacht, die so hell war, daß man die einzelnen Ähren noch zählen konnte. Und da war er gekommen, ganz langsam und feierlich und die Hände in den leinenen Hosen vergraben. Er beeilte sich nicht. Aber alles, was er tat, war sicher und hatte sein festes Programm. Nichts fehlte. Der Mensch wußte, was sich gehörte ... und da zirpten die Grillen nicht mehr, und das Korn rauschte nicht mehr; nur ein angeseiltes Stöhnen und Küssen war im hohen Getreide. – Das flog durch ihre Sinne, das hatte ihr die Magd alles erzählt, mit runden Augen und im Angedenken an den ruhigen Menschen ... und das war nur ein simpler Großknecht gewesen, hier aber stand Hermann Verheyen ...
»Hermann,« ächzte sie, »so versteh mich doch endlich!«
Ihr Kopf sank nach vorn.
Er glitt ihr über die Haare.
»Ich meine, Thres, daß wir nicht auf dem richtigen Wege sind. Du nicht und ich nicht. Aber das können wir später bereden. Komm jetzt. Sie werden schon aufmerksam und sehn durch die Scheiben. Wir wollten doch den ersten Walzer ...«
»Nein, du – ich will doch erst wissen ...«
Sie stemmte sich gegen seine Brust und drängte den Oberkörper zurück. Unter dem Druck ihrer harten Formen krachten die Nesteln ihres Kleides.
»Hermann, ich will doch erst wissen ... Warum bist du denn nicht auf dem richtigen Wege? Ich bin's schon. Sieh nur ...« und sie warf sich wieder an ihn, gierig, mit zuckendem Leib und der Allgewalt eines Weibes, das die Herrschaft über sich selber verloren hatte. Ihre Lippen preßten sich auf seinen Hals, sogen sich fest ...
»Und wenn du an meiner Liebe zugrunde gehst ...«
Es graute ihm vor dieser Leidenschaft.
»Aber, Thres ...!«
»Nein, nein, nein ...! – oder steht die andere noch immer zwischen uns? – die andere, die in meine Träume sieht, die ich nicht loswerden kann ...«
Er suchte aus ihrer Umarmung zu kommen: »So sei doch vernünftig.«
»Das bin ich ... aber du: weshalb sind wir nicht auf dem richtigen Wege?«
»Weil es mir an der Kehle würgt ... weil ich nicht weiß ...«
Er sah über sie fort: »Weil da eine steht, die uns den Zugang versperrt ...«
»Die ...?!« stöhnte sie auf.
»Ja – die ... die ... die ...! – Ich habe doch auch ein Herz im Leibe. Ich kann ihm doch nicht zurufen: Kusch dich! Ich kann dieses Herz doch nicht prügeln und ihm die Tür weisen. Schlimm genug, daß ich darüber nicht fortkann. Aber ich bitte dich, Thres, rühre nicht an die alte Geschichte ...«
»Aber ich habe doch schließlich ein Anrecht ...«
»Herr, du mein Christus! Du weißt ja: eine habe ich schon zugrunde gerichtet. Die liegt nun mit ihrem Marterholz am Weg und kann sich nicht aufheben.«
»Laß sie nur liegen. Mir soll's egal sein. Ich weiß schon über ihren Nacken zu schreiten.«
Er hatte einen Fluch zwischen den Zähnen.
Sie küßte ihm diesen Fluch von den Lippen.
»Hermann, was soll das? Hermann, du willst doch kein Lump an mir werden? – Und wenn sie jetzt käme – die andere – die mit ihrem vornehmen Getu ... Hermann, ich wüßte schon, was ich mit ihr anfangen würde ...«
Der Ausdruck ihres Gesichtes war häßlich geworden: »Die vom Seegersschen Hof können schon 'ne Fuhrmannspeitsche regieren ...«
Er vernahm ein Brechen und Krachen. Es war ihm, als käme sein ganzes Lebensgebäude mit allen Scherwänden und Balkensielen ins Wanken. Mit harten Schlägen fuhr ihm die Drohung gegen die Stirne.
»Das mir ...?! – Das dem armen Geschöpf ...?! – Pfui Teufel noch mal!«
»Hermann ...! Ich bitte dich, Hermann! – Du willst doch keine Szene hier machen?«
Ihre Worte erstickten.
Ein Fenster wurde aufgerissen.
Die ersten Takte eines getragenen Walzers klangen hinaus.
In dem taglichten Rahmen erschien der Festordner, beugte sich vor und klatschte in die Hände: »Nu aber 'rein. Es geht los. Sie warten schon alle.«
In vollen Tönen flutete die Walzermelodie in den laulichen Abend.
Es war just um die Stunde, wo auch Anna Pulcher die ›Rosen aus dem Süden‹ zu hören glaubte.
»Hermann, so komm doch ...«
Sie warf sich an seiner Brust herum, schob ihren Arm in den seinen und drängte ihn dem Eingang zu. Gleich darauf strahlte ihnen eine blendende Helle entgegen: Hunderte von brennenden Kerzen, die Wände entlang, zwischen Girlanden und Fahnen, an eisernen Faßreifen von der niedrigen Decke schwebend ... und in diesem Lichtergeflirr die ›Rosen aus dem Süden‹ ...
* * *
»Ich bitte die Herrens, sind alle versammelt?«
In vollem Schmuck hatte sich Dores Jansen erhoben. In Kraft seines Amtes als Adjutant der Bruderschaft stand ihm diese Frage zu, und er erledigte sich ihrer mit einem gewissen Behagen.
»Herr Pulcher steht noch aus,« sagte der Bäckermeister ter Meeren.
»Muß immer was Besonderes haben,« griemelte Franz Seegers, streckte die Beine und warf seine zweihundert Pfund in den Lehnstuhl zurück. »Meintswegen können wir anfangen. Ich für meine Person habe keinen besonderen Gusto, auf den Weberkönig zu warten.«
»Geht nicht.«
»Woso nicht?«
»Noch fünf Minuten fehlen an voll,« konstatierte der Postsekretär, »und ich möchte unter keiner Bedingung ...«
»Na, denn natürlich,« sagte Herr Jansen, »und wenn es auch anders wäre, ich meine: selbst in diesem Falle müßten wir ein übriges tun und dem Herrn Pulcher so Propter und Prätorius die Ehre erweisen.«
»Absolut keine Veranlassung,« versetzte der Niederungsbauer. »Ich bin pünktlich, Jakob Verheyen ist pünktlich, die andern sind pünktlich ... Warum kann der Leinewandmacher nicht dasselbige Prinzip befolgen?«
»Ich meine man bloß ...«
»Immer das dumme ›Gemeine‹. Aber ich vertrete meinen Standpunkt: Schlag Klock voll fangen wir an, gleichviel ob er kommt oder nicht. Ich habe nach Pitt Pulcher keinen roten Pfennig zu fragen, und damit – Basta.«
»Wollen wir nicht bei der Sache bleiben, Herr Seegers?« meinte der Postsekretär.
»Gern, gern!« hielt ihm der andere entgegen und zog seine goldene Uhr zu Rate, »aber nochmals gesagt: Schlag Klock voll wird in die Beratung getreten.«
Damit setzte er die Knöchel seiner Hand auf den Tisch und drückte seinen Willen mit dreimaligem Klopfen auf die eichene Platte.
»Das verfluchte Gehabe ...!«
Unverwandt sah der ›Hobel le Beau‹ auf die Tür. Am liebsten wäre er dem Krakeeler an die Kehle gefahren, bekriegte sich aber und wünschte den einzelnen Sekunden und Minuten eine gehörige Portion Leim an die Füße.
Alle saßen in großer Erwartung. Nur gedämpft klang die Kapelle vom Tanzboden herüber. Im Gesellschaftszimmer sprach keiner mehr. Alle horchten auf den dicken Nachtfalter, der die Petroleumlampe umsurrte, der musizierenden Flamme auswich, um von hier aus gegen die Fensterscheiben zu poltern.
Sämtliche Stühle, die die lange Tafel umgaben, waren besetzt. Nur zwei nicht. Der Pitt Pulchers nicht und der des Präsidenten nicht. Hinter diesem erhob sich das Banner der Schützengesellschaft. Es war schräg gestellt, so daß das seidengestickte Tuch in vollem Glanz niederfließen konnte. Kunstfertige Nadeln hatten die Legende des heiligen Sebastianus dem kostbaren Webwerk einverleibt: Sebastianus am Marterpfahl, Sebastianus von Pfeilen durchbohrt, Sebastianus von einer Gloriole umwoben. Darunter drei Eichenblätter mit der Inschrift: In trinitate robur.
Zur Feier des Tages wurde ›Langkork‹ getrunken. Zehn Bordeauxflaschen standen auf Reihe. Zwischen ihnen erhob sich der silberne, kunstvoll getriebene Pokal, aus dem schon Herzog Johann von Kleve getrunken. Jahrhunderte waren darüber vergangen, Kriegswirren und andere Wirren. Brandschatzungen hatte die Stadt gesehen, Feuer und Lohe. Präsidenten waren gekommen, Präsidenten waren gegangen. Unwirtliche Zeiten hatten die Sebastianer auseinandergesprengt, freundliche sie wieder vereinigt. Aber der Pokal war derselbe geblieben. Noch immer strahlte er in seinem früheren Glanze. Goldene und silberne Münzen klingelten an seinem gebuckelten Mantel. Seltene Stücke waren darunter, kurkölnische und solche, die die Spanier zugebracht hatten. Auch ein Raderalbus – ein schlichter Pfennig, nur absonderlich, weil er der Hand einer armseligen Spittelfrau entstammte, die zu Ehren der allerseligsten Jungfrau den Vogel von der Stange geschossen hatte. Der Becher funkelte und glitzerte im Licht der Petroleumlampe.
Neben ihm ruhten die Urkunden und Satzungen der Bruderschaft, teils abgegriffene Bände in Schweinsleder, teils solche, die noch den frischen Buchbinderkleister zwischen den Blättern hatten.
Der dickleibige Falter machte abermals seinen wahnwitzigen Taumelflug um den heißen Zylinder. Die Flamme zirpte, und Franz Seegers hielt unentwegt die goldene Uhr zwischen den klobigen Fingern.
Mit gespannter Neugier folgte er dem kriechenden Gang des großen Zeigers, der gemächlich auf voll rückte.
»Wenn er jetzt nicht erscheint ...«
Um die kantigen Mundecken des breitschultrigen Mannes legte sich ein vielsagendes Lächeln. Dann nickte er Jakob Verheyen zu und ließ die Uhr unter den leinenen Kittel verschwinden.
In diesem Augenblick brummte es vom nahen Rathaus herüber.
Mit dem letzten Schlage trat Pitt Pulcher ins Zimmer.
Alle erwiderten seinen Gruß, nur Seegers und Verheyen prosteten sich an und meinten so nebenher, daß bei dem jetzigen Stande des Getreides die Kornpreise anziehen würden.
Sie führten die vom Zaun gebrochene Unterhaltung mit erhobenen Stimmen, die für den Eingetretenen kränkend sein mußten.
Pitt Pulcher ließ sich nicht beirren, nahm seinen Platz ein und legte die Hände übereinander.
Er war vom Kopf bis zu den Schuhen in Schwarz und hatte um den niedrigen Vatermörder eine seidene Binde geschlungen. Das kranke Augenlid schien gelähmter denn sonst. Schwer hing es nieder. Nur ein schmaler Schein drängelte sich durch die enge Spalte. Um so voller und herrischer strahlte das gesunde Auge. Es blickte jeden einzelnen an, begrüßte die Fahne, glitt über die Satzungen der Gesellschaft und verweilte geraume Zeit bei dem Pokal und den seltenen Münzen.
Dores Jansen erhob sich.
»Ich bitte die Herrens, sind nu alle versammelt?« fragte er nochmals.
»Alle,« bestätigte der Bäckermeister ter Meeren.
»Dann, und zwar im Namen des heiligen Sebastianus,« fuhr Jansen in seiner Eigenschaft als Adjutant fort, »ersuche ich Herrn Pulcher, die Sitzung so Propter und Prätorius eröffnen zu wollen.«
»Soll geschehn,« sagte Pitt Pulcher, »sintemal kein älterer unter uns ist, und die Satzung den Senior hierzu bestimmt. Zuvor jedoch ...« und der Weberkönig streckte sich hoch, stemmte die Knöchel auf die Tischplatte und sagte: »Meine Herren! Nach alter Gewohnheit und nach guter Sitte und Einfalt hat vor jedem weisen Beschluß der Pokal die Runde zu machen, auf daß Hader und Zank fernbleibe, gegenteilige Meinung sich nicht ungebührend betrage, den Zagen und Kleinmütigen die Zunge gelöst werde und löbliche Eintracht herrsche im Namen des dreieinigen Gottes. Mundschenk, walte des Amtes!«
Da nahm der Apotheker den Becher, füllte ihn bis zum Rande mit duftigem Bordeaux und übergab ihn dem Vorsprecher.
»So trinke ich denn auf fröhliche Botschaft und braves Gelingen,« sagte der Alte und nahm den Pokal und trank und reichte ihn weiter.
Feierlich ging das Gefäß von Hand zu Hand, von Mund zu Mund, und alle erhoben sich, wenn sie es ansetzten.
Lautlose Stille herrschte beim Umtrunk.
Langsam kreiste der Becher. Als er in die Hand Pitt Pulchers zurückkehrte, machte dieser die Nagelprobe, brachte den Pokal wieder an Ort und sagte: »Hiermit ist die Sitzung eröffnet. Um was es sich handelt, wissen wir alle. Das Banner des heiligen Sebastianus steht verwaist. In Quirinus vom Oort hat es einen treuen Führer und einen unentwegten Hauptmann verloren. Einer von den Geraden, von den Aufrechten im Lande ist von ihm gegangen. Der Präsident ist tot, es lebe der Präsident! Eine neue Wahl ist vonnöten. Bevor wir aber hierzu schreiten, haben wir nach alter Satzung und Form den letzten Willen des Verstorbenen zu hören – und daher habe ich die Frage zu stellen: Wem ist dieser letzte Wille allgegenwärtig?«
Der ›Hobel le Beau‹ räusperte sich.
Karfreitagsstimmung umgab ihn. Er hatte mit einem verhaltenen Schluchzen zu kämpfen. Dann riß er sich militärisch zusammen.
»Ich melde mir gehorsamst zur Stelle,« sagte er mit fester Betonung.
»Schön,« meinte der Alte, »dann tut uns kund und zu wissen ...«
»Herr Quirinus vom Oort,« sagte Dores, »hat mir kurz vor seinem gottwohlgefälligen Ableben so Propter und Prätorius auf die Seele gebunden, erstens: Pitt Pulcher hat die neue Verhandlung zu leiten, ohne Ansehn der Person und so, wie es Pitt Pulcher in der Gewohnheit besitzt.«
»Natürlich!« höhnte Franz Seegers.
»Zum andren: Die Unkosten fallen auf mich, das heißt auf die Schatullenkasse des seligen Hauptmanns. Munter soll's im ›Blauen Anker‹ bei der Wahl hergehn, denn ich bin immerst ein fideler Kostgänger des lieben Herrgotts gewesen. Wieder meine ich Herrn Quirinus, weil ich mir in seine Worte versetze.«
»Hat nichts mit der Sache zu tun,« warf Jakob Verheyen ein. »Wir brauchen nicht auf andermanns Kosten zu leben.«
Erregt warf er sich in seinen Sessel zurück und schlug die Beine übereinander.
»Herr Verheyen,« rief Dores, »ich bitte Ihnen, mir als Adjutant und Testamentsvollstrecker nicht unterbrechen zu wollen. Zum letzten: Ich wünsche, daß mein Nachfolger ein ganzer und ehrlicher Mann ist.«
»Das ist es,« konstatierte Pitt Pulcher. »Seit Olimszeiten haben nur aufrechte und ehrliche Männer das Geschick der Sebastianer geleitet. Soweit die Urkunden reichen, und sie reichen bis weit hinein in die Regierungszeiten der glorreichen Herzöge von Jülich, Kleve und Berg, waren die Präsidenten der Schützengesellschaft kernfeste Herren, die es mit jedem Edelmann aufnehmen konnten. Selbst die Herzogin Maria von Kleve hat einmal gesagt, als ihr fünfzehnhundertundzehn Joris ten Hompel in seiner ganzen Herrlichkeit und Festigkeit aufwarten durfte: Wäre ich nicht die Gemahlin des hochmögenden Herzogs, ich würde mich glücklich schätzen, unter dem Fahnentuch der Sebastianer als Frau des Hauptmanns zu leben.«
»Bravo!«
»Ja, meine Herren, solches steht verbrieft und gesiegelt und ist bis auf unsere Tage gekommen. Das Wort der Herzogin in Ehren. Es beweist, wie es um unsre Schützengesellschaft bestellt war, und gibt uns den Ansporn, auch ferner in diesem Sinne zu handeln, zu wählen. Der Wunsch des Verstorbenen liegt mir am Herzen. Der letzte Wille des Heimgegangenen ist mir heilig geworden ...«
»Endlich zur Sache!« unterbrach ihn Franz Seegers. »Ich habe noch andere Pflichten. Heute ist Kirmes. Wenn ich Predigen hören will, dann geh ich ins Hochamt und habe dafür den ›Blauen Anker‹ nicht nötig. Hier wird nicht gepredigt, sondern gewählt, und außerdem habe ich meiner Tochter versprochen ... Also ich bitte, auf den richtigen Dreh zu kommen und gefälligst die Stimmen zu zählen.«
Mit einem leisen Pfiff, den er gemächlich durch die Zähne hindurchzog, beschloß er seine Anrempelung, die eine allgemeine Beklemmung auslöste und den Herzen gebot, rascher zu schlagen.
Nur Jakob Verheyen stellte sich auf die Seite des Sprechers. Er nickte ihm beifällig zu und stieß mit ihm an.
Die anderen sahen ängstlich auf Pitt Pulcher und merkten: das Blut stieg ihm zu Kopf, und dennoch – Pitt Pulcher blieb ruhig.
Die rechte Hand ballte sich langsam, und die rechte Hand löste sich wieder.
Er ging über den Anwurf seines Gegners fort, als hätte dieser zu einem Stoppelacker geredet.
»Franz Seegers,« sagte er denn auch ohne Erregung, »hätten Kirmes, Tanzerei und ähnliches auf der Tagesordnung gestanden, dann hättet Ihr in die richtige Kerbe gehauen. Hier aber stehen ernste Dinge zur Verhandlung. Zu Eurer Tochter auf dem Tanzboden kommt Ihr immer noch zeitig genug ... Ich aber habe den letzten Willen eines verstorbenen Mannes zu vertreten, ich habe die Pflicht, vor der Wahl an die Nieren zu klopfen, daß jeder weiß, um was es sich handelt, daß nur ein solcher den Stuhl des Präsidenten erhält, der auch würdig ist, diesen Stuhl innezuhaben. Und darum predige ich, will ich predigen, muß ich predigen ... und sage frank und frei von der Leber herunter: Nur der wird gewählt, der rein und echt und lauter ist wie die Stimme von Anne-Susanne ...«
»Herrjeses!« schrie Seegers, und mit rohem Gewieher klatschte er sich auf die Oberschenkel, »Jakob, ich bitte dir, Jakob ...! – nu kommt er wieder mit die alte, verfluchtige Glocke ...! – Herr, Sie sind wohl rein des leibhaftigen Deibels geworden ...!«
»Ich verbitte mir, Seegers ...!«
Jetzt fuhr die zurückgedämmte Wut des Alten aus dem grauen Kopf in die Faust, und die Faust streckte sich über den Tisch.
»Wage mir keiner an Anne-Susanne zu rütteln, aber auch keiner. Sonst ...« und die Faust krachte nieder.
»Was Anne-Susanne ist, das kann so'n niederrheinischer Bauer niemals begreifen. Was Anne-Susanne bedeutet von jeher bis heute, das wird so mancher niemals kapieren. Ruhe, Franz Seegers! Da muß schon einer sagen können: Ich habe noch andre Interessen als minderwertige Hypothekengeschäfte zu machen. Da muß schon einer kommen, der nicht nur für seine eigenen Taschen und die seiner Freundschaft arbeitet. Nur Menschen, die mit properen Gedanken aufwarten können, nur solche, die weder rechts noch links sehen, sondern geradeaus, kommen hier in Betrachtung. Und daher noch einmal: Nur der wird gewählt, der rein und echt und lauter ist wie die Sprache von Anne-Susanne – nur dem wird die Stimme gegeben. So, das wäre meine Ansicht. Ich habe im Sinne des verstorbenen Hauptmanns gesprochen.«
»'ne schöne Ansicht und 'ne nette Vertretung!« grinste Franz Seegers.
»Aber ich bitte Siel« rief der Postsekretär begütigend dazwischen. »Herr Seegers, können wir denn nicht alles in Frieden bereden?«
»Natürlich können wir das ...«
»Dann habe ich einen Vorschlag zu machen. Warum noch lange suchen? Ich bitte um Einheit der Stimmen. Das wäre ein schöner, segensreicher Abschluß der heutigen Sitzung. Einheit des Wunsches, Einheit des Gedankens! Dieser Grundsatz schiebt allen Hader und alle Mißhelligkeiten beiseite. Ich glaube nach bestem Wissen zu handeln, wenn ich nochmals die Frage stelle: Aus welchem Grunde noch lange suchen? – um gleich darauf die Antwort zu geben. Den Mann, den wir nötig haben ... meine Herren, hier steht er.«
Er zeigte auf Pitt Pulcher.
Dieser schüttelte ernst mit dem Kopf und machte eine wehe und abwehrende Handbewegung.
»Ja, meine Herren – da steht er!«
Die meisten erhoben sich.
»Bravo!« rief Dores Jansen. »Das nenn' ich mal richtig gesprochen.«
»Hurra und Vivat!« ließ sich der Apotheker vernehmen.
Der Bäckermeister ter Meeren machte schon Anstalten, das Banner zu ergreifen, um es nach alter Satzung dreimal über die Tafel zu schwenken.
»Setzt mir nackig in Indigo,« schrie Dores dazwischen, »aberst ich kann mir nicht helfen: wir haben den rechten gefunden – den richtigen Mann an die richtige Stelle. Hurra! – Herr Pitt Pulcher soll leben ...!«
»Nee!« sagte Franz Seegers und hob sich in seinem blauen Kittel schwer in die Höhe. »Wird abgestimmt oder wird nicht abgestimmt? Ich und meine Niederungsbauern sind ganz konträriger Ansicht. Weshalb denn Pitt Pulcher? Weil sein Großvater von Anno Tobakszeiten her die große Glocke gestiftet? Weil derselbige Großvater Skandal in dem alten Köln gemacht hat und die vornehmen Edelmänners abstechen ließ, als wären sie veritable Ferkels gewesen? Und darum Pitt Pulcher? Nee, meine Herren, auf dieser Pfeife wird niemals gepfiffen ...«
»Hurra! – Pitt Pulcher soll leben ...!«
Dores Jansen war auf den Stuhl gesprungen und schwenkte sein Weinglas.
»Gottverdomie noch mall – das ist ja 'ne verfluchtige und abgekartete Mache! Da gibt es noch andere Kerle und Könners zwischen Kleve und Xanten. Zum Beispiel ... Jakob Verheyen, stelle dich hierhin. Ich für meine Person bringe Jakob Verheyen in Vorschlag ... und damit ist die Sache geregelt.«
»Ruhel« gebot der Alte. »Um allen Weiterungen aus dem Wege zu gehen: es wird abgestimmt.«
Und Ruhe trat ein. Wäre ein Geist durch die Stube gewandelt, seinen Schritt hätte jeder vernommen, so still war es mittlerweile geworden ...
Auf dem Tanzboden aber wurde ein neuer, frischer und fröhlicher Walzer gestrichen.